Das Klassenradio
Interaktiver Englisch-Unterricht in Pakistans Provinz: Der progressive Radiosender Power99 sendet an jedem Schultag das interaktive Radioprogramm "Broadclass". Hiermit lernen Grundschüler spielerisch Englisch.
Die dreispurige, geteerte State Route mit ihrem halbwegs geregelten Verkehr haben wir längst hinter uns gelassen. Inzwischen sind die Straßen holpriger geworden, der Verkehr chaotischer. Auf der engen Straße überholen sich bunt bemalte LKW und vollbesetzte Busse in waghalsigen Manövern.
Auf Ladeflächen und Dächern sitzen Menschen. Zwischen ihnen Koffer und Säcke voll Reis. Und überall Rikschas bepackt mit Männern, Frauen, Kindern, Ziegen.
Fakhira Najib: "So sehen hier auf dem Land die Fernstraßen überall aus."
Fakhira Najib, die ehemalige Lehrerin, sitzt auf der Rückbank des weißen Toyota Corolla. Sie trägt die traditionelle bunte Khurta, dazu eine weite Stoffhose im gleichen farbenfrohen Muster. Ein Kopftuch trägt sie nicht.
Bevor wir losgefahren sind, ist Imke von Fakhira ausgestattet worden: Auch sie trägt jetzt eine bunte Khurta und hat ein passendes Kopftuch dabei, so soll sie ihre rotblonden Haare verbergen, wenn wir angekommen sind. Ich habe es da einfacher:
"Du siehst doch aus wie ein Pakistani. Total wie einer von uns. Du wirst keine Probleme haben. Ab hier geht's Richtung KP."
KP ist die Abkürzung für die pakistanische Provinz Khyber Pakhtunkhwa, liegt im Nordosten Pakistans und grenzt an Afghanistan. Khyber Pakhtunkhwa ist so groß wie Bayern, hat aber ungefähr doppelt so viele Einwohner.
Unsere kleine Auto-Kolonne schlängelt sich nun schon seit zwei Stunden durch den zähen, bunten Verkehr Richtung Westen, weg von der Hauptstadt Islamabad. Fakhira und ihr Mann Najib wollen mit uns in die Provinz, zu einer Dorfschule, uns zeigen, wie Schulunterricht in Pakistan oft aussieht – damit wir verstehen, warum sie daran unbedingt etwas ändern wollen.
Najib Ahmed: "Super, hier ist die Straße nach Haripur..."
Najib biegt nach links ab, Richtung Haripur. Er hat ein rundes Gesicht und ein offenes Lachen. Anders als seine Frau ist er westlich gekleidet. Lässige Jeans und Karohemd. Ständig hat er das Smartphone in der Hand, postet, liked, twittert:
"The British wrote about this area... as the fruit basket."
Auch wenn Najib ein guter Tourguide ist – uns fallen vor allem die Reklametafeln für Privatschulen auf, die überall am Straßenrand stehen. Bildung ist in Pakistan zu einem Business geworden: Handelsgut Hoffnung. Hoffnung auf den sozialen Aufstieg. Leisten können sich die Schulgebühren von ungefähr zehn Euro im Monat die Wenigsten. Eigentlich. Viele der Dörfler hoffen auf eine bessere Zukunft für ihre Kinder und sparen sich deshalb die letzten Rupien vom Mund ab. Wenigstens drei von zehn Kindern sollen auf eine Privatschule. Gutes Englisch ist eine der wichtigsten Qualifikationen in Pakistan. Najib und Fakhira versuchen, dem unfairen Business mit der Bildung entgegenzusteuern. Sie unterstützen zuallererst staatliche Schulen mit ihrem Projekt. Jeder soll Zugang zu guter Bildung haben. Das sei besonders in dieser Gegend von großer Bedeutung.
Fakhira: "Hier in Haripur werdet ihr viele Frauen in Burkas sehen. Das liegt daran, dass hier viele afghanische Einwanderer leben."
