Unter Psychiatern und Psychopathen

28.03.2012
Verrückte sind mitten unter uns: Firmenbosse, Bankiers, Hotelpagen. Sogar unter den eigenen Freunden. Wer Jon Ronsons packender Recherche durch die Psychiatrie folgt, der wird selber ein wenig paranoid. Seite für Seite verwischen die Grenzen zwischen Wahnsinn und Vernunft.
Um es gleich vorneweg zu sagen: Dieses Buch ist fulminant! In Stil, Sprache und Inhalt. Der englische Journalist ist der "Meister des kontraintuitiven investigativen Journalismus" - wie es "Die Zeit" einmal schrieb. Diesmal nimmt Jon Ronson seine Leser mit auf eine rasante Reise in die Welt der Psychiatrie. Er erklärt Diagnoseverfahren, besucht führende Ärzte und Wissenschaftler, lernt Patienten kennen und solche, die eigentlich Patienten sein sollten, es aber nicht sind.

Ronsons ungewöhnliche Recherche führt ihn zunächst in die Fakultät für Psychologie des London University College, in einen Workshop für Psychiater in den USA und schließlich nach Boardmoor, ein englisches Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher. Er scheut nichts und niemanden. Und so kommt unter anderen in Kontakt mit "Der Kommission für Verstöße gegen Menschenrechte"; Scientologen, die fest entschlossen sind zu beweisen, "dass Psychiater böse sind und gestoppt werden müssen". Und er lernt Tony kennen. Tony wurde mit 17 Jahren wegen schwerer Körperverletzung verhaftet und endete schließlich als diagnostizierter Psychopath in Boardmoor. Als Ronson Tony trifft, kämpft dieser bereits seit zwölf Jahren um seine Rehabilitation.

Seite für Seite verwischen sich so in diesem großartigen Buch die Grenzen zwischen Wahnsinn und Vernunft: denn auf der Suche nach der Antwort, wer ein Psychopath ist und wer nicht, taucht Ronson immer tiefer in die mitunter verschrobene Welt der Psychiatrie ein. Als er dann noch das "Lehrbuch der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft" und die international anerkannte "PCL-R-Checkliste" für Psychopathen von Bob Hare studiert, den sogenannten Psychopathentest, fühlt er sich selbst immer mehr von Psychopathen umzingelt. Er wittert sie mitten unter uns. Sie sind Firmenbosse, Bankiers und Hotelpagen. Und das Schlimmste: Man merkt anfangs nichts von ihrer Bösartigkeit. Wie die anschaulichen Beschreibungen einige ihrer grässlichsten Vertreter deutlich machen: Emmanuel "Toto" Constant, Führer der rechtsextremen paramilitärischen FRAPH, die in Haiti wütete genauso wie dem Manager Al Dunlap, dem es ein riesiges Vergnügen bereitet, Menschen zu feuern.

Doch Ronson wäre nicht so großartig, würde er seine eigene immer massiver werdende Paranoia nicht irgendwann zum Ausgangspunkt für weitere Recherchen machen. Spätestens als er beginnt, seinen Freundeskreis abzuscannen, hinterfragt er die Kriterien der Wissenschaftler. Ist tatsächlich jeder ein Psychopath, auf den mehrere Punkte der wissenschaftlichen Checklisten zutreffen? Zumal die Ärzte, oft selbst falsch liegen mit ihren Urteilen.

Je tiefer Jon Ronson eintaucht in die Materie der Psychiatrie, umso kritischer berichtet er: wenn es etwa um die zunehmenden psychiatrischen Diagnose bei Kindern geht, wenn bipolare Störungen, ADS und ADHS von Jahr zu Jahr rasant mehr werden, dann beschleicht ihn langsam aber sicher Unbehagen über diese zunehmende Macht der "Wahnsinnsindustrie", wie er sie nennt, und ihrer Methoden. Und so schließt diese rasante Reise mit der verwirrenden Erkenntnis, dass unsere Welt zwar voll ist mit vielen psychisch Kranken, aber dass auch viele Menschen zu Unrecht mit diesem Etikett versehen sind. Einfach weil sie "in den Köpfen der Leute, die davon profitieren, auf nichts anderes mehr reduziert werden, als auf ihre mögliche Krankheit".

Besprochen von Kim Kindermann

Jon Ronson: "Die Psychopathen sind unter uns - Eine Reise zu den Schaltstellen der Macht"
Aus dem Englischen von Martin Jaeggi
Tropen Verlag, Berlin 2012
269 Seiten, 19,95 EUR
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