Unternehmen in Bayern

Wo die Hidden Champions wirtschaften

15:44 Minuten
Blau-weiße Schlüsselanhänger in Herz-Form mit der Aufschrift "Made in Bavaria"
"Made in Bavaria": Produkte aus dem Freistaat haben weltweit Erfolg. © picture-alliance/ dpa / Daniel Karmann
Von Michael Watzke · 22.03.2019
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Von den rund 400 Weltmarktführern aus Deutschland kommen exakt 101 aus Bayern. Von A wie der Kinofilmausrüster ARRI aus München bis Z wie Zwiesel Kristallglas. Warum sind gerade bayerische Unternehmen so erfolgreich?
Tief im Bayerischen Wald, in Zwiesel am Großen Arber, arbeiten Deutschlands erfolgreichste Glasmacher. Menschen wie Josef Weber, der vor einem rotglühenden Ofen steht.
"Dieser Schmelzofen hat 1230 Grad. Da ist das Glas drin. Das schwimmt in einem Bottich. Die flüssige Glasmasse."
Mit einem langen Stab, der Pfeife, schöpft Weber die Glasmasse wie Honig aus dem Ofen. Dann bläht er die Backen und bläst die glühende Kugel auf, als wäre sie ein Luftballon. Weber ist aber kein Glasbläser.
"Wir sind Glasmacher. Das ist ein Unterschied. Die Leute sagen immer Glasbläser, weil man auch reinbläst. Aber wir sind Glasmacher."
Seit einiger Zeit hören die niederbayerischen Glasmacher morgens bei Schichtbeginn nicht mehr nur "Servus" oder "Grüß Gott", sondern: "Moin moin!"
Das ist Christian Nasarow, der neue Chief Operating Officer der Firma Zwiesel Kristallglas AG – und hörbar kein Bayer.
"Meine Familie – Frau, zwei Kinder und ich – wir kommen aus Hamburg. Jetzt arbeite ich in Niederbayern. Ich muss sagen: Der Schnee haut mich um!"
Es ist Anfang März. Vor den riesigen Werkshallen der Fabrik schmilzt der Schnee in der Frühlingssonne. Der Hamburger Nasarow soll im niederbayerischen Zwiesel dafür sorgen, dass Deutschlands erfolgreichster Kelchglas-Hersteller ein "Hidden Champion" bleibt – ein versteckter Weltmarktführer.

Versteckte Weltmarktführer

"Wir können Maschinenglas. Wir können ganz spezielle Stil-Formen machen, zum Beispiel strukturierte Stile. Das kann kein anderer. Wir können auf der Maschine das sogenannte optische Glas machen – das kann auch kein anderer. Ich glaube, wir können uns mit Fug und Recht als Hidden Champion bezeichnen, weil wir eine der Glashütten sind, die gesund dastehen."
Damit das so bleibt, ist Nasarow aus dem hohen Norden in den tiefen Süden gezogen. Hier soll er Prozesse optimieren. Arbeitsabläufe verbessern. Die Sicherheit an Öfen und Maschinen erhöhen. Keine leichte Aufgabe.
"Ich tu mich da schwer, sage ich ganz ehrlich. Ich komme aus einer Industrie, die 'top notch' ist im Bereich Prozess-Optimierung, Produktivität. Die alles – jeden Furz und Feuerstein – in irgendwelche Standards eingegossen hat. Das hier ist eine andere Welt. Das ist eine Manufaktur. Das ist eine Hütte. Da gibt es nicht unbedingt beschriebene Prozesse. Da gibt es Leute, die nach Gefühl arbeiten. Und ich versuche, das Ganze zu matchen: Auf der einen Seite eine Prozesskultur reinzubringen, weil die Produktivität bringt. Auf der anderen Seite aber auch den Geist des Glases in den Prozessen zu halten. Das ist manchmal ein Eiertanz."
Manager Nasarow führt durch den Betrieb – erst zu den Glasmachern in Hütte 1, die in Hand- und Mundarbeit erlesene Karaffen und Weinkelche herstellen.
"Das ist Glas am absoluten Top-Preislevel. Das ist sehr viel Arbeit, sehr viel Vorbereitung. Zum Beispiel diese Buchenformen, die da vorn qualmen: Da hinein wird eine Vase eingeblasen. Die Buchenformen machen wir in unserer eigenen Drechslerei selbst. Das ist ganz selten, das können nur wenige Glasfabriken. Eigener Formenbau. Das macht die Leute hier aus."
Dann führt Nasarow weiter in die Maschinenhalle. Hier fließen glühende Kugeln aus flüssigem Glas von einem Bottich in Maschinen. Am Ende blitzen perfekt geformte Weingläser auf drehenden Förderbändern.
"Das ist die Technik, das Know-How dahinter. Was die Maschine kann und macht, ist ein Teil unseres Status als Hidden Champion. In der Maschine da stehen die Gläser auf dem Kopf. Dahinter werden sie umgedreht. Der Mundrand wird geschliffen. Dann wird der Mundrand verglast. Und dann habe ich ein Glas, das eine Anmutung hat wie ein mundgeblasenes Glas."
Christian Nasarow - Chief Operating Officer bei der Firma Zwiesel Kristallglas AG
Hörbar kein Bayer: Christian Nasarow, Chief Operating Officer bei Zwiesel Kristallglas© Michael Watzke

