Unterwegs entführt

Von Nils Naumann |
In Mexiko werden jedes Jahr Tausende von Flüchtlingen aus Zentralamerika verschleppt, gefoltert und ermordet. Die Behörden schauen weg, wenn sie nicht sogar selber mit den Banden unter einer Decke stecken. Wer keine Verwandten oder Freunde hat, die Lösegeld an die Banden zahlen, wird umgebracht.
Hektisches Treiben am Succiate - dem Grenzfluss zwischen Guatemala und Mexiko. Dutzende Flöße aus LKW-Schläuchen und Brettern pendeln zwischen den beiden Staaten. An Bord Schmuggelware aller Art: Bier, Limonade, Drogen, Flüchtlinge. All das in Sichtweite des offiziellen Grenzübergangs. Dort kontrollieren die mexikanischen Beamten penibel, hier unten am Fluss lässt sich kaum ein Uniformierter blicken:

Nur ein paar Minuten dauert die Überfahrt vom guatemaltekischen Grenzort Tecun Uman ins mexikanische Ciudad Hidalgo. Tecun Uman ist einer der zentralen Anlaufpunkte für mittelamerikanische Flüchtlinge auf dem Weg in Richtung Norden. Besonders nachts werden hier immer wieder Flüchtlinge überfallen und ermordet. Die meisten Migranten wissen von den Gefahren, die sie auf ihrer Reise durch Mexiko erwarten. Trotzdem machen sie sich auf den Weg, wie auch der junge Carlos aus Honduras:

"Meine Freunde haben mir alle abgeraten. Aber mir macht das keine Angst. Mit Gottes Hilfe werde ich es schaffen.”"

Carlos ist 16. Babyspeck im Gesicht, kurze schwarze Haare, wache dunkle Augen. Carlos arbeitet seit er acht ist. 12 Stunden am Tag. Für eine Handvoll Euro.

""Ich weiß nicht, was für ein Leben mich in den USA erwartet. Aber ich will eine bessere Zukunft für mich und für meine Familie."

Bis zum Succiate hat es Carlos geschafft. Doch der schwerste und gefährlichste Teil des Weges liegt noch vor ihm. Mehr als 2000 Kilometer quer durch Mexiko. Doch erst mal erholt sich Carlos im Haus des Migranten im guatemaltekischen Grenzort Tecun Uman. Drei Tage gewähren die katholischen Betreiber Flüchtlingen wie Carlos und Juan Obdach, Nahrung, medizinische und psychologische Unterstützung.

Ademar Barilli leitet das Migrantenhaus in Tecun Uman. Die Priester seines Ordens betreiben eine über ganz Mexiko verteilte Kette solcher Einrichtungen. Er und seine Mitstreiter sind sich sicher - weder die Gefahren auf dem Weg durch Mexiko noch die Grenzzäune der USA schrecken die Elendsflüchtlinge aus Mittelamerika ab:

"Wenn sie die Mauern erhöhen, werden die Migranten Flügel bekommen. Die Abschottung fördert nur die Geschäfte der Menschenhändler. Wir brauchen mehr Möglichkeiten für legale Migration und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in den Heimatländern. Das würde die Probleme lösen."

"Wir waren mit dem Güterzug unterwegs in Richtung Norden. Es war gegen elf Uhr Nachts. Der Zug hielt, um weitere Waggons anzukoppeln. Plötzlich umzingelten uns sechs Männer mit Pistolen und Buschmessern. Drückten mir einen Revolver an die Stirn.”"

Juan stammt aus Guatemala. Ein schmächtiger Mann mit schwarzer Haartolle und matten braunen Augen. Jeden Tag reisen hunderte Elendsflüchtlinge wie Juan auf den Dächern der mexikanischen Güterzüge in Richtung USA. Männer, Frauen, Kinder. In ständiger Sorge vor Überfällen, Vergewaltigungen und Entführungen.

""Ein Honduraner hat gebrüllt. Daraufhin haben die Männer ihn mit Buschmessern geschlagen und gefoltert. Ihm eine Machete in den Bauch gerammt. Dann haben sie ihn mit einem Kopfschuss getötet.”"

""Sie haben uns sehr schlecht behandelt. Du musst ihnen die Telefonummer deiner Familie geben und dann rufen sie dort an. Foltern dich, während deine Familie zuhört. So setzen sie die Angehörigen unter Druck, machen ihnen klar, das sie das Geld wollen, und zwar sofort."

