Unter Verschluss

Josef Foschepoth im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
Nach Ansicht des Freiburger Historikers Josef Foschepoth ist es nicht möglich, ein ausgewogenes Urteil über wichtige Ereignisse in der bundesrepublikanischen Geschichte zu fällen. In den Archiven des Bundes würden mindestens 100.000 Verschlussakten liegen.
Stephan Karkowsky: Warum die Bundesrepublik so ein Geheimnis macht aus ihren Akten, das soll uns der Freiburger Historiker Prof. Dr. Josef Foschepoth erzählen. Herr Foschepoth, wie erklären Sie sich das?

Josef Foschepoth: Also da gibt es natürlich verschiedene Gründe. Zum einen ist es vordergründig natürlich ein bürokratischer Akt, das heißt, es gibt eine Verschlusssachenverordnung, an die man sich halten muss, die ist geltendes Recht. Und diese Verschlusssachenverordnung, die ja immer noch gültig ist, ist die in der Form von 2006. Da ist zum ersten Mal versucht worden, die Vorgängerin von 1995 zu verändern. Bis dahin hatten wir keine automatische Deklassifizierung von historischen Akten.

Karkowsky: Deklassifizierung heißt?

Foschepoth: Eine Herabstufung. Wir unterscheiden ja verschiedene Geheimhaltungsstufen, die alle in dieser sogenannten Verschlusssachenverordnung festgehalten sind. Ich kann sie einfach mal nennen: Die höchste Stufe ist streng geheim, dann folgt geheim und dann kommt vertraulich, und die unterste Stufe ist VS, nur für den Dienstgebrauch. Und das läuft praktisch so ab, dass die Behörde, in der solche Akten produziert werden, regelmäßig darüber schauen muss, ob sie die entsprechend eingestuften Akten herunterstufen kann. Und wenn es ordnungsgemäß geführt ist, eine solche Behörde, dann gibt es überhaupt keine Probleme. Das heißt also, bis eine Frist von 30 Jahren etwa abgelaufen ist, sind die Akten ohnehin schon heruntergestuft und könnten dann der historischen Forschung zur Verfügung stehen.

Karkowsky: Also es müsste rein chronologisch passieren, es ist nicht so, dass jemand sagt, na, wir überlegen uns das bei dieser Akte noch mal?

Foschepoth: Das ist ein anderer Punkt. Das heißt also jetzt, wenn man dieses natürlich tut, stößt man plötzlich auf Dinge, wo man vermeintlich glaubt, da könnte Schaden für die Bundesrepublik entstehen.

Karkowsky: Haben Sie ein Beispiel?

Foschepoth: Ja, der Schaden für die Bundesrepublik kann natürlich dann entstehen, wenn zum Beispiel ein Beamter glaubt, die Behörde oder die Sachbearbeitung könnte durch ein solches Dokument in ein schlechtes Licht gerückt werden. Das ist also mehrfach passiert, auch natürlich beim Bundeskriminalamt oder bei anderen. Man hat einfach Sorge davor, dass hier etwas nach außen dringt, was man gerne für sich behalten möchte.

Karkowsky: Aber die Aktenverwalter selber werden doch auf diese Idee nicht kommen, oder? Da kommt jemand von außen und bringt die auf so eine Idee.

Foschepoth: Ja, das Entscheidende ist ja bei uns, und das ist das Problem in der Bundesrepublik, die Behörde entscheidet selber darüber, welche Akte heruntergestuft wird und welche nicht. Das heißt also, es gibt kein Gesetz, das das von außen her regelt. Also zum Beispiel, es gibt keine automatische Freigabe von Akten, wie wir das etwa in den angelsächsischen Ländern kennen, etwa in Großbritannien oder so, wo alle Akten nach 30 Jahren automatisch freigegeben werden müssen, es sei denn, ganz spezifische Sicherheitsinteressen – was weiß ich, Atomwaffenversuche oder irgendwie solche Dinge –, die würden dagegen sprechen, dass solche Akten freigegeben werden.