Frauen sehen wir überhaupt immer weniger auf der Straße. Und wenn, dann sind sie verschleiert, egal welcher Volksgruppe sie angehören. Die Männer hier tragen lange Vollbärte und das traditionelle Shalwa Khamiz, ein längeres, ab der Hüfte abwärts geschlitztes Hemd. Und nicht selten ein Topi, die gehäkelte Gebetsmütze.
Najib ist weit und breit der einzige Mann in Blue-Jeans.
Fakhira: "Wo ist der nächste Check-Post?"
Alle paar Kilometer passieren wir einen Checkpoint. Hüfthohe massive Betonquader regulieren die Durchfahrt. Rechts ein Wachhäuschen, links ein Wachhäuschen. Soldaten stehen in ihren schwarzen Uniformen neben der Fahrbahn, die automatischen Waffen lässig über die Schulter gehängt. Najib wirkt entspannt. Er besitzt die Haltung der oberen Mittelschicht mit dem angeborenen Recht, sich überall frei zu bewegen wie und wohin er möchte. Fakhira hingegen wirkt etwas nervös. Unseretwegen:
"Langsam, langsam. Hier kommt der Check-Post."
Doch die Soldaten beachten uns nicht. Fakhira ist erleichtert:
"Vielen Dank, liebe Mobilfunkanbieter, dass ihr den Soldaten Handys gegeben habt... Habt ihr gesehen, die spielen an ihren Telefonen rum und tun gar nicht das, wofür sie hier sind..."
Fakhira und Najib fahren oft in die Provinz, um neue Partnerschulen für das Broadclass Projekt zu gewinnen. Broadclass haben sie selbst entwickelt. Es ist eine interaktive Radiosendung, speziell konzipiert für den Englisch-Unterricht an Schulen.
Najib: "See the rangers with the guns in front of the schools. The police, the guards, it was not there before..."
Die Bedrohung von außen ist nur eines der Probleme, mit denen Schulen in Pakistan umgehen müssen. Akuter Geldmangel ist ein anderes. Seit Jahrzehnten wird an der Bildung gespart. Nur ungefähr zwei Prozent des Haushalts wird für Bildung eingesetzt, dagegen ist der Wehretat mit 20 Prozent vergleichsweise hoch.
Der Wachmann öffnet das große Eisentor und lässt uns auf den leeren Pausenhof – der Unterricht ist in vollem Gange.
In der Mitte steht ein hoher Fahnenmast, an seinem Ende flattert die pakistanische Nationalflagge im Wind. Weißer Halbmond mit Stern auf grünem Grund. Die flachen beigen Schulgebäude stehen im Karree um den staubigen Schulhof. Aus den offenen Türen der Klassenzimmer dringen Kinderstimmen. Die dritte Klasse hat gerade Englisch-Unterricht.
Ein kleiner Junge steht an der Tafel. Er trägt ein hellbraunes Shalwa Kamiz – so wie die meisten Jungs in seiner Klasse – und staubige Gummisandalen. Er hält einen Weidenstock in der Hand und wiegt sich rhythmisch hin und her. Auf die Tafel hat jemand mit Kreide das englische Alphabet geschrieben. Großes A, kleines a, großes B, kleines b. Mit der Spitze des Weidenstocks tippt der Junge nach und nach auf die Buchstaben und rezitiert gebetsartig Letter für Letter. Die ganze Klasse wiederholt.
Der Lehrer steht zwischen den Reihen aus Schulbänken. Die Hände hat er hinter dem Rücken verschränkt. Auch er trägt Shalwa Kamiz. Dazu ein weißes Gebetskäppi und einen langen Bart. Eine Weile schaut er dem Kleinen missmutig zu. Dann schreitet er zielstrebig nach vorne an die Tafel. Jetzt steht er dicht hinter dem verunsicherten Schüler und berichtigt ihn immer wieder harsch.
Fakhira beobachtet die Szene. Auch wenn die ehemalige Lehrerin die schwierigen Arbeitsbedingungen für Lehrer kennt – abfinden kann und will sie sich mit den Zuständen nicht.
