Unter die Oberfläche sehen
Die Fotografin Herlinde Koelbl hält einen kühlen Blick unabdingbar für ihre Kunst. Eine Entemotionalisierung sei gerade bei der Umsetzung längerer Fotoprojekte wichtig, sagte sie anlässlich ihrer ersten großen Werkschau "Herlinde Koelbl. Fotografien 1976–2009" in Berlin.
Susanne Führer: Heute gibt’s den Presserundgang, aber ab morgen ist die Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau für alle geöffnet: "Herlinde Koelbl. Fotografien 1976–2009", so heißt die Ausstellung. Über 450 Werke aus drei Jahrzehnten sind zu sehen, neben den Reportagefotos auch Portraits und Filme, also die erste große Werkschau der großen Fotografin. Ich freue mich sehr, dass Sie hier sind, Frau Koelbl!
Herlinde Koelbl: Einen schönen guten Tag!
Führer: Mit welchen Gefühlen haben Sie diese Werkschau eigentlich zusammengestellt? Mit Stolz oder vielleicht auch ein bisschen Wehmut, wenn Sie so weit zurückgeblickt haben?
Koelbl: Ist natürlich ein besonderes Gefühl, wenn man so zurückblickt. Ich schaue grundsätzlich eigentlich immer mehr gerne voraus als zurück, weil die Vergangenheit ist Vergangenheit, Zukunft kann ich noch gestalten. Und deshalb war das für mich eine Herausforderung, zurückblicken in das, was ich getan habe. Ich hab natürlich erst mal so mich durch mein Archiv gewälzt fast, kann man sagen, weil’s ja doch relativ viel ist, und erst mal so’n Berg ausgesucht und mir auch überlegt, welche Schwerpunkte gibt’s eigentlich in meinem Werk, was für Themen sind eigentlich immer wieder und immer wieder da. Also zum Beispiel Mode existiert bei mir nicht oder Stillleben oder Landschaften ganz wenige, solche Dinge. Und es sind halt die Menschen. Aber nach der ersten großen Auswahl ist es so, dann beginnt der Prozess des Reduzierens. Dann lass ich’s wieder ein bisschen liegen, wieder reduziert, liegen lassen, wieder reduziert. Und so ging das über Monate. Ich habe versucht, sehr streng mit mir zu sein, um mich nicht an Bilder, die ich liebe, zu klammern – was nicht einfach ist.
Führer: Die ältesten der ausgestellten Arbeiten stammen ja aus der Mitte der 70er-Jahre. Wie sehen Sie eigentlich heute diese alten Arbeiten im Vergleich zu heute? Ist da so eine, wie soll man sagen, eine Fortentwicklung im Sinne von Fortschritt zu sehen oder haben Sie den Eindruck, es sind doch eigentlich immer Facetten von Herlinde Koelbl?
Koelbl: Es sind Facetten der Menschen, würde ich sagen, eigentlich der Menschen, was den Menschen umtreibt auch. Es ist natürlich so, wenn ich die ersten Sache sehe, so wie das deutsche Wohnzimmer, dann sehe ich natürlich schon ein Grundmuster. Viele Dinge, die ich später begonnen habe, sind in einzelnen Fotografien schon aufgetaucht, habe ich auch festgestellt. Und natürlich ist es so, dass in dieser Ausstellung auch ganz bewusst Vergangenheit da ist, also der Rückblick, dann gibt’s ne Gegenwart, also Dinge, die noch nie jemand gesehen hat, völlig neue Sachen, und dann gibt’s einen kleinen Ausblick auch in die Zukunft von einem neuen Werk, an dem ich arbeite, was ich sonst normal nicht mache. Also es ist eine Mischung. Auf keinen Fall wollte ich nur zurückblicken.
Führer: Sie sind ja einem, ja, was soll man sagen, ganz breitem Publikum bekannt geworden mit Ihrer Serie "Spuren der Macht", da haben Sie über Jahre hinweg Politiker fotografiert – die prominentesten: Angela Merkel, Gerhard Schröder, Joschka Fischer – und interviewt. Also unter diesen Fotos gibt es auch immer noch so einen Text, eine Selbstaussage. Ist diese Arbeit eigentlich auch für Sie herausragend aus Ihrem Werk?
