Unter Zeitbomben
Jeder kennt das Gefühl, ein randvolles Gefäß zu sein. Randvoll mit Ärger, Wut und Leiden. Jetzt fehlt nur noch ein Tropfen, um … – ja, genau: um was bitte sehr? Wie manifestiert sich dieses Überlaufen, und was wird dann im nächsten Augenblick geschehen? Das sind Fragen, mit denen man auch als ganz durchschnittlicher Mittelklassemensch hin und wieder konfrontiert wird. Oder vielleicht gerade als ein solcher.
Denn die asozialen Schichten der Gesellschaft, der Abschaum ganz unten, und die sich alles leisten Könnenden ganz oben verschaffen sich rascher eine Spannungsabfuhr und stauen den Wohlverhaltensdruck nicht so lange auf wie die biedere Masse des Volks, aus dessen biederster Mitte sich plötzlich die unheimliche Figur des Amokläufers löst.
Da wir instinktiv wissen, dass der Amokläufer einer von uns ist, erregt seine Raserei so großes Interesse. Wahrhaftig ist die ganze Sicherheitsdebatte, die jetzt infolge der Berliner Messerstecherei entbrennt, von grotesker Übertriebenheit. Aber insofern passt sie wenigstens zu der bevorstehenden Fußball-WM. Die steht ja sowieso unter dem Stern der totalen Sicherheit. Erst ließ die Stiftung Warentest in den Stadien breitere Treppen und höhere Tore einbauen, dann verbot die Regierung den Terroristen aus aller Welt die Einreise und jetzt wird auch noch eine Anti-Amok-Maßnahme ergriffen.
Zum Beispiel beim Bierverkauf: Der Berliner Amokläufer war nach allem, was man hört, betrunken. Deswegen soll der Alkoholausschank an Amokläufer während der WM verboten werden. Des Weiteren handelt es sich um einen 16-Jährigen. Ein schlimmes Alter. Die meisten weltbekannten Amokläufer der letzten Zeit waren unter 20 – von Jonesboro bis Littleton und von Bad Reichenhall bis Erfurt. Daher sollten Leute unter 20 sich die WM gar nicht ansehen dürfen – weder in den Stadien noch außerhalb der Stadien.
Schließlich gilt es auch verschiedene Gewalt auslösende Faktoren zu berücksichtigen. Psychologen wissen, dass einem Amoklauf meist ein Streit mit Freunden oder Liebespartnern vorausgeht. Insofern scheint es angezeigt, labilen Charakteren, die sich mit Freunden oder Liebespartnern streiten, den Zutritt zu WM-Plätzen grundsätzlich zu verwehren.
Ein ganz besonderes Augenmerk der Sicherheitskräfte gilt 16-Jährigen, die Liebeskummer haben und Bier trinken. Man wird ihnen gegebenenfalls mitgeführte Messer wegnehmen. Aus alldem folgt, dass auf dieser Fußball-WM eher 30-jährige Amokläufer nach Ecstasy-Genuss zum Zuge kommen. Denn es liegt im Wesen des Amoklaufs, dass er nicht kalkulierbar ist. Der Wahnsinn bricht sich immer da Bahn, wo man es nicht vermutet und deshalb nicht verhindern kann.
Ganz überraschend ist er trotzdem nicht. Im Gegenteil, das Überraschende an unserem hochkomplexen Zivilisationsgefüge besteht darin, dass es ungeachtet des enormen Wahnsinnspotenzials Tag für Tag überwiegend glimpflich funktioniert. Dabei nehmen die neuronalen Anforderungen ans Individuum im modernen Leben ständig zu.
Allein das Autofahren kann einen durchschnittlich begabten Menschen an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen. Aber ein Blick auf den Straßenverkehr zeigt, dass wunderbare Selbstbeherrschungskräfte ein geordnetes Kutschieren möglich machen.
Diese wunderbaren Selbstbeherrschungskräfte sind es, die der Amokläufer für uns thematisiert. Denn wir haben keine Ahnung, woher sie eigentlich kommen. Wir wissen bloß, dass sie eine kostbare und jederzeit gefährdete Ressource darstellen. Deshalb haben wir solche Angst davor, dass der seidene Faden des zivilisierten Verhaltens irgendwo reißt und irgendjemand wie der von Michael Douglas gespielte Otto Normalverbraucher in dem Film "Falling Down" austickt und ein Blutbad anrichtet. Ja, eigentlich wundern wir uns, dass es nicht öfter geschieht, denn wir leben unter Zeitbomben. Als zumindest potenzielle Zeitbomben haben wir selber dafür ein starkes Gespür.