Fakhira will die Schüler für das Lernen begeistern. Für sie ist gute Bildung und Spaß am Lernen der wichtigste Schritt zu einer fortschrittlichen und friedlichen Gesellschaft. Und die Entwicklung des Englisch-Lernprogramms "Broadclass" ist ihr Beitrag zur Verbesserung des Unterrichts – immerhin war sie Englisch-Lehrerin. Das war, bevor sie von ihrem Mann in den Radiosender geholt wurde und bevor sie die Idee hatte, Radios zur Verbesserung des Unterrichts einzusetzen. Damit möchte sie das pakistanische Schulsystem revolutionieren.
Eine der ersten Partnerschulen von Broadclass war die Dorfschule in Talhaar. Talhaar liegt nur wenige Kilometer von der Hauptstadt entfernt, doch auch hier liegen Welten zwischen der Hauptstadt und dem Dorf. Häuser stehen eng aneinandergedrängt, mitten durch das Dorf fließt ein kleiner Fluss. Der gepflegte Pausenhof der Dorfschule steht voller Blumenkübel. Die Wände sind mit arabischen Schriftzeichen bemalt. Und mit englischen Sprüchen. "Knowledge is the key to the world." Wissen ist der Schlüssel zur Welt.
Der Englisch-Unterricht fängt an. Und er kommt aus dem Radio.
Auf dem Lehrerpult steht ein hölzerner Radio-Apparat. Altmodisch, mit großen Drehknöpfen, um die Lautstärke zu regeln. Alle 41 Kinder sind pünktlich zum Unterricht erschienen – Lehrerin Farhat Gabee ist hochzufrieden. Die Schülerinnen stehen hinter ihren Schulbänken und singen mit vollem Einsatz. Die fünf- bis sechsjährigen Mädchen tragen blitzsaubere hellblaue Schuluniformen, manche von ihnen ein weißes Kopftuch. An den gelb getünchten Wänden des Klassenzimmers hängen bunte Bilder, darunter stehen die passenden englischen Begriffe. Boat zum Beispiel oder aeroplane.
Das Radio-Programm wird jeden Tag um 9 Uhr gesendet. Spielerisch lernen die Grundschüler englische Vokabeln und Grammatik. Heute geht es um Face Parts, also um das, was wir so im Gesicht haben. Lehrerin Farhat Gabee zeigt zur Erklärung auf ihr Gesicht. Die Schülerinnen machen es ihr nach. Aber nicht alle kommen mit, zwei Mädchen in der hinteren Reihe schauen ganz verständnislos. Auf der Landessprache Urdu erklärt Farhat den beiden noch einmal, worum es geht. Nose. Nase.
Der Unterricht aus dem Radio ist teilweise auf Urdu – damit auch wirklich jeder mitkommt.
Amina Bibi, die Stimme aus dem Radio, gibt der echten Lehrerin die Struktur für die Unterrichtsstunde vor. Amina Bibi ist die Lehrerin in dem Radio-Programm.
Die Klasse wird aktiv eingebunden. Neben Liedern und Pantomime gibt es Spiele, Gedichte und es werden jede Menge Requisiten zur Veranschaulichung eingesetzt. All das hilft den Kindern, sich die neuen englischen Wörter einzuprägen.
Lehrerin Farhat Gabee arbeitet seit zwei Jahren mit dem Broadclass-Lernprogramm:
"Ich war mir am Anfang nicht sicher, ob die Kinder so überhaupt etwas lernen würden. Aber schon in meiner ersten Stunde mit dem Radio hab ich gesehen, wie viel Spaß der Radiounterricht den Kindern macht. Sie kommen jetzt auch viel öfter zur Schule. Darüber freue ich mich am meisten. Und eigentlich wird es von Stunde zu Stunde immer besser."
