Unter Nilpferden
Es ist das Jahr 1913. Henry Peters begleitet den Architekten Gustav Selwin als Assistent nach Afrika. Sie haben den Auftrag, die kleine Festung Benēsi in der deutschen Kolonie Tola zu einem Handelsposten auszubauen. Kurz vor ihrem Ziel erleiden sie Schiffbruch.
Der Architekt ertrinkt, doch Henry kann sich an Land retten. Der junge Mann nutzt die Gelegenheit, um sich von seinem alten Leben zu verabschieden: Als Gustav Selwin stellt er sich vor, als er in zerlumpten Kleidern in Benēsi eintrifft: "Zu Ihren Diensten."
Thomas von Steinaeckers Roman "Schutzgebiet" erzählt uns diese Geschichte aus einer fikitiven deutschen Kolonie in Afrika.
Thomas von Steinaecker hat für seinen neuen Roman "Schutzgebiet" eine ungewöhnliche Kulisse gewählt. Die deutsche Gegenwartsliteratur entdeckt die koloniale Vergangenheit nur zögerlich, und neben Uwe Timms "Morenga" (1978) oder Gerhard Seyfrieds "Herero" (2003) gibt es nur wenige ernstzunehmende Titel zu diesem Thema. Wenn sich Thomas von Steinaecker jetzt auf Expedition in das fiktive Tola begibt, geht es ihm allerdings nicht so sehr um die politisch korrekte Rekonstruktion einer verdrängten Episode der deutschen Geschichte. Der 1977 geborene Schriftsteller hat sich bereits in "Wallner lernt fliegen" (2007) und "Geister" (2008) mit dem Hang des Menschen zur Flucht aus der Wirklichkeit beschäftigt, und auch in "Schutzgebiet" widmet er sich in erster Linie den Träumen, Hoffnungen und Hirngespinsten seiner Protagonisten.
Tola, das ist ein Schutzgebiet für verlorene Seelen und verkrachte Existenzen. Der Forstunternehmer Gerber hat sich in den Kopf gesetzt, die Steppe mit deutschem Mischwald aufzuforsten, der drogensüchtige Arzt Brückner experimentiert mit Morphium und Brom, und der preußische Offizier Schirach, der seit Jahren auf einen Besuch des Kaisers hofft, brüllt seine aus Eingeborenen rekrutierte Armee grundsätzlich auf Deutsch an. Henry fügt sich in diese skurrile Runde bestens ein. Der selbst ernannte Architekt entwirft immer kühnere Pläne für eine kreisförmige Modellstadt – obwohl die Kolonialgesellschaft den Posten offenbar längst aufgegeben hat und es nicht einmal Siedler in Benēsi gibt.
Der grassierende Realitätsverlust funktioniert als Leitmotiv und wird darüber hinaus auf sprachlicher Ebene zum ironischen Gestaltungsmerkmal. Von Steinaecker bemüht sich gar nicht erst um ein wirklichkeitsgetreues Bild der afrikanischen Landschaft, sondern setzt die entsprechenden Passagen liebevoll aus sprachlichen Klischees der Abenteuerromane der Jahrhundertwende zusammen: Ein Nilpferd "lässt sich träge im Schlamm eines Flusses nieder", während sich die "mächtigen Wipfel" der angepflanzten Tannen "im fahlen Licht" der afrikanischen Dämmerung wiegen.
Und auch das Ende dieses klugen und zugleich angenehm verspielten Romans stammt aus einem anderen Buch. Als die Nachricht vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit einer Verzögerung von mehreren Wochen nach Tola dringt, sind die Truppen der benachbarten Kolonialmächte bereits in Marsch gesetzt. Henry Peters verliert sich im Schlachtgetümmel wie einst Hans Castorp auf den letzten Seiten von Thomas Manns "Zauberberg": Auch in Afrika ist man vor der Wirklichkeit nicht sicher.
Besprochen von Kolja Mensing
Thomas von Steinaecker: Schutzgebiet
Roman
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2009
380 Seiten, 19,90 Euro
Thomas von Steinaeckers Roman "Schutzgebiet" erzählt uns diese Geschichte aus einer fikitiven deutschen Kolonie in Afrika.
Thomas von Steinaecker hat für seinen neuen Roman "Schutzgebiet" eine ungewöhnliche Kulisse gewählt. Die deutsche Gegenwartsliteratur entdeckt die koloniale Vergangenheit nur zögerlich, und neben Uwe Timms "Morenga" (1978) oder Gerhard Seyfrieds "Herero" (2003) gibt es nur wenige ernstzunehmende Titel zu diesem Thema. Wenn sich Thomas von Steinaecker jetzt auf Expedition in das fiktive Tola begibt, geht es ihm allerdings nicht so sehr um die politisch korrekte Rekonstruktion einer verdrängten Episode der deutschen Geschichte. Der 1977 geborene Schriftsteller hat sich bereits in "Wallner lernt fliegen" (2007) und "Geister" (2008) mit dem Hang des Menschen zur Flucht aus der Wirklichkeit beschäftigt, und auch in "Schutzgebiet" widmet er sich in erster Linie den Träumen, Hoffnungen und Hirngespinsten seiner Protagonisten.
Tola, das ist ein Schutzgebiet für verlorene Seelen und verkrachte Existenzen. Der Forstunternehmer Gerber hat sich in den Kopf gesetzt, die Steppe mit deutschem Mischwald aufzuforsten, der drogensüchtige Arzt Brückner experimentiert mit Morphium und Brom, und der preußische Offizier Schirach, der seit Jahren auf einen Besuch des Kaisers hofft, brüllt seine aus Eingeborenen rekrutierte Armee grundsätzlich auf Deutsch an. Henry fügt sich in diese skurrile Runde bestens ein. Der selbst ernannte Architekt entwirft immer kühnere Pläne für eine kreisförmige Modellstadt – obwohl die Kolonialgesellschaft den Posten offenbar längst aufgegeben hat und es nicht einmal Siedler in Benēsi gibt.
Der grassierende Realitätsverlust funktioniert als Leitmotiv und wird darüber hinaus auf sprachlicher Ebene zum ironischen Gestaltungsmerkmal. Von Steinaecker bemüht sich gar nicht erst um ein wirklichkeitsgetreues Bild der afrikanischen Landschaft, sondern setzt die entsprechenden Passagen liebevoll aus sprachlichen Klischees der Abenteuerromane der Jahrhundertwende zusammen: Ein Nilpferd "lässt sich träge im Schlamm eines Flusses nieder", während sich die "mächtigen Wipfel" der angepflanzten Tannen "im fahlen Licht" der afrikanischen Dämmerung wiegen.
Und auch das Ende dieses klugen und zugleich angenehm verspielten Romans stammt aus einem anderen Buch. Als die Nachricht vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit einer Verzögerung von mehreren Wochen nach Tola dringt, sind die Truppen der benachbarten Kolonialmächte bereits in Marsch gesetzt. Henry Peters verliert sich im Schlachtgetümmel wie einst Hans Castorp auf den letzten Seiten von Thomas Manns "Zauberberg": Auch in Afrika ist man vor der Wirklichkeit nicht sicher.
Besprochen von Kolja Mensing
Thomas von Steinaecker: Schutzgebiet
Roman
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2009
380 Seiten, 19,90 Euro