Karkowsky: Gibt es auch – und da kämen wir ja schon fast in die Sphären einer Verschwörungstheorie – Druck von ehemaligen Amtsleitern oder Politikern, die heute Verantwortung tragen?

Foschepoth: Das ist jetzt natürlich sehr schwierig, weil solche Dinge kann der Historiker ganz sicher schwer nachvollziehen, er kann das natürlich vermuten, dass so etwas passiert. Aber ich kann es vielleicht an einem historischen Beispiel mal sagen. Ich selber habe ja über Telefonüberwachung geforscht, und in diesem Zusammenhang gab es eine Telefonabhöraffäre in 1963, und da gab es natürlich eine Vergatterung auch der Beamten im Innenministerium, dass diese und jene Sprachregelung nach außen zu wählen sei und man verhindern müsse, dass dieser oder jener Aspekt nach außen dringen würde. Ich will jetzt hier nicht ins Details gehen. Und das führte letztendlich auch dazu, dass das Gutachten, das von einem Richter hier aus Karlsruhe erstellt worden ist, letztendlich zu einer Reinwaschung dieser Institution führte. Und solche Dinge kommen natürlich ans Tageslicht. Und die müssen auch, sage ich mal, ans Tageslicht kommen, es gilt ja eine Form auch von demokratischer Verwaltungskontrolle …

Karkowsky: Herr Foschepoth, was für Dinge stehen unter Verschluss? Nehmen wir mal die Barschel-Affäre: Kann ich als Journalist oder als Wissenschaftler da einfach an die Akten ran und forschen, was dort in den Ministerien passiert ist?

Foschepoth: Also wenn Sie die Unterscheidung schon bringen, so ist die natürlich sehr wesentlich. Ein Journalist kann sehr viel weniger als etwa ein Historiker. Ein Historiker, der in der Regel ein Beamter ist, der ein Angestellter einer öffentlichen Einrichtung ist, der nach der Verschlusssachenanweisung arbeitet, hat also eher einen solchen Zugang zu Geheimakten zu kommen, auch eine Ausnahme gemacht zu bekommen, als das bei Journalisten der Fall ist. Das erleben wir im Moment sehr deutlich. Der "Spiegel" ist dort auch sehr initiativ gewesen, ist auch mehrfach abgewiesen worden, während das bei den Wissenschaftlern dann relativ leichter wäre. Ist dennoch sehr aufwendig, ja.

Karkowsky: Also Barschel, komm ich da ran an die Akten oder nicht?

Foschepoth: Nein.

Karkowsky: Und was ist mit der RAF, dem Deutschen Herbst 77?

Foschepoth: Auch nicht.

Karkowsky: Auch nicht?

Foschepoth: Nein.

Karkowsky: Wie wird das begründet?

Foschepoth: Das sind einfach Sicherheitsinteressen. Wir haben ja zweierlei Sicherheitsinteressen – die einen Sicherheitsinteressen, die sich nach innen richten, und die anderen, die natürlich die äußeren Belange betreffen. Und aus diesen beiden Kategorien wird dann entschieden, was unter diesem und jenem Gesichtspunkt freigegeben werden kann. Sie sehen zum Beispiel, wenn ich das grad noch ergänzen darf, Sie haben eben den Fall Kurras angesprochen, da ist ja die Akte von der Oberbundesanwaltschaft gesperrt worden und von daher kann man da auch nicht mehr dran. Wobei der eigentliche Skandal dieser Kurras-Affäre eigentlich darin liegt, dass die Bundesrepublik jetzt nicht alles tut, um diese Sache aufzuklären.

Karkowsky: Gab es denn in Ihrer eigenen Forschung, in Ihrer jüngsten Forschung den Fall, dass Sie persönlich vor verschlossenen Archiven standen?

Foschepoth: Ja, sicher.

Karkowsky: Was war das?