Der Englisch-Unterricht ist vorbei. Die große Pause hat begonnen. Auf dem hübsch bepflanzten Innenhof spielen die Mädchen ausgelassen. Fatima besucht die erste Klasse und ist ganz begeistert von Broadclass: Amina Bibi, die Radio-Lehrerin, bringe ihr tolle Sachen bei und sei wie eine gute Freundin. Im Radio-Englisch-Unterricht dürfe sie endlich mal laut sein und Spiele spielen. Am besten gefalle ihr, dass so viel gesungen wird, erzählt uns die Sechsjährige, und gibt gleich ein Lied zum Besten.
Hinter dem beige getünchten Schulhaus blicken wir auf grüne Hügel. Ein Bächlein fließt vor dem Schulhof vorbei. Talhaar wirkt verschlafen, fast idyllisch.
Nur der obligatorische schnurrbärtige Wachmann am Eingang der Schule erinnert uns noch an die Probleme, über die in den westlichen Medien so regelmäßig berichtet wird. Aber hier scheint es nicht gefährlich zu sein. Der Wachmann hebt nur schläfrig seinen Metalldetektor, wenn jemand den Schulhof betreten möchte.
Mit fast 700.000 Einwohnern ist Islamabad bei weitem nicht die größte, aber doch eine der wichtigsten Städte des Landes. Eine Planstadt, nicht schön und gewachsen, dafür funktional mit seinen mehrspurigen Straßen und den durchnummerierten Blocks. Hier befindet sich nicht nur das Zentrum der politischen Macht Pakistans, sondern auch der Radiosender Power99.
Männer und Frauen sitzen vor Flachbildschirmen in offenen Büros. Die meisten tragen Kopfhörer, arbeiten konzentriert. Um den Tisch in der Mitte sitzen einige Redakteure und diskutieren aufgeregt. Männer und Frauen, Christen und Muslime arbeiten hier zusammen. Ohne Probleme.
Najib und Fakhira haben den Sender zusammen gegründet. Najib ist Radiomacher mit Leib und Seele. Der eigene Radiosender ist die Verwirklichung seines Traums. Seine Frau Fakhira hat damals mitgezogen und im Sender gearbeitet. Auch wenn sie viel lieber Lehrerin geblieben wäre, im Nachhinein ist sie glücklich darüber. Immerhin kam sie so auf die Idee, das Radio als Instrument für den Unterricht zu nutzen. Bereits 90.000 Kinder werden inzwischen mit Broadclass unterrichtet. An über 1.000 staatlichen Schulen in und um die Hauptstadt Islamabad. Das Programm ist so erfolgreich, dass mittlerweile an einer Version für die dritte Klassenstufe gearbeitet wird.
Jamshaid Eqbal ist der Hauptverantwortliche für den Inhalt der einzelnen Lerneinheiten. Der 45-Jährige ist etwas rundlich um den Bauch, trägt eine randlose Brille und Jeans:
"Englisch markiert die Grenze zwischen den Reichen und den Armen hier in Pakistan. Genau deswegen haben wir Broadclass entwickelt. Jeder Pakistani sollt die Möglichkeit haben, Englisch zu lernen, seinen Horizont zu erweitern und somit sein Leben zu verbessern."
In Pakistan werden an die 50 verschiedenen Sprachen und Dialekte gesprochen. Urdu ist die Nationalsprache, Englisch die Amtssprache. Wer Englisch spricht, kann studieren und hat Zugang zu den besser bezahlten Jobs.
Doch für Jamshaid leistet das Broadclass-Programm noch viel mehr als nur Englisch zu lehren. Bildung ist der Schlüssel zu einer toleranteren Gesellschaft:
"Weil wir ja selbst die Inhalte geschrieben haben, hatten wir die Möglichkeit, nicht nur Englisch zu vermitteln, sondern quasi durch die Hintertüre soft skills zu vermitteln, die in unserer Gesellschaft offensichtlich fehlen. Deswegen ist unser Land ja bekannt für gewaltbereiten Extremismus."
