Unter Putz
Was vielen Frauen, ich muss mich dazu zählen, Elektrizität so unheimlich macht, ist ihre Wirkungskraft, verbunden mit völliger Unsinnlichkeit. Man kann sie nicht sehen und riechen - wenn man sie fühlt und hört, ist es schon zu spät. Dann hat man einen Schlag bekommen, die Sicherung springt heraus und die Energie ist weg. Weggesperrt ist sie sowieso: Alle Leitungen, ob für Strom, Gas, Wasser, Internet oder Kabelfernsehen liegen in der Wohnung unter Putz und draußen unterm Asphalt.
Nur wenn was kaputt ist oder verbessert werden soll, schaut man tief in das Innenleben, das uns auf der Oberfläche den Komfort von Wärme, Licht, Wasser und Kommunikation beschert. Man hat sich an diese Sicherheiten so gewöhnt, dass einem die Unwahrscheinlichkeiten des glatten Funktionierens ganz aus dem Bewusstsein geschwunden sind. Ja, man reagiert verstört, fast beleidigt, wenn es dann doch wieder einmal anders kommt.
Warum erzähle ich das? Weil ich den Energiehaushalt unter Putz und Asphalt für mehr als eine Metapher für den Umgang moderner, zivilisierter Gesellschaften mit ihren, nun ja, Lebensenergien halte. Er bildet ihn exakt ab. Das Gute, die Sicherheit und die Ordnung des Alltags halten wir für selbstverständlich, und nur wenn der Putz bröckelt, der Asphalt aufgerissen ist, schauen wir verwirrt in den Untergrund der Leidenschaften und Konflikte, die dann doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Zensur des zivilen Zusammenlebens passieren.
Ich wohne nicht in einer französischen Trabantenstadt, wo es gerade hoch her geht, sondern in einem multikulturellen Kiez, einer angenehmen Nachbarschaft, wo ich mit zahllosen Leuten inzwischen auf Grußfuß stehe, Leuten, deren Namen ich so wenig kenne wie ihre Lebensumstände. In den letzten Jahren hat sich sogar ein Umgangston auf der Straße, im Supermarkt, schon gar im Mietshaus herausgebildet, der die schöne Illusion von Frieden, gesellschaftlicher Harmonie und einem allgemeinen menschlichen Wohlwollen zum Alltag gemacht hat. Man grüsst nicht nur, sondern wünscht sich noch gleich einen schönen Abend, ein frohes Fest. Der beste Schutz gegen Unannehmlichkeiten aller Art ist es, wenn die Leute der Umgebung einen, wie oberflächlich auch immer, in den Kosmos ihres Alltags aufgenommen haben.
Trotzdem könnte ich ein Büchlein mit Katastrophen füllen, die auch meine nette Nachbarschaft in Frage stellen und mir den Blick auf den ignorierten Untergrund all des netten Zusammenlebens öffnen könnten. Dreimal wurden zum Beispiel vor einigen Jahren die Reifen meines Autos aufgeschlitzt. Es war ein billiger russischer Lada und ich grübelte lange darüber nach, ob hier ein Russenfeind oder ein persönlicher tätig war. Die Verunsicherung des Lebensgefühls war über Wochen, ja Monate beträchtlich. Man ging zum Auto, in Sichtweite von der Wohnung geparkt, fürchtete das neue Attentat auf seine Funktionsfähigkeit und erging sich in paranoiden Phantasien gegen bestimmte Personen in der Strasse.
Das friedliche Lebensgefühl, die Alltagserwartung gerieten für eine Zeit gründlich durcheinander. Wirklich schlimm wird es dann, wenn in einer engen Nachbarschaft, womöglich sogar im Mietshaus, Konflikte auftreten, die einem das freundliche Nebeneinander dann vollends als hohle Fassade erscheinen lassen. Dürfen Fahrräder und Kinderwagen im Hausflur geparkt, Grünpflanzen im Treppenhaus ausgesetzt werden oder hat mein Hund sich beim Ausflug über den Hinterhof nicht anständig betragen? Da brechen plötzlich mit elementarer Gewalt Leidenschaften und Konflikte aus, von denen man keine Ahnung hatte. Die mir verschlossenen Geheimnisse der Elektrizität kehren im feinstofflichen Austausch von Menschen plötzlich wieder, die sich auf Rechte und Pflichten berufen, solche, die sie haben und andere versäumen. In meinem Fall hat der Blick auf das Wirrwarr der Strippen unter Putz dazu geführt, dass die Grußbeziehung zu einer Familie nach Jahren gekündigt wurde - von den Erörterungen, die ich mit anderen einfühlsamen Nachbarn wegen des Hinterhofs und meines Hundes geführt habe, ganz abgesehen! Im Gespräch wurden große Theorien entwickelt. Warum es so ist, wie es ist. Mir ist es nach all den Aufregungen eine Lehre über die Fragilität unserer zivilen Gesellschaft, die sich in der Illusion wiegt, ihre Energien unter Kontrolle zu haben.
Die brennenden Autos, Teppichmärkte, Kindergärten und Schulen in den französischen Trabantenstädten wurden zahllos und klug kommentiert. Was ich bei allen aber vermisst habe, ist die Einsicht, dass unterm Pflaster eben nicht der Strand liegt, sondern das Chaos menschlicher Leidenschaften, irrer Obsessionen und Dummheiten. Die einen zünden Autos an - wir entwickeln allzu gern Theorien, die nur eins im Sinn haben: Das Feuer des Lebens für unseren Alltag von Sicherheit und Ordnung kompatibel zu machen.
