Unter Männern

18.11.2010
Die neuen Bundesländer gelten nicht wenigen als No-go-Area voller Hässlichkeit, Hartz-IV-Empfängern und Nazis. Auch der Berliner Journalist Moritz von Uslar, bevor er sich für drei Monate nach Brandenburg aufmacht, hat Angst und nennt sein Buch im Untertitel "Eine teilnehmende Beobachtung".
Mit dieser Formel brechen Ethnologen zu den Wilden auf. In "Oberhavel" – ein Pseudonym für die eine Stunde von der Hauptstadt entfernte Kleinstadt Zehdenick – wird von Uslar allerdings nicht in den Kochtopf geworfen. Die Einheimischen erkennen in ihm zwar sofort den Fremden, was den Hut-Träger inmitten der Kappenträger erstaunt, aber niemand behelligt ihn. Lang und breit beschäftigt sich von Uslar, so stellt er sich die ethnologische Reflexion offenbar vor, mit der Frage, wie er möglichst unauffällig alles um sich herum wahrnehmen könne. Außerdem nennt er sich oft "der Reporter" und geht zum Boxtraining mit Einheimischen ins Sportstudio. Ein Journalistenklischee goes East, zu den Ostklischees.

Wenn von Uslar mal von sich selbst absieht, beschreibt er präzis die Häuser, die neun Nagelstudios, die Asia-Bistros, das männliche Trinkverhalten in Kneipen, die T-Shirt-Sprüche ("Ich bin dick und du bist hässlich"), die seltsamen Kombinationen von Gewerben (Videoverleih und Grillfleischverkauf), die mit lauter Musik die immergleichen Straßen abfahrenden Autos der "Stadtrundenfahrer".

Die phänomenologische Annäherung mit Hilfe von vielen, vornehmlich lustigen Listen von Sprüchen, Spitznamen, Begrüßungen endet allerdings bald. Von Uslar lernt in einer dicht und spannend beschriebenen Kneipennacht Raoul kennen. Mit ihm und dessen Freunden Eric, Rampa und Crooner, alle um die 30 und Mitglieder der Punkband "5 Teeth Less", verbringt er fortan seine Zeit. Das kleinbürgerliche Oberhavel, das ihm Blocky zeigt, die zweite Bekanntschaft jener Nacht, interessiert ihn weniger.

Von Uslar, 1970 geboren, ist popsozialisiert, und aus seiner Langzeitbeobachtung der Kleinstadt im Osten wird eine Schilderung der Ost-Jugendkultur. Es ist jammerschade, dass sich von Uslar auf das vertraute Gelände der Popkultur konzentriert. Ob die Codes des Ska oder des Punk im Osten womöglich anders gelesen werden, fragt er sich nicht. Er verliert die Angst und mit ihr die Schärfe des verunsicherten Beobachters. "Deutschboden" wird zum Lob der Freundschaft mit Männern, die der Langeweile und Perspektivlosigkeit Witz und Mut entgegensetzen. Mit Männern, die in der Jugend Skins sein mussten, wenn sie ihres Lebens sicher sein wollten, und die nun Punks sind, Geld von "Onkel Hartz dem Vierten" beziehen und FDP wählen.

Dann tauchen jüngere, meist angestellte Freunde der Punks auf, die von Uslar "ganz anders" findet. Das beflügelt ihn offenbar: Das lange Kapitel über die lange Nacht der jungen Männer und zwei, drei Frauen an der Aral-Tankstelle ist der Höhepunkt des Buches. Beinahe nichts geschieht in dieser Nacht – dies aber in einer wunderbar rhythmisierten Sprache. Die verstreichende Zeit wird sich selbst zum Ereignis: Ungefähr so beschreibt von Uslar mehrmals sein der Popmusik entlehntes Ideal. Solche vor Intensität berstenden Augenblicke, in denen die Frage nach Sinn suspendiert ist, zeichnete schon das Kapitel über die Kneipennacht aus. Moritz von Uslar ist als Reporter aufgebrochen, möchte aber offenbar am liebsten Poperzähler sein. "Deutschboden" hat von beidem etwas. Ein Wechselbalg.


Besprochen von Jörg Plath

Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
380 Seiten, 19,95 Euro