Jamshaid ist sich darüber bewusst, dass sie Pakistan nicht von heute auf morgen ändern werden. Aber kleine Schritte in die richtige Richtung sind möglich:
"In den Schulbüchern werden ganz klare Geschlechterrollen vorgegeben. Die Mädchen helfen ihren Müttern in der Küche, während die Jungs draußen im Park spielen. So wird es dort gezeigt. Das sind genau die Stereotypen, mit denen wir brechen möchten. Bei Broadclass drehen wir so eine Situation einfach mal um. Der Junge hilft der Mutter in der Küche und das Mädchen spielt im Park."
Wir sind gespannt, wie so eine Denkweise in der pakistanischen Provinz ankommt. Fakhira und Najib haben uns zum Frühstück eingeladen. Nach dem Erfolg in und um Islamabad möchte Fakhira das Programm ausweiten. Weit hinein in die Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Nach Abbottabad. Abbottabad, die Stadt, in der sich Osama bin Laden über Jahre hinweg versteckte. Die Stadt, die von den Einheimischen scherzhaft Osamabad genannt wird. Gemeinsam wollen wir dorthin fahren. Wir wollen wissen, wo die Radios hergestellt werden, wollen die Verteilung der Radios begleiten und vor allem wollen wir die Lehrer-Fortbildung besuchen, die heute losgeht. Fakhira und ihr Team schulen Lehrer für den Umgang mit dem Radio-Lernprogramm.
Und Fakhira und Najib beruhigen uns: Abbottabad sei viel besser als sein Ruf:
"Abbottabad ist in Pakistan nicht nur für Osama bekannt, sondern hauptsächlich für sein gutes Schulsystem. Es gilt als das Zentrum der Bildung. Aber in den letzten Jahren hat sich die Situation in der Gegend geändert. Wegen vieler Naturkatastrophen in angrenzenden Provinzen und der Flüchtlingswellen aus Afghanistan. Und weil viele öffentliche Schulen in der Garnisonsstadt Abbottabad vom Militär betrieben werden. Die Schulen haben Probleme die Sicherheit zu gewährleisten. Die ganze Gegend ist so wahnsinnig instabil geworden..."
Vor allem der 16.12.2014 sei ein Schock für das ganze Land gewesen, sagt Fakhira. Das Datum des Anschlags auf die Militärschule in Peshawar, der Provinzhauptstadt von Khyber Pakhtunkhwa, hat sich in das kollektive Bewusstsein der Pakistani eingebrannt. Über 140 Kinder und Lehrer wurden von den Attentätern bestialisch hingerichtet. Auch als wir in Richtung Abbottabad aufbrechen, bleibt der Anschlag Thema:
"Es ist einfach eine Tragödie. Vor allem für Kinder. Ich kannte einige der Familien, einige der Lehrerinnen, die dort gearbeitet haben. Und auch einige der Kinder. Wir sind wahnsinnig traurig. Die Familien haben auf die Bildung ihrer Kinder gesetzt und haben sie deshalb morgens in die Schule geschickt... Wir waren so schockiert. Wir saßen im Büro und haben geweint."
Trotz allem freut sich Fakhira auf Abbottabad:
"Ich komme ursprünglich aus Abbottabad. Meine Freunde und Familie leben immer noch dort. Als ich dort aufgewachsen bin, habe ich auf den Straßen gespielt und durfte zur Schule gehen."
Und das als Mädchen, wie Fakhira betont. Dann hat sie Najib geheiratet und ist mit ihm nach Islamabad gezogen.
Wieder werden die Straßen holpriger und der Verkehr chaotischer. Und wie schon auf der Reise nach Haripur verschwinden die Frauen aus dem Stadtbild. Wir nähern uns Abbottabad:
"Jetzt muss ich doch mal mein Kopftuch aufsetzen... na ja, ich muss nicht, aber hier macht man das eben schon..."
