Unter falscher Identität

28.10.2009
In einem verlassenen Cottage unweit von Dublin wird eine Tote gefunden – sie ist der jungen Ermittlerin Cassie Maddox wie aus dem Gesicht geschnitten. Und es kommt noch schlimmer: Die Tote trägt den Namen Alexandra Madison. Das ist der Deckname, den Cassie in ihrer zurückliegenden Zeit als Undercover-Agentin benutzt hat.
Aus diesem unheimlichen Anfang entwickelt sich ein raffiniert erzählter, atemberaubend spannender Roman, der die Leser mühelos fast 800 Seiten lang in Bann hält. Die Polizei erklärt den Freunden der jungen Toten, mit denen sie zusammengelebt hat und in deren Kreis der Mörder vermutet wird, Alexandra habe den Mordanschlag überlebt – und Cassie zieht, perfekt verdrahtet und von ihren Kollegen überwacht, als angeblich wiederhergestellte Lexie undercover in die Wohngemeinschaft: in ein wunderschönes altes, wenn auch etwas baufälliges Haus auf dem Land.
Eine Anhäufung von Unwahrscheinlichkeiten also – aber das vergisst man binnen kurzem. Die Spannung resultiert zunächst aus Cassies Versuchen, als Lexie zu überzeugen. In einer weiteren Spiraldrehung wird die Spannung in die Psyche der Heldin verlagert. Cassie beginnt, unaufhaltsam in eine andere Existenz zu gleiten (die ja ihrerseits eine falsche war!). Sie gibt sich beinahe der Illusion hin, dass dieses ihr Leben sein könnte, wechselt ganz unmerklich immer wieder die Seiten: Denn sie vergisst zuweilen, dass sie einen Mörder überführen muss.

In epischer Breite entfaltet der Roman die Beziehung zwischen den vier jungen Leuten, die sich ihre ganz eigene Welt geschaffen haben. Cassie gehört dazu – und auch wieder nicht. Cassies Charakter wird bis in die feinsten Nuancen entfaltet. Der Roman ist aus ihrer Perspektive in der Ich-Form erzählt. Deshalb können wir nie mehr wissen als sie, aber manchmal ahnen wir, dass hier etwas aus dem Ruder läuft und Cassie sich das nicht eingesteht.

"Totengleich" ist ein Kriminalroman, in dem ein Verbrechen aufgeklärt werden muss, aber er ist viel mehr als das: Ein Roman über Identität und ihre Gefährdungen, über die (Un-)Möglichkeit, andere Menschen zu kennen, und seien sie noch so nah und vertraut; über tief verwurzelte Sehnsüchte und die (Un-)Möglichkeit des Glücks. Tana Frenchs zentrale Themen sind, wie schon in "Grabesgrün", Wahrheit und Lüge. Daraus macht sie eine lebendige, stellenweise poetische und außerordentlich spannende Geschichte, deren Explosivkraft nicht in äußerem, sondern in innerem Geschehen liegt. Tana French kann Atmosphären schaffen, Ängste und Hoffnungen lebendig werden lassen. Und sie kann Bilder von poetischer Eindringlichkeit schreiben. Dieses Buch ist ein Glücksfall.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Tana French: Totengleich
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Scherz, Frankfurt 2009
780 Seiten, 16,95 Euro