Koelbl: Sie ist herausragend, weil ich natürlich sehr viel über Machtstrukturen gelernt habe. Und ich denke auch, das ist, glaube ich, auch eine Eigenart meiner Art zu arbeiten, dass ich mir jedes Mal überlege, was bedingt ein Thema – Text oder nur Fotos oder sogar Film dazu oder Videoinstallation? – also immer ganz individuell. Das mit den "Spuren der Macht" ist sicherlich, bin ich am bekanntesten geworden. Für mich am wichtigsten waren aber zum Beispiel die "Jüdischen Portraits.
Führer: Obwohl, eine Ihrer Eigenarten zu arbeiten, merkt man ja an beiden - "Spuren der Macht", auch "Jüdische Portraits" hat ein paar Jahre in Anspruch genommen, wenn auch nicht ganz so lange - immer die Zeit, die Sie sich nehmen. Ich finde das sehr interessant, wie Sie jetzt gerade erzählt haben, wie Sie monatelang auch diese Werkschau zusammengestellt haben. Also dieser lange Atem, den nehmen Sie sich einfach?
Koelbl: Ich denke, der gehört dazu, und zwar einfach dazu – also erst mal muss man von einem Thema begeistert sein, also man muss mit der Leidenschaft dabei sein, das ist etwas Elementares, das Wichtigste. Dann kommt die Disziplin dazu, weil man sonst das nicht durchhalten würde. Und der wichtigste Teil ist ja aber bei so langen Projekten, man geht sehr, sehr in die Tiefe eines Themas, und dann kommt, wie Elias Canetti einmal sagte, der notwendige kühle, kalte Blick, der unabdingbar ist für die Kunst. Das heißt also, man hat dann selbst Abstand zu seinen eigenen Arbeiten, und man sieht sozusagen sich selber wieder distanziert und nicht mehr so emotionalisiert. Wenn man dann Begegnungen hatte, klar, lebt das noch weiter. Also dieser Abstand, dass man dann immer wieder reduzieren kann und neutral wieder auf seine eigenen Arbeiten guckt, auch bei so langen Themen auch aussortiert und analysiert, ich denke, das ist wichtig und das gehört zu so einem Prozess. Deshalb liebe ich diesen Prozess auch.
Führer: Morgen beginnt eine Werkschau der Werke Herlinde Koelbls in Berlin. Die Fotografin ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Frau Koelbl, ein weiteres Charakteristikum Ihrer Arbeit, ob jetzt in "Spuren der Macht" oder "Jüdische Portraits", sind, glaube ich, tatsächlich eben die Portraits, also dass fast immer der Mensch bei Ihnen im Mittelpunkt steht. Wie nähern Sie sich den Menschen?
Koelbl: Erst mal mit großer Neugierde natürlich, aber auch mit einer großen Offenheit, und ich glaube, etwas Wesentliches, sich auch einlassen. Das Zweite ist auch, Menschen anzunehmen in ihrem Sein, so wie sie sind, und nicht sie sozusagen zu beurteilen, sondern im wirklichen Sinne sie anzunehmen und versuchen, natürlich auch eine Nähe zu haben und auch beim Portraitieren absolut das eigene Ego zu vergessen, sondern dem anderen zugewandt sein wirklich in vollstem Sinne.
Führer: Und Sie beobachten die Menschen, die Sie portraitieren, bisweilen sehr lange, oder? Also jetzt nicht nur, dass Sie sie jetzt wie bei den "Spuren der Macht" einmal im Jahr immer wiedersehen, sondern die einzelne Fotosession dauert offenbar länger, oder? Wie kommen sonst manchmal diese sehr überraschenden Portraits - von Horst Köhler zum Beispiel - zustande, wenn Sie sich nicht die Zeit nähmen?