Mehr als 100 Hidden Champions in Bayern

Das ist das Ziel: Ein Produkt in Handarbeits-Qualität mit Maschinen herzustellen. In Bayern gibt es mehr als 100 Hidden Champions, die mehr als 60 Millionen Euro Jahresumsatz erzielen. Tendenz steigend. Das ist nach Baden-Württemberg die höchste Zahl an Unternehmen dieser Kategorie in Deutschland. Bertram Brossardt, der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft, kurz vbw, definiert Hidden Champions so:
"Champion ist man dann, wenn man in einem Ranking auf dem Weltmarkt in der obersten Liga spielt. Hidden deswegen, weil oft Produkte angeboten werden, die in den Endprodukten nicht zu sehen sind. Es ist versteckt in der Wertschöpfungskette. Oder aber hidden, weil diejenigen, die das betreiben, aus ihrem Selbstverständnis heraus nicht die absolute Öffentlichkeit suchen. Wenn man das zusammenbindet, weiß man, was Hidden Champions sind."
Es sind oft traditionsreiche Unternehmen: von A wie ARRI, dem Münchner Filmkamera-Hersteller, bis Z wie Zwiesel Kristallglas im Bayerischen Wald. Für Bertram Brossardt ist ein wichtiges Standort-Kriterium neben anderen die Verbundenheit mit Land und Leuten.
"In unserer Analyse, die wir Jahr für Jahr machen lassen, kommt heraus, dass etwa 95 Prozent der Unternehmen sich an dem Ort, an dem sie sind, wieder ansiedeln würden. Das ist die Stärke, die ein Standort haben muss. Die ergibt sich entweder daraus, dass man dort geboren ist. Oder daraus, dass man als Zugezogener so in die Community aufgenommen und in ein Austauschverhältnis eingebunden wird, dass man künftig sagen kann: Ja, ich bin hier daheim!"

Vom Fall des Eisernen Vorhangs profitiert

Das scheint dem Standort Bayern in den vergangenen Jahrzehnten gut gelungen zu sein. Der Freistaat hat vor allem von der Öffnung des Eisernen Vorhangs profitiert. Seit die Grenze zum früheren Ostblock gefallen ist, haben sich gerade im Osten Bayerns neue, starke Wirtschaftsbeziehungen und Handelswege entwickelt. Fachkräfte aus Tschechien oder Ungarn stärken nicht nur Firmen wie Zwiesel Kristallglas. Jahr für Jahr entstehen so neue Jobs im sechsstelligen Bereich:
"Sie können über die letzten Jahre als Maßstab nehmen, dass Bayern zwischen 130.000 und 140.000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen bei den Unternehmen geschaffen hat. Die Hälfte davon sind Ausländer aus dem EU-Ausland, insbesondere aus den mitteleuropäischen Staaten. Wenn es die nicht gegeben hätte, wäre es in den letzten Jahren deutlich schwieriger geworden.
Natürlich haben nicht nur bayerische Unternehmen die offenen Grenzen in Europa genutzt. Aber im Süden Deutschlands haben viele kleine und große Firmen besonders leistungsfähige Wertschöpfungsketten quer durch Europa aufgebaut. Deshalb schaut die bayerische Wirtschaft auch mit besonderer Sorge auf den drohenden ungeordneten Brexit. Großbritannien ist einer der wichtigsten Handelspartner des Freistaates. Unternehmen wie BMW und Siemens sind eng mit Produktionsstätten auf der britischen Insel verzahnt. Aber nicht nur die Großen sind besorgt, sagt Bertram Brossardt vom Verband der bayerischen Wirtschaft. Auch viele kleinere Hidden Champions bangen der nächsten Woche entgegen.
"Es macht jedem große Sorgen. Einmal, weil die direkte Wirkung, gerade auf Bayern bezogen, größer ist als in anderen Teilen der Bundesrepublik. Denn unsere Handelszahlen (mit Großbritannien) sind höher als in anderen Bundesländern. Und wir werden Auswirkungen auf den Export erleben, wenn das ungeregelt ist. Wir sind heutzutage auf Wertschöpfungsketten angewiesen. Wenn es einen ungeregelten Brexit gibt, dann lebt man eine Weile in unsicheren und vielleicht auch chaotischen Zeiten."