Katharina Rutschky, geboren 1941 in Berlin, veröffentlichte zahlreiche Bücher und arbeitet für Presse und Rundfunk. Sie wurde 1999 mit dem Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste ausgezeichnet. Zuletzt erschienen ihre Bücher 'Emma und ihre Schwestern. Ausflüge in den real existierenden Feminismus' sowie 'Der Stadthund. Von Menschen an der Leine'.
Warum erzähle ich das? Weil ich den Energiehaushalt unter Putz und Asphalt für mehr als eine Metapher für den Umgang moderner, zivilisierter Gesellschaften mit ihren, nun ja, Lebensenergien halte. Er bildet ihn exakt ab. Das Gute, die Sicherheit und die Ordnung des Alltags halten wir für selbstverständlich, und nur wenn der Putz bröckelt, der Asphalt aufgerissen ist, schauen wir verwirrt in den Untergrund der Leidenschaften und Konflikte, die dann doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Zensur des zivilen Zusammenlebens passieren.
Ich wohne nicht in einer französischen Trabantenstadt, wo es gerade hoch her geht, sondern in einem multikulturellen Kiez, einer angenehmen Nachbarschaft, wo ich mit zahllosen Leuten inzwischen auf Grußfuß stehe, Leuten, deren Namen ich so wenig kenne wie ihre Lebensumstände. In den letzten Jahren hat sich sogar ein Umgangston auf der Straße, im Supermarkt, schon gar im Mietshaus herausgebildet, der die schöne Illusion von Frieden, gesellschaftlicher Harmonie und einem allgemeinen menschlichen Wohlwollen zum Alltag gemacht hat. Man grüsst nicht nur, sondern wünscht sich noch gleich einen schönen Abend, ein frohes Fest. Der beste Schutz gegen Unannehmlichkeiten aller Art ist es, wenn die Leute der Umgebung einen, wie oberflächlich auch immer, in den Kosmos ihres Alltags aufgenommen haben.
Trotzdem könnte ich ein Büchlein mit Katastrophen füllen, die auch meine nette Nachbarschaft in Frage stellen und mir den Blick auf den ignorierten Untergrund all des netten Zusammenlebens öffnen könnten. Dreimal wurden zum Beispiel vor einigen Jahren die Reifen meines Autos aufgeschlitzt. Es war ein billiger russischer Lada und ich grübelte lange darüber nach, ob hier ein Russenfeind oder ein persönlicher tätig war. Die Verunsicherung des Lebensgefühls war über Wochen, ja Monate beträchtlich. Man ging zum Auto, in Sichtweite von der Wohnung geparkt, fürchtete das neue Attentat auf seine Funktionsfähigkeit und erging sich in paranoiden Phantasien gegen bestimmte Personen in der Strasse.
Das friedliche Lebensgefühl, die Alltagserwartung gerieten für eine Zeit gründlich durcheinander. Wirklich schlimm wird es dann, wenn in einer engen Nachbarschaft, womöglich sogar im Mietshaus, Konflikte auftreten, die einem das freundliche Nebeneinander dann vollends als hohle Fassade erscheinen lassen. Dürfen Fahrräder und Kinderwagen im Hausflur geparkt, Grünpflanzen im Treppenhaus ausgesetzt werden oder hat mein Hund sich beim Ausflug über den Hinterhof nicht anständig betragen? Da brechen plötzlich mit elementarer Gewalt Leidenschaften und Konflikte aus, von denen man keine Ahnung hatte. Die mir verschlossenen Geheimnisse der Elektrizität kehren im feinstofflichen Austausch von Menschen plötzlich wieder, die sich auf Rechte und Pflichten berufen, solche, die sie haben und andere versäumen. In meinem Fall hat der Blick auf das Wirrwarr der Strippen unter Putz dazu geführt, dass die Grußbeziehung zu einer Familie nach Jahren gekündigt wurde - von den Erörterungen, die ich mit anderen einfühlsamen Nachbarn wegen des Hinterhofs und meines Hundes geführt habe, ganz abgesehen! Im Gespräch wurden große Theorien entwickelt. Warum es so ist, wie es ist. Mir ist es nach all den Aufregungen eine Lehre über die Fragilität unserer zivilen Gesellschaft, die sich in der Illusion wiegt, ihre Energien unter Kontrolle zu haben.
Die brennenden Autos, Teppichmärkte, Kindergärten und Schulen in den französischen Trabantenstädten wurden zahllos und klug kommentiert. Was ich bei allen aber vermisst habe, ist die Einsicht, dass unterm Pflaster eben nicht der Strand liegt, sondern das Chaos menschlicher Leidenschaften, irrer Obsessionen und Dummheiten. Die einen zünden Autos an - wir entwickeln allzu gern Theorien, die nur eins im Sinn haben: Das Feuer des Lebens für unseren Alltag von Sicherheit und Ordnung kompatibel zu machen.
Katharina Rutschky, geboren 1941 in Berlin, veröffentlichte zahlreiche Bücher und arbeitet für Presse und Rundfunk. Sie wurde 1999 mit dem Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste ausgezeichnet. Zuletzt erschienen ihre Bücher 'Emma und ihre Schwestern. Ausflüge in den real existierenden Feminismus' sowie 'Der Stadthund. Von Menschen an der Leine'.