Koelbl: Der Termin war gar nicht so lange, weil ein Bundespräsident hat nicht so viel Zeit. Aber ich habe versucht, das sehr gut zu organisieren und mir die Plätze auszusuchen, wo ich ihn fotografieren möchte. Und ich denke, wir haben ’ne ganz gute Verbindung aufgebaut. Und dann hatte ich ihm einmal gesagt, dass ich ihn jetzt fotografiere und dass ich auch ein bisschen näher komme und hatte einen Ausschnitt seines Gesichtes gewählt und ihn nur gebeten, mich anzusehen, und ich vergesse diesen Augenblick auch nicht, weil ich plötzlich ein anderes Gesicht gesehen habe oder andere Augen, die mich anblickten, als die, die man so geläufig kennt. Und es war ein ganz spezieller Moment. Manche Dinge vergisst man schnell und manche Dinge vergisst man nie. Und das ist so ein Moment gewesen, wo ich ein anderes Gesicht gesehen hat als das, was man so gemeinhin im Fernsehen kennt von ihm.
Führer: Ich kann das bestätigen, man erkennt ihn nicht, das ist sehr faszinierend, obwohl nur ein bisschen vom Kinn und von der Stirn fehlt. Ich hab’s hier mehreren Kollegen gezeigt, keiner hat ihn erkannt, weil er so ganz anders guckt. Er wirkt ja sonst so ein bisschen immer wie der freundliche Nachbar von nebenan, der grüßt, und da guckt er so ein bisschen traurig, entschlossen …
Koelbl: Entschlossen würde ich sagen, nicht traurig. Es ist auch ein entschlossenes Gesicht, das sind entschlossene Augen, und man sieht auch eine gewisse Kraft oder Energie in den Augen, die sicherlich auch notwendig sind – neben dem Lächelnden –, um so in eine Position zu kommen.
Führer: Eines, also viele wunderbare, aber ein wunderbares Portrait in diesem Katalog, den es zur Ausstellung gibt, ist das von der französischen Bildhauerin Louise Bourgeois, die, glaube ich, zum Zeitpunkt des Fotos – ich hatte nachgerechnet – 90 Jahre alt war. Und das ist, was relativ selten bei Ihnen ist, in Farbe und das sprüht auch vor Farben. Wie entscheiden Sie, ob sie Schwarz-Weiß oder Farbe fotografieren?
Koelbl: Bei jedem Thema überlege ich mir, was bedingt das Thema: Farbe, Schwarz-Weiß, neutraler Hintergrund, Studio oder Outdoor-Fotografie? Also das ist immer eine Entscheidung. In dem Falle war es eine klare Entscheidung für Farbe, weil ich sie ursprünglich auch für das Projekt "Schlafzimmer in den Metropolen der Welt" fotografiert hatte. Und dann habe ich – und das ist wirklich ’ne toughe Frau, das muss ich wirklich sagen, das sind auch so Begegnungen, die man nicht vergisst – nicht viel Zeit, und sie weiß sehr genau, was sie will, und ich wurde zuerst richtig examiniert von ihr, weil ihr Assistent zuerst gesagt hat, obwohl ich einen Termin hatte: Nein, nein, heute geht das nicht. Und da musste ich mich hinsetzen, und sie fragte: Why do you want to photograph me?" Und ich hatte natürlich mich eingehendst mit ihrer Arbeit schon lange vorher befasst. Also irgendwann mal fand sie meine Antworten scheinbar gut genug, und da habe ich ihr noch zwei Bücher gesagt, damit sie sieht, wie ich arbeite und was sie erwarten würde. Und dann hat sie zu Jerry gesagt: Show her the room! Und dann sagt er: But only one roll. Also wir haben dann ganz, ganz schnell Licht aufgestellt …
Führer: Eine Filmrolle?
Koelbl: Ja. Wir haben dann fotografiert, und bevor ich loslegte, hatte sie noch schnell aus ihrer Cola-Dose getrunken, und wie ich dann fertig war, wie ich diese Rolle fertig hatte, habe ich sie gebeten, das hätte so wunderbar ausgesehen, ob ich sie noch mal damit fotografieren würde, ob sie noch mal trinken würde. Das hat sie dann auch noch mal gemacht …
Führer: Ja, sie trinkt aus einem Strohhalm aus dieser knallroten Cola-Dose mit einem knallblauen Kleid an.