Hier nun liegt der Grund für die sofort hoch aufschäumende Intensivberichterstattung der Medien, für den diskursiven Amoklauf der Sicherheitspolitiker und für die gesamtgesellschaftliche Resonanz, die solch ein Zwischenfall wie der bei der Berliner Bahnhofseinweihung auslöst. Es mischt sich in das Entsetzen über die Tat stets auch ein heimliches Gefühl der Erleichterung und des Davongekommenseins. Und zwar nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter. Der Amokläufer wird zur öffentlichen Kultfigur, weil er uns nicht nur Angst vor Tod oder Verletzung einjagt, sondern weil sein Horrortrip auch eine Projektionsfläche ganz anderer Ängste ist: Im Amokläufer spiegelt sich unsere Angst vor uns selbst.
Da wir instinktiv wissen, dass der Amokläufer einer von uns ist, erregt seine Raserei so großes Interesse. Wahrhaftig ist die ganze Sicherheitsdebatte, die jetzt infolge der Berliner Messerstecherei entbrennt, von grotesker Übertriebenheit. Aber insofern passt sie wenigstens zu der bevorstehenden Fußball-WM. Die steht ja sowieso unter dem Stern der totalen Sicherheit. Erst ließ die Stiftung Warentest in den Stadien breitere Treppen und höhere Tore einbauen, dann verbot die Regierung den Terroristen aus aller Welt die Einreise und jetzt wird auch noch eine Anti-Amok-Maßnahme ergriffen.
Zum Beispiel beim Bierverkauf: Der Berliner Amokläufer war nach allem, was man hört, betrunken. Deswegen soll der Alkoholausschank an Amokläufer während der WM verboten werden. Des Weiteren handelt es sich um einen 16-Jährigen. Ein schlimmes Alter. Die meisten weltbekannten Amokläufer der letzten Zeit waren unter 20 – von Jonesboro bis Littleton und von Bad Reichenhall bis Erfurt. Daher sollten Leute unter 20 sich die WM gar nicht ansehen dürfen – weder in den Stadien noch außerhalb der Stadien.
Schließlich gilt es auch verschiedene Gewalt auslösende Faktoren zu berücksichtigen. Psychologen wissen, dass einem Amoklauf meist ein Streit mit Freunden oder Liebespartnern vorausgeht. Insofern scheint es angezeigt, labilen Charakteren, die sich mit Freunden oder Liebespartnern streiten, den Zutritt zu WM-Plätzen grundsätzlich zu verwehren.
Ein ganz besonderes Augenmerk der Sicherheitskräfte gilt 16-Jährigen, die Liebeskummer haben und Bier trinken. Man wird ihnen gegebenenfalls mitgeführte Messer wegnehmen. Aus alldem folgt, dass auf dieser Fußball-WM eher 30-jährige Amokläufer nach Ecstasy-Genuss zum Zuge kommen. Denn es liegt im Wesen des Amoklaufs, dass er nicht kalkulierbar ist. Der Wahnsinn bricht sich immer da Bahn, wo man es nicht vermutet und deshalb nicht verhindern kann.
Ganz überraschend ist er trotzdem nicht. Im Gegenteil, das Überraschende an unserem hochkomplexen Zivilisationsgefüge besteht darin, dass es ungeachtet des enormen Wahnsinnspotenzials Tag für Tag überwiegend glimpflich funktioniert. Dabei nehmen die neuronalen Anforderungen ans Individuum im modernen Leben ständig zu.
Allein das Autofahren kann einen durchschnittlich begabten Menschen an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen. Aber ein Blick auf den Straßenverkehr zeigt, dass wunderbare Selbstbeherrschungskräfte ein geordnetes Kutschieren möglich machen.
Diese wunderbaren Selbstbeherrschungskräfte sind es, die der Amokläufer für uns thematisiert. Denn wir haben keine Ahnung, woher sie eigentlich kommen. Wir wissen bloß, dass sie eine kostbare und jederzeit gefährdete Ressource darstellen. Deshalb haben wir solche Angst davor, dass der seidene Faden des zivilisierten Verhaltens irgendwo reißt und irgendjemand wie der von Michael Douglas gespielte Otto Normalverbraucher in dem Film "Falling Down" austickt und ein Blutbad anrichtet. Ja, eigentlich wundern wir uns, dass es nicht öfter geschieht, denn wir leben unter Zeitbomben. Als zumindest potenzielle Zeitbomben haben wir selber dafür ein starkes Gespür.
Hier nun liegt der Grund für die sofort hoch aufschäumende Intensivberichterstattung der Medien, für den diskursiven Amoklauf der Sicherheitspolitiker und für die gesamtgesellschaftliche Resonanz, die solch ein Zwischenfall wie der bei der Berliner Bahnhofseinweihung auslöst. Es mischt sich in das Entsetzen über die Tat stets auch ein heimliches Gefühl der Erleichterung und des Davongekommenseins. Und zwar nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter. Der Amokläufer wird zur öffentlichen Kultfigur, weil er uns nicht nur Angst vor Tod oder Verletzung einjagt, sondern weil sein Horrortrip auch eine Projektionsfläche ganz anderer Ängste ist: Im Amokläufer spiegelt sich unsere Angst vor uns selbst.