Wer keine Familie hat, die zahlen kann, wird ermordet. Oft werden die Opfer bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt und in Massengräbern verscharrt. Von Juans Angehörigen verlangten die Entführer 1000 Dollar Lösegeld. 24 Stunden Zeit blieben der Familie, um die Summe aufzutreiben. Juans Verwandte verkauften ein Stück Land. Der 38-jährige Guatemalteke und seine Leidensgenossen hatten Glück. Alle konnten das Lösegeld zahlen und kamen wieder frei.

Bis zu 20.000 Flüchtlinge, schätzt Mexikos Menschenrechtskommission, werden jedes Jahr im Land verschleppt. Die Täter sind Mitglieder von Drogenkartellen, die die Flüchtlinge zur Mitarbeit zwingen wollen, Menschenhändler, die ihre Opfer als Arbeitssklaven oder Prostituierte weiterverkaufen oder Geiselnehmer, die Lösegeld erpressen.

Männer müssen den Wegezoll an die Mafia in der Regel mit ihrem Besitz, Frauen mit ihrem Körper bezahlen. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass sechs von zehn weiblichen Flüchtlingen auf ihrem Weg durch Mexiko sexuell missbraucht werden. Diese junge Frau aus Mittelamerika berichtete auf einer öffentlichen Anhörung von einem tagelangen Martyrium:

"Zuerst haben mich mehrere Männer im Zug vergewaltigt. Dann haben sie mich an eine Gruppe junger Männer übergeben. Ich weiß nicht, was für Leute das waren, aber auch die haben mich missbraucht. Schließlich brachten sie mich an einen anderen Ort. Auch dort bin ich wieder vergewaltigt worden, nicht von einem, sondern von vielen, von acht Männern.”"

Selbst vor der Vergewaltigung von Kindern schrecken die Banden nicht zurück. Die wenigsten Opfer von Vergewaltigungen und Entführungen trauen sich, über ihre Erlebnisse zu berichten oder ihre Peiniger anzuzeigen. Hilfe von der mexikanischen Polizei erwarten die Flüchtlinge nicht. Zu groß ist die Angst vor korrupten Beamten, die mit den Tätern zusammenarbeiten oder vor einer möglichen Abschiebung. Auch das Entführungsopfer Juan aus Guatemala hält wenig von den mexikanischen Behörden:

""Du kannst denen nicht trauen, die meisten sind korrupt, das ist eine Riesenschweinerei. Die wissen was hier passiert, schauen aber weg, aus Angst oder weil sie selber an den Entführungen verdienen.”"

Padre Flor Rigoni kennt die Geschichten von Entführungen und Vergewaltigungen. Der katholische Priester sitzt auf der Terrasse des Flüchtlingshauses von Tapachula. Er trägt ein schlichtes weißes Mönchsgewand, um den Hals eine Kette mit einem großen Holzkreuz. Auf einem Tisch im Hintergrund wacht eine Marienstatue. Rigoni setzt sich seit Jahren für Flüchtlinge ein, bietet Unterkunft und Beratung. Auch er weiß: Die Behörden sind Teil des Problems:

""Die Uniformen und die Waffen geben ihnen die Macht zu entführen. Wir haben viele Zeugenaussagen, die belegen, dass Polizei und Migrationsbehörden die Flüchtlinge an die Mafia übergeben.”"

Eine Protestkundgebung von Flüchtlingen und ihren Angehörigen in Mexiko-Stadt. Stoppt die Entführungen, skandieren die Demonstranten. Um den Hals Plakate mit Bildern ihrer verschwunden oder ermordeten Angehörigen, Erinnerungen aus glücklichen Tagen, mit jungen Männern und Frauen, die vor Wasserfällen, am Arbeitsplatz oder auf ausladenden Sitzmöbeln für die Kamera posieren.

Maritsa Serranobla ist aus San Pedro Sula, einer Industriestadt in Honduras, nach Mexiko gekommen. Die schwarzen Haare hat die Endvierzigerin streng nach hinten gebunden, ihre dunklen Augen sind matt und blutunterlaufen. Seit Jahren wartet sie Maritsa auf Nachrichten von ihrer Tochter.