Fakhira wandelt zwischen den Welten. Mit viel Feingefühl tritt sie an Schulen und Lehrer in den Provinzen heran. Im Gegensatz zu vielen westlichen NGOs und Hilfsorganisationen ist ihr bewusst, wie die Menschen hier ticken:
"Wir werden in Abbottabad zeitgleich männliche und weibliche Lehrer für das Radio-Lernprogramm ausbilden. Männer und Frauen werden dort getrennt unterrichtet. Das machen wir so, weil unser Radio-Programm sehr interaktiv ist. Ihr werdet sehen, die Lehrer müssen Begriffe darstellen, hüpfen und singen. Ich will nicht, dass sie dabei schüchtern sind. Da hilft es, sie aufzuteilen."
Das ist sicher einer der Gründe. Aber dass Abbottabad auch noch sehr am alten Frauenbild festhält, wird mir klar, als ich den Seminarraum der Frauen betrete. Die Vorhänge sind zugezogen, damit Männer von außen nichts von der Veranstaltung mitbekommen. Die 50 Lehrerinnen warten schon auf Fakhira. Sie sind bunt gekleidet, aber alle tragen Kopftuch, einige verbergen auch ihr Gesicht.
Fakhira begrüßt die Lehrerinnen und fängt sofort an, das Programm zu erklären. Sie leitet die Trainings nicht selbst, dazu hätte sie gar keine Zeit. Aber sie bricht das Eis für ihr Team. Als ehemalige Lehrerin weiß sie genau um die Sorgen der Kolleginnen und baut schnell eine Beziehung zu ihnen auf.
In Abbottabad agieren auch viele ausländische Hilfsorganisationen. Die Einheimischen beäugen sie oft mit Misstrauen. Soll doch die Impfkolonne einer NGO damals Osama auf die Spur gekommen sein und ihn dann verraten haben. Und Osama bin Laden ist hier bei vielen ein Held.
Ein paar Räume weiter trainieren die Lehrer den Umgang mit Broadclass. 50 langbärtige Männer sitzen um kleine Tische und schauen skeptisch einer jungen Frau in einer rot-blau gemusterten Khurta zu, wie sie an der Tafel den Aufbau der Englischstunden aufzeichnet. Viele tragen die traditionelle Paschtunen-Mütze aus dickem Filz. Viele haben die Hände vor dem Bauch verschränkt. Auf den Tischen stehen kleine Kärtchen. "Green Group" steht darauf oder "Red Group".
Die junge Frau bemüht sich sichtlich, die Atmosphäre etwas aufzulockern. Jeder Lehrer soll nun eine Radiostunde durchspielen. Die anderen Lehrer mimen solange die Schüler.
Ein dünner hochgewachsener Lehrer mit gutmütigem Gesicht erbarmt sich schließlich und stellt sich vor die Runde skeptisch blickender Kollegen. Er heißt Jamshed Khan und unterrichtet an einer Dorfschule bei Abbottabad.
Ghazala schaltet das Radio an. "Sind alle Schüler und der Lehrer bereit?" ertönt aus dem hölzernen Kasten. Noch etwas verhalten antworten die Kollegen.
Der Proband nimmt ein paar Münzen vom Tisch der "Green Group" und lässt sie nach und nach in eine Schale fallen. Thema dieser Stunde: Zahlen.
Ghazala ist erleichtert. Die Lehrer machen mit, wenn auch zögerlich. Bei den Männern dauert es immer etwas länger. Aber am Ende des Trainings sind auch sie meist begeistert. Jamshed Khan jedenfalls freut sich auf den Unterricht mit Broadclass:
"Ich wusste gar nicht, dass man im Unterricht auch Spiele machen kann. Wir haben hier viele Spiele gelernt und uns untereinander austauschen können. Das war sehr gut."
Und außerdem, fügt er etwas verschämt hinzu, sei so auch seine eigene Aussprache besser geworden. Auf Englisch möchte er uns dennoch lieber kein Interview geben...
Während sich Fakhira um die Lehrer kümmert, ist Najib unterwegs zu einem Schreiner. Die Klassen-Radios werden immer dort hergestellt, wo sie eingesetzt werden:
"Wir wollten die lokale Bevölkerung für das Projekt begeistern. Deswegen sind wir hierher gekommen und haben einen Schreiner gesucht, der das Gehäuse herstellt."