Brexit und US-Handelspolitik bereiten Sorgen

Der Brexit ist nicht die einzige Sorge bayerischer Hidden Champions. Auch die chaotische Handelspolitik in den USA beschert manchen Unternehmen Bauchschmerzen. Die Firma Völkl beispielsweise, Skihersteller aus dem bayerischen Straubing, ist Marktführer in Nordamerika. Geschäftsführer Udo Stenzel glaubt weiterhin an den US-Markt.
"Uns hilft natürlich – trotz Trump und allem Drum und Dran in Amerika –, dass die Amerikaner deutsche Produkte lieben. Wir sind ein 'Made in Bavaria'-Unternehmen. Made in Germany. Und ob das in Korea oder Japan oder sonst wo ist – das kommt in der ganzen Welt gut an."
Stenzel steht auf der ISPO – der internationalen Sportartikel-Messe in München. Hier trifft er Kunden und Händler aus aller Welt. Persönlich am Messestand.
"Da kriege ich einfach ein Gefühl dafür, wie zufrieden unsere Kunden mit uns sind. Man muss sich immer wieder hinterfragen: Passt alles, was man tut? Die Kunden sind manchmal schonungslos offen. Was ich aber als positiv empfinde. Denn ich kann Dinge nur ändern, wenn ich weiß, was los ist. Das schönste, was mich immer wieder freut, ist, dass es Konsumenten gibt, die Made in Germany gerne kaufen, obwohl Völkl halt einen Tick teurer ist als Mitbewerber, die in anderen Ländern produzieren. Und das hilft uns, den Standort zu halten."
Eine Messebesucherin betrachtet auf der Sportartikelmesse Ispo in München Ski am Stand von Völkl. Auf der Ispo zeigen Aussteller ihre neuesten Sportprodukte.
Eine Messebesucherin betrachtet auf der Ispo in München Skier von Völkl.© picture alliance / Matthias Balk/dpa
Völkl ist der letzte deutsche Ski-Hersteller. In Straubing an der Donau produzieren 400 Mitarbeiter rund 350.000 Ski pro Jahr. Völkl hat zwar in den letzten 15 Jahren viermal den Eigentümer gewechselt und den Hauptsitz in die Schweiz verlegt – aber den Produktions-Standort Niederbayern konnte Geschäftsführer Stenzel halten.
"Wir sind Spezialist in Sachen Gewicht: Unsere Skier sind die leichtesten am Markt. Wir haben neue Techniken wie 3D-Seitenzüge, die anders geformt sind. Die drei Radien in einem Ski beinhalten. Das sind alles Entwicklungen Made in Germany, von unseren Leuten in Straubing."

Herausforderung Fachkräftemangel

Herausforderungen gibt es viele, für Völkl-Chef Stenzel ist die größte derzeit der eklatante Fachkräftemangel.
"Wo wir jetzt natürlich gerade ein bisschen anhaken: Wir haben nur sehr wenige Menschen, die Arbeit suchen. Also wenn wir Arbeitsplätze freihaben, dann sind die schwer zu besetzen. Aber das ist auch positiv: Wenn viele Menschen Arbeit haben, haben viele Menschen Geld für Sport- und Freizeit-Aktivitäten. Aber Arbeitskräfte – das ist das Hauptproblem."
Gerade in Niederbayern gibt es so viele erfolgreiche Firmen, dass sie sich gegenseitig Facharbeiter und Ingenieure ausspannen. Die kleineren Unternehmen konkurrieren mit den Großen wie BMW, das im niederbayerischen Dingolfing sein größtes Werk in Europa betreibt und dort sechs Baureihen produziert. BMW sauge den Arbeitsmarkt leer, klagen viele niederbayerische Mittelständler.
"Das ist natürlich schwierig. Andererseits ist BMW nicht direkt in Straubing, sondern ich fahre eine Stunde mit dem Bus. Und ich hoffe, dass viele nicht so gern Bus fahren."
Bus oder Bahn fahren müssen auch viele Angestellte von Airbus Helicopters. Der europäische Hubschrauber-Champion unterhält in Bayern mehrere weit voneinander entfernte Standorte. Im schwäbischen Donauwörth ebenso wie im oberbayerischen Manching und in Ottobrunn südlich von München. Das neueste Airbus-Projekt allerdings, die bemannte Elektro-Drohne "City-Taxi", stellte das Unternehmen kürzlich in Ingolstadt vor.