""Meine Tochter hat San Pedro Sula im Juli 2005 verlassen. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Das letzte Mal telefoniert habe ich mit ihr im Juli 2006. Damals war sie in Tapachula in Mexiko. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.”"
Auch Maritsa hat ein großes Foto dabei. Ihre Tochter war 23 als sie verschwand. Eine auffällig attraktive junge Frau mit schulterlangen glatten schwarzen Haaren und feinen Gesichtszügen. Offen lächelt sie in die Kamera. Maritsas Tochter sieht auf dem Bild glücklich auf. Und doch hat sich die junge Honduranerin auf den Weg in die USA gemacht, um dort einen Job zu finden.
""Das einzige was ich bei unserem letzten Telefonat gehört habe war, Mama ich kann nicht mit dir sprechen, ruf mich nicht mehr an, und diese Wörter sind in meinem Kopf. Das tut mir sehr weh, weil ich nicht weiß, was passiert sein könnte."
Maritsa hat sich mit mehr als 30 anderen Müttern von verschwundenen Migranten aus Mittelamerika zusammengetan. Gemeinsam haben sie die Hauptroute der Flüchtlinge bereist, haben Bahnhöfe, Leichenschauhäuser und Friedhöfe besucht - immer auf der Suche nach ihren Kindern. Die Gruppe gibt ihnen Kraft und Unterstützung:

Die Frauen fordern einen besseren Schutz der Migranten und einen entschlosseneren Kampf des mexikanischen Staates gegen die Entführungsmafia. Besonders wichtig aber ist ihnen die Einrichtung eines zentralen Registers für die Opfer. Denn die mexikanischen Friedhöfe sind voll von namenlos bestatteten Flüchtlingen. Menschenrechtler gehen von rund 10.000 Verschwundenen aus. DNA-Proben und ein zentrales Register könnten helfen, die quälende Ungewissheit der Angehörigen zu beenden.

Die mexikanische Regierung hat die Probleme der mittelamerikanischen Flüchtlinge und ihrer Angehörigen lange ignoriert. Das änderte sich erst, als Drogenhändler 2010 im nördlichen Bundesstaat Tamaulipas bei einem Massaker mehr als 70 Migranten aus Zentralamerika ermordeten. Seitdem verspricht Mexikos Präsident Felipe Calderon "Aufklärung und besseren Schutz für die Migranten":

""Migranten sind Menschen, die die Unterstützung der Institutionen und die Solidariät der Gesellschaft verdient haben. Deswegen werden wir nicht innehalten, bevor nicht alle unsere Institutionen vertrauenswürdig und professionell arbeiten und den Migranten die menschenwürdige Behandlung geben, die ihnen zusteht.”"

Tatsächlich hat die Regierung Calderon inzwischen einige Reformen auf den Weg gebracht. Ein im vergangenen Jahr verabschiedetes Migrationsgesetz soll die Flüchtlinge schützen. Illegale Einwanderung wird zum Beispiel nicht mehr als Straftat geahndet. Bisher drohte Flüchtlingen, die wiederholt illegal einreisen, eine Gefängnisstrafe. Auch der Kampf gegen die Korruption in der Migrationsbehörde wurde verschärft. Hunderte korrupte Beamte, die mit der Entführungsmafia zusammengearbeitet hatten, wurden entlassen, dutzende vor Gericht gestellt. Doch der Priester Flor Rigoni, der seit Jahren für die Rechte der Flüchtlinge kämpft, bleibt skeptisch. Denn Gesetze zählen in Mexiko noch immer wenig:

""Der Staat hat in vielen Teilen des Landes die Kontrolle verloren. Das ist ein Fakt. Dort herrscht im Grunde Bürgerkrieg.”"

Die Fronten sind unübersichtlich: Seit dem Amtsantritt Calderons sind im Krieg zwischen Militär, Polizei und Drogenmafia fast 50.000 Menschen getötet worden. Das Schicksal der Flüchtlinge spielt in der mexikanischen Öffentlichkeit angesichts solcher Zahlen auch weiterhin nur eine Nebenrolle.

Bis dahin werden weiter jedes Jahr zehntausende illegale Migranten den Gefahren der langen Reise nach Norden trotzen. Doch angesichts von Überfällen, Entführungen und Vergewaltigungen platzt der Traum von einem besseren Leben in den USA oft schon in Mexiko. Auch der Guatemalteke Juan und seine Leidensgenossen hatten nach ihrer Entführung genug:

""Nach allem, was passiert ist, haben wir uns entschieden, keinen Schritt weiter in Richtung Norden zu gehen. Alle waren verängstigt und verwirrt. Wir wollten nur noch nach Hause zurück.”"
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