Unterwegs im verstrahlten Land

Sie war noch Schülerin, als halb Deutschland 1986 von der Angst ergriffen wurde, von der radiokativen Wolke aus der Ukraine verstrahlt zu werden. 25 Jahre später sucht Merle Hilbk nach den Spuren der Katastrophe - rund um den Reaktor in Tschernobyl und in der politischen Szenerie Deutschlands.
Ein Waldkindergarten. Zeichenhefte liegen umher, Dreiräder, Stofftiere. Jemand hebt eine alte Puppe hoch, pustet über den Staub. Plötzlich schlagen die Geigerzähler Alarm, der Dolmetscher flüchtet hustend ins Freie. "Strontium!" schreit er.

Tourismus in der Sperrzone Tschernobyls, eine von vielen Stationen, auf die Merle Hilbk ihre Leser in dem neuen Buch "Tschernobyl Baby" mitnimmt. Als ein "Tschernobyl Baby" begreift sie sich selbst: geboren 1969 und politisch erwacht, als halb Deutschland 1986 von der Angst ergriffen wurde, mit Erdbeeren und Salat einen Teil der Radioaktivität zu verschlucken, die mit der Macht von 100 Hiroshimabomben über Europa niederrieselte. 25 Jahre später sucht die Autorin nach den Spuren der Katastrophe - rund um den Reaktor und in der politischen Szenerie Deutschlands. Gekonnt verwebt sie menschliche Schicksale, wissenschaftliche Fakten, politische Reflexionen und persönliche Reiseerlebnisse zu einem temporeichen Buch.

Tschernobyl war nicht nur eine technische, sondern vor allem auch eine soziale Katastrophe, unterstreicht die Autorin. In Kiew besucht sie das Plattenbauviertel Trojeschina. Hierher wurden Bewohner der geräumten Kraftwerksstadt Pripjat umgesiedelt. Was hatte der Staat ihnen nicht alles versprochen: medizinische Versorgung, Nahrungsmittelbeihilfen, Rentenzahlungen. Nichts davon kam. Mühsam versuchen die Menschen, sich mit nachbarschaftlicher Selbsthilfe und endlosen Eingaben bei den Behörden ein Überleben zusammenzukratzen.

Auch einige "Helden von Tschernobyl" hat Merle Hilbk besucht. Es sind gesundheitliche Wracks, die zwangsverpflichtet zehn, fünfzehn Jahre lang in der Sperrzone Aufräumarbeiten leisteten. Selbst Kranke mussten immer wieder zur Schicht antreten. Die Frauen wurden derweil gezwungen, Schwangerschaften auszutragen. So kamen die weißrussischen und ukrainischen "Tschernobyl Babys" zur Welt.

Merle Hilbk gibt ihnen ein Gesicht, indem sie die Erzählperspektive mehrfach zu der jungen Weißrussin Mascha wechselt, Studentin an der Universität Gomel und Reisebegleiterin der Autorin. Flapsig-jugendlich erzählt Mascha von ihrer Heimat, die zu einem Drittel so verstrahlt wurde, dass man dort heute eigentlich weder Feldfrüchte ernten noch Tiere auf die Weide schicken dürfte. Als Kind kam Mascha zur Kur in eine deutsche Gastfamilie. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn sie erzählt, wie gründlich die Deutschen jedes Salatblatt putzten, während sie daheim im verstrahlten Belarus längst wieder über Felder und Wiesen sprang.

In den Mascha-Passagen zeigt sich aber auch, dass die Autorin ihr Buch überfrachtet. Künstlich wirkt der flapsige Stil, und auf manche Episode mit ihrem persönlichen Colorit hätte man gern verzichtet, etwa wenn Mascha und Merle sich am Ende des Buches verzanken. Geradezu ärgerlich ist, dass Merle Hilbk ihre Betrachtungen über deutsche Atomproteste in einer unschönen, ironischen Überheblichkeit versenkt. Schade - in einem ansonsten starken Buch.

Besprochen von Susanne Billig

Merle Hilbk: Tschernobyl Baby - Wie wir lernten, das Atom zu lieben
Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2011
280 Seiten, 17,95 Euro
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