"We reached the carpenter. We are there. Salam Aleikum...."
Die Schreinerei liegt an einer kleinen staubigen Straße. Eigentlich ist es nur ein langer Raum, vollgestellt mit Radiogehäusen. Der Schreiner lächelt zurückhaltend und legt seine Schleifmaschine zur Seite.
"Als wir angefangen haben, die Radios zu bauen, haben wir zuerst gar nicht verstanden, wofür sie benutzt werden. Aber es sind immer wieder Schüler an unserer Werkstatt vorbei gelaufen und haben gesagt: Kuckt mal, die Radios stehen bei uns im Klassenzimmer. Damit lernen wir Englisch."
Aamer nimmt wieder seine Schleifmaschine zur Hand und macht sich an einem halbfertigen Gehäuse zu schaffen. Er freut sich, dass er Teil des Projekts sein kann. Fünf Arbeiter hat er schon einstellen müssen. Selbst habe er keine Kinder, erzählt er uns. Aber wenn, dann sollen sie auch in den Radiounterricht gehen.
Inzwischen kommen manche Schulen bereits von selbst auf Fakhira und Najib zu und möchten an dem Programm teilnehmen – so groß ist die Nachfrage. Sogar eine Madrasa, eine Koranschule, war unter den Interessenten. Najib lächelt stolz als er das erzählt. Vor zehn Jahren, als Fakhira und er verzweifelt versuchten, Sponsoren zu finden, erklärten die Leute sie noch für verrückt. Nun gibt ihnen der Erfolg Recht.
Fakhira ist wieder aufgebrochen. Nach den Trainings werden die Radios verteilt. Jede Klasse bekommt ein eigenes Klassenradio.
Auch die Dorfschule von Jamshed Khan, den wir aus dem Workshop für die Lehrer kennen, bekommt eins. Jamshed steht schon vor der Schule und wartet mit verschränkten Armen auf uns. Wieder passieren wir ein Eisentor. Der Wachmann schaut uns etwas misstrauisch an, erkennt dann aber Fakhira und lässt uns passieren.
Fakhira führt die kleine Kolone mit gezielten Schritten an. Hinter ihr ein Mitarbeiter, er trägt eines der Radios. Auch Jamsheds Kollegin wartet schon sehnsüchtig auf ihr Klassenradio.
Als Fakhria den Raum betritt, stehen die Kinder artig auf und begrüßen sie. Mit großen Augen beobachten die Erstklässler, wie Fakhira Platz macht auf dem Lehrerpult. Sie schiebt Blätter und Stifte zur Seite und rückt das Klassenradio zurecht. Fakhira ist stolz. Sie schaut vom Radio zu den gespannten Kindern, die nun ihretwegen gleich ihre erste Broadclass-Englischstunde haben werden. Fakhira wirkt fast so aufgeregt wie die 20 Erstklässler:
"Jedesmal wenn ich eine Schule besuche, freue ich mich so sehr. Es macht einfach glücklich, wenn ich sehe, dass die Kinder Spaß am Unterricht haben, wenn sie motiviert lernen und singen."
Jamshed Khan schaltet das Radio an. Die erste Broadclass-Englischstunde beginnt mit einem frommen Lied. Die Kinder kennen das Lied. Es ist bekannt in Pakistan, immerhin stammt der Text von Pakistans Nationaldichter Allama Iqbal.
Die Erstklässler halten ihre Hände vor die Brust. Die Handflächen nach oben. Der Text ist fromm und aufklärerisch zugleich. Vor allem eine Zeile bleibt uns im Gedächtnis:
"Oh lieber Gott, lass mich wie eine Motte sein, die zum Licht der Erkenntnis fliegt, heißt es da."
Fakhiras Programm scheint den richtigen Ton zu treffen: So aufklärerisch wie möglich, so traditionsverhaftet wie nötig. Fakhiras Traum ist, das Programm auch in weitere Provinzen zu bringen. Ganz sicher nach Belutschistan. Und vielleicht irgendwann nach Afghanistan...