Vorteil durch gute Universitäten

Mit einem Countdown auf dem Marktplatz präsentierte sich Airbus als Innovationsführer – obwohl das schwarz-weiße Lufttaxi mit den acht Rotoren noch am Anfang seiner Entwicklung steht. Dass gerade in Bayern mehrere Luft-Taxi-Prototypen entstehen, erklärt sich Airbus-Projektleiter Stefan Haisch mit den exzellenten Universitäten im Freistaat.
"Sicherlich haben wir mit der TU München hier ein gutes Standbein, gute Ausbildungsmöglichkeiten. Und gute Lehrstühle für Luft- und Raumfahrttechnik. Die produzieren solche Leute, solche Studenten, die sowas entwickeln können."
Diplom-Physiker Haisch hofft, dass das City-Taxi bereits 2025 Passagiere befördert. Wenn Politik und Behörden nicht zu stark bremsen.
"Technisch können wir das bis dahin vermutlich erreichen. Aber die Gesetzgebung ist ein bisschen schwerfällig. Und die gesetzgeberische Frage ist die größere. Da sind ja auch viele Sicherheitsfragen dahinter. Die müssen gelöst werden. Und die werden möglicherweise in anderen Ländern und anderen Erdteilen schneller gelöst."
Dass zu schnelle Genehmigungsverfahren fatale Folgen haben können, zeigt aktuell das Beispiel Boeing 737 Max in den USA. Andererseits dauern die Entscheidungsprozesse in Bayern und Deutschland oft quälend lang, klagt vbw-Geschäftsführer Bertram Brossardt.
"Das, was uns insgesamt fehlt – und zwar in ganz Deutschland – ist Geschwindigkeit. Die Frage 'Wie schnell können wir etwas tun?' kriegen wir nicht mehr auf die Reihe wie früher. Wir haben Flexibilitäts-Hindernisse, die uns etwa in der Digitalisierung extrem hindern. Es geht in Deutschland einfach nicht weiter."

Gutes Networking

In Zwiesel im Bayerischen Wald kennt Christian Nasarow solche Schwierigkeiten nicht. Sein größtes Problem ist die Logistik: Die 700 Mitarbeiter von Zwiesel Kristallglas produzieren so viel, dass Nasarow Mühe hat, die Produkte schnell genug vom Hof zu schaffen.
"Also dass hier Dynamik nachlässt, kann ich nicht spüren. Wirklich nicht. Gerade was hier die Arberland-Region mit den Firmen für die Firmen und für die Menschen tut, finde ich extrem spannend. Habe ich so in Deutschland auch noch nicht gesehen – und ich bin Deutschland viel rumgekommen. Das machen die wirklich gut. Alle machen da mit in diesem Verbund. Wir haben ein gutes Networking. Wir haben die Technische Hochschule Deggendorf, die sehr viele Kompetenzzentren in die Gegend gesetzt hat. Um letztlich Industrie-Wissen, universitäres Wissen und Fachwissen zusammenzubringen und die Leute miteinander sprechen zu lassen, sich austauschen zu lassen. Das klappt super."
Nasarow stößt einen mundgeblasenen Burgunder-Kelch aus Kristallglas mit einem Kelch aus der Maschinenproduktion an. Für den Laien sind die beiden Gefäße nur schwer auseinanderzuhalten. Aber der Fachmann sieht die Qualitäts-Unterschiede.
"Das Schwierige ist – und das muss die Maschine noch vom Glasmacher lernen – diese Struktur in diesem Winkel und immer gleichmäßig in die Form reinzukriegen. Das ist eben der Schritt, den der Glasmacher noch vor der Maschine hat. Dass er das kann."
Noch. Aber Nasarow arbeitet daran, die Maschine immer besser zu machen. Und das wird in Zwiesel keine Arbeitsplätze kosten, sondern erhalten. Denn nur so kann das Unternehmen ein Hidden Champion bleiben. Neulich war Nasarow auf der Ambiente, der Fachmesse für Konsumgüter in Frankfurt.
"Ich habe dort verschiedene Glasmacher gefragt, wie sie zum Thema Innovation stehen. Und die meisten Antworten auf meine Frage: 'Was machst du an Innovation? Gibt es Innovationstage bei euch? Wie bereitet ihr euch auf die Zukunft vor' – 'Machen wir nicht! Kann ich nicht! Keine Zeit, keine Idee.' - Da sind wir ganz anders aufgestellt."
Letzte Woche hat Nasarow die Produktion in Zwiesel angehalten, um mit seinem Entwickler-Team neue Ideen an den Maschinen auszuprobieren. Innovationen, die vielleicht irgendwann dafür sorgen, dass Zwiesel Kristallglas auch in 50 Jahren noch Marktführer ist.
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