Foschepoth: Das heißt, also der schwierigste Fall ist nach wie vor sagen wir mal das Auswärtige Amt noch und natürlich das Bundeskanzleramt. Wir gehen ja davon aus, dass wir – genaue Zahlen liegen natürlich nicht vor –, aber wenn wir mal gering schätzen, Minimum 100.000 Verschlusssachenakten haben, die für die Geschichte der Bundesrepublik noch von großer Bedeutung sind. Aber Sie können gerne diese Zahl sicherlich noch verdoppeln, wenn Sie die ganzen Landesarchive, die nachgeordneten Behörden und vieles andere mehr hinzurechnen können. Also mit anderen Worten: Wir haben eine derartig noch schlechte Quellenbasis, 60 Jahre nach Gründung dieser Bundesrepublik, dass man eigentlich noch kein abschließendes Urteil – irgendwann werden wir es ohnehin können –, aber kein entsprechendes ausgewogenes Urteil, was der Historiker ja zu fällen hat, tun können.

Karkowsky: Sie forschen derzeit über die KPD, richtig?

Foschepoth: Ich forsche zurzeit über die KPD, ihre Rolle und Bedeutung im deutsch-deutschen Systemkonflikt. Das ist also ein Projekt zum Antikommunismus und Kommunismus in den 50er- und 60er-Jahren. Und dieser Forschungsansatz ist ohnehin sehr problematisch, und zwar, weil Sie auf der einen Seite natürlich alle Akten der ehemaligen DDR zur Verfügung haben, auch sogar jetzt die ganzen KPD-Akten, die in Berlin jetzt zusammengeführt worden sind – also von der Weimarer Zeit bis sagen wir mal zum Untergang der KPD 1968. Auf der anderen Seite haben Sie aber das Problem, dass Sie die äquivalenten Akten, insbesondere der Entscheidungsakten auf Ministerebene und so, nicht einsehen können.

Karkowsky: Verstehe. Und gleichzeitig werden Sie aber von der DFG und damit ja im Prinzip vom Bund auch gefördert?

Foschepoth: Das ist das Verrückte daran.

Karkowsky: Was meinen Sie denn nun, wie künftig verfahren werden sollte mit diesem Problem? Wird es in absehbarer Zeit eine Lösung geben?

Foschepoth: Also erst einmal bin ich guter Hoffnung, dass ich wirklich sehe, wie Minister Schäuble und auch die zuständigen Staatssekretäre und Ministerialdirigenten, die im Bereich Verfassungsschutz und im Bereich der inneren Sicherheit arbeiten, wirklich sehr überzeugend klarmachen, auch durch ihr eigenes Handeln deutlich machen, sie wollen jetzt hier der Forschung wirklich freie Bahn schaffen. Das geht natürlich alles nicht so schnell und es gibt ein heftiges Gerangel im Moment zwischen den Ministerien, und da müssen wir jetzt sehen, was am Ende da herauskommt. Die Erwartung und der Druck der Öffentlichkeit ist ja sehr groß, und ich denke auch, es ist nun wirklich an der Zeit – im 60. Jahr der Existenz der Bundesrepublik –, diese Akten frei zu geben. Wir haben da vielleicht ein Problem. Wir haben inzwischen gelernt, mit untergegangenen Staaten, deutschen Staaten recht gut umzugehen, und wir hatten sie ja auch eigentlich alle, wir haben genug davon gehabt, also vier Stück ja allein im letzten Jahrhundert – das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die NS-Diktatur, die DDR –, und jetzt haben wir zum ersten Mal einen Staat, der etwas länger lebt. Man kann ja nicht erwarten, dass wir abwarten müssen, dass er erst einmal wieder untergeht, um an die Akten heranzukommen. Aber das ist natürlich ein Lernprozess, in den wir uns hineinbegeben müssen, um jetzt im Sinne einer liberalen Gesellschaftsordnung hier auch lernen, mit unserer eigenen Geschichte kritisch umgehen zu können. So wie das ja gestandene Demokratien – sagen wir mal die USA oder auch Großbritannien – ja schon seit jeher tun.

Karkowsky: Warum DDR-Akten offenliegen können wie ein aufgeschlagenes Buch, alte BRD-Akten dagegen nicht, und welche Folgen das hat für die Forschung. Ich bedanke mich beim Freiburger Historiker Josef Foschepoth. Herr Foschepoth, vielen Dank!