Untergang eines chinesischen Clans
Das Interesse für historische Stoffe nimmt in der chinesischen Gegenwartsliteratur breiten Raum ein. Es ist eine Gegenbewegung zur ökonomischen Modernisierung einer Gesellschaft, die nur nach vorne blickt und eine Nachholbewegung zur Geschichtszertrümmerung der Mao-Ära.
Auch Liu Hengs Roman "Bekenntnisse eines Hundertjährigen" führt zurück in die Vergangenheit: Er spielt im frühen 20. Jahrhundert, in der Endphase der von den Mandschu etablierten Qing-Dynastie, als das chinesische Kaiserreich in Armut, Hunger und Aufständen zu Grunde ging. Die Rahmenhandlung – der Hundertjährige erzählt einem jungen Mann ein Kapitel aus seinem früheren Leben als Diener – ist im Jahr 1992 angesiedelt; die Geschichte, die der Alte erzählt, ereignete sich im Jahr 1908. Die sorgsame Balance der Zahlen – jeweils acht Jahre vom Anfang und Ende des Jahrhunderts entfernt – entspricht dem chinesischen Bedürfnis nach Harmonie.
Die Geschichte selbst aber ist alles andere als harmonisch. Handlungsort ist der Hof der reichen Familie Cao, Großgrundbesitzer und Unternehmer mit zahlreichen Bediensteten. Der alte Cao hat Angst vor dem Tod und ernährt sich von allerhand seltsamen Tinkturen aus Krötenhaut, Spinnenbeinen und Zwillings-Urin, bis es ihn schließlich nach der Plazenta eines Enkelsohnes gelüstet. Seine Gattin zieht sich zu Fastenkuren zurück, die sie an den Rand des Todes führen. Der älteste Sohn hat zwar mehrere Frauen, doch die gebären nur Töchter. So ruht die Hoffnung auf einen Stammhalter auf dem jüngeren Sohn, mit dessen Verheiratung das Geschehen einsetzt.
Erzählt wird aus der Perspektive des Dieners "Ohrwaschel", der damals 16 Jahre alt war. Ein wenig naiv, jedoch sehr wach, sieht er immer ein wenig mehr, als er versteht. Nachts klettert er über die Dächer, blickt durch die Dachfenster und sammelt so seine Informationen. Er verliebt sich in die "junge Herrin", noch bevor er sie gesehen hat und beobachtet, wie der "junge Herr" auf seltsame Abwege gerät, indem er sich Aufständischen als Sprengstoffproduzent und Bombenleger anschließt. Anstatt sich seiner Frau zu nähern, bevorzugt er seltsame sexuelle Praktiken, will sich würgen und peitschen lassen. So ist es kein Wunder, dass ein französischer Gast – gekommen, um Maschinen für eine Streichholzfabrik zu installieren – eine Liebesaffäre mit der "jungen Herrin" beginnt. Das tragische Ende ist bald zu ahnen: Die Geburt des ersehnten Stammhalters wird zum Debakel, als sich herausstellt, dass der Säugling blaue Augen hat.
Das politische Geschehen der Zeit bleibt im Hintergrund. Worum es den Aufständischen geht, deren Köpfe auf Stangen gespießt in den Dörfern zur Abschreckung aufgestellt werden, wird nicht erklärt. Das blutige Geschehen bildet allenfalls die Kulisse der Familientragödie, doch in der Selbstzerstörung des Cao-Clans spiegelt sich der Untergang des Kaiserreiches. Liu Heng, der zur "verlorenen Generation" der in der Mao-Ära Aufgewachsenen gehört, erzählt in bunten Farben, plastisch, sinnenfroh und mitreißend emotional. Er ist ein konventioneller Erzähler, der es versteht, Spannungsbögen zu knüpfen, unvergessliche Figuren zu zeichnen und so eine untergegangene Welt neu entstehen zu lassen. Seine Erfahrungen als Drehbuchautor – unter anderem in Filmen von Zhang Yimou – sind auch diesem Roman zu Gute gekommen. In China wurde aus den "Bekenntnissen eines Hundertjährigen" eine 42-teilige TV-Serie.
Besprochen von Jörg Magenau
Liu Heng: Bekenntnisse eines Hundertjährigen
Aus dem Chinesischen von Ingrid Müller und Zhang Rui.
Hanser Verlag, München 2009
382 Seiten, 21,50 Euro
Die Geschichte selbst aber ist alles andere als harmonisch. Handlungsort ist der Hof der reichen Familie Cao, Großgrundbesitzer und Unternehmer mit zahlreichen Bediensteten. Der alte Cao hat Angst vor dem Tod und ernährt sich von allerhand seltsamen Tinkturen aus Krötenhaut, Spinnenbeinen und Zwillings-Urin, bis es ihn schließlich nach der Plazenta eines Enkelsohnes gelüstet. Seine Gattin zieht sich zu Fastenkuren zurück, die sie an den Rand des Todes führen. Der älteste Sohn hat zwar mehrere Frauen, doch die gebären nur Töchter. So ruht die Hoffnung auf einen Stammhalter auf dem jüngeren Sohn, mit dessen Verheiratung das Geschehen einsetzt.
Erzählt wird aus der Perspektive des Dieners "Ohrwaschel", der damals 16 Jahre alt war. Ein wenig naiv, jedoch sehr wach, sieht er immer ein wenig mehr, als er versteht. Nachts klettert er über die Dächer, blickt durch die Dachfenster und sammelt so seine Informationen. Er verliebt sich in die "junge Herrin", noch bevor er sie gesehen hat und beobachtet, wie der "junge Herr" auf seltsame Abwege gerät, indem er sich Aufständischen als Sprengstoffproduzent und Bombenleger anschließt. Anstatt sich seiner Frau zu nähern, bevorzugt er seltsame sexuelle Praktiken, will sich würgen und peitschen lassen. So ist es kein Wunder, dass ein französischer Gast – gekommen, um Maschinen für eine Streichholzfabrik zu installieren – eine Liebesaffäre mit der "jungen Herrin" beginnt. Das tragische Ende ist bald zu ahnen: Die Geburt des ersehnten Stammhalters wird zum Debakel, als sich herausstellt, dass der Säugling blaue Augen hat.
Das politische Geschehen der Zeit bleibt im Hintergrund. Worum es den Aufständischen geht, deren Köpfe auf Stangen gespießt in den Dörfern zur Abschreckung aufgestellt werden, wird nicht erklärt. Das blutige Geschehen bildet allenfalls die Kulisse der Familientragödie, doch in der Selbstzerstörung des Cao-Clans spiegelt sich der Untergang des Kaiserreiches. Liu Heng, der zur "verlorenen Generation" der in der Mao-Ära Aufgewachsenen gehört, erzählt in bunten Farben, plastisch, sinnenfroh und mitreißend emotional. Er ist ein konventioneller Erzähler, der es versteht, Spannungsbögen zu knüpfen, unvergessliche Figuren zu zeichnen und so eine untergegangene Welt neu entstehen zu lassen. Seine Erfahrungen als Drehbuchautor – unter anderem in Filmen von Zhang Yimou – sind auch diesem Roman zu Gute gekommen. In China wurde aus den "Bekenntnissen eines Hundertjährigen" eine 42-teilige TV-Serie.
Besprochen von Jörg Magenau
Liu Heng: Bekenntnisse eines Hundertjährigen
Aus dem Chinesischen von Ingrid Müller und Zhang Rui.
Hanser Verlag, München 2009
382 Seiten, 21,50 Euro