Koelbl: Und wiederum hat sie gesagt: Nur ein paar Bilder! Und ich wusste auch, wenn sie das sagt, dann meint sie das auch. Und somit sind ein paar Bilder entstanden, aber ein paar wirklich wunderbare Bilder entstanden.
Führer: Ja, stimmt. Frau Koelbl, Sie haben sich ja jahrzehntelang den Menschen genähert, aber jetzt in jüngster Zeit werden Sie plötzlich abstrakt, also Spuren, Muster, Risse im All, Asphalt gibt es so am Ende der Ausstellung hin zu sehen. Ist das jetzt eine neue Richtung, die Sie einschlagen?
Koelbl: Ich arbeite immer parallel. Also das ist etwas Neues, weil ich anders gefordert werde. Ich muss zum Beispiel in dem Moment, wo ich auf den Asphalt schaue, wo niemand eigentlich was sieht, sehe ich aber etwas, aber man muss anders komponieren. Es ist ein anderes Sehen, als wenn ich einen Menschen fotografiere. Aber das sind Werke, die mir sehr wichtig sind, diese neue Arbeiten, also abstrakt. Andererseits arbeite ich aber bereits an einem neuen Thema, wo es wiederum um Menschen geht. Also dieses Verschiedenartig-zu-Arbeiten, mir neue Wege zu erschließen, neue Türen aufzumachen, mich immer wieder zu fordern, das ist das, was ich glaube, was mir ganz, ganz wichtig ist, um diese Freude und dieses Glück an der Fotografie zu erhalten.
Führer: Herlinde Koelbl. Morgen eröffnet die Werkschau mit dem Titel "Herlinde Koelbl. Fotografien 1976–2009" in Berlin im Martin-Gropius-Bau. Das ist noch zu sehen dann bis zum 1. November. Und mehr zu der Ausstellung gibt’s auch heute Abend in unserer Sendung "Fazit" nach 23 Uhr. Ganz herzlichen Dank, dass Sie hier waren, Frau Koelbl!
Koelbl: Ich danke Ihnen!
Herlinde Koelbl: Einen schönen guten Tag!
Führer: Mit welchen Gefühlen haben Sie diese Werkschau eigentlich zusammengestellt? Mit Stolz oder vielleicht auch ein bisschen Wehmut, wenn Sie so weit zurückgeblickt haben?
Koelbl: Ist natürlich ein besonderes Gefühl, wenn man so zurückblickt. Ich schaue grundsätzlich eigentlich immer mehr gerne voraus als zurück, weil die Vergangenheit ist Vergangenheit, Zukunft kann ich noch gestalten. Und deshalb war das für mich eine Herausforderung, zurückblicken in das, was ich getan habe. Ich hab natürlich erst mal so mich durch mein Archiv gewälzt fast, kann man sagen, weil’s ja doch relativ viel ist, und erst mal so’n Berg ausgesucht und mir auch überlegt, welche Schwerpunkte gibt’s eigentlich in meinem Werk, was für Themen sind eigentlich immer wieder und immer wieder da. Also zum Beispiel Mode existiert bei mir nicht oder Stillleben oder Landschaften ganz wenige, solche Dinge. Und es sind halt die Menschen. Aber nach der ersten großen Auswahl ist es so, dann beginnt der Prozess des Reduzierens. Dann lass ich’s wieder ein bisschen liegen, wieder reduziert, liegen lassen, wieder reduziert. Und so ging das über Monate. Ich habe versucht, sehr streng mit mir zu sein, um mich nicht an Bilder, die ich liebe, zu klammern – was nicht einfach ist.
Führer: Die ältesten der ausgestellten Arbeiten stammen ja aus der Mitte der 70er-Jahre. Wie sehen Sie eigentlich heute diese alten Arbeiten im Vergleich zu heute? Ist da so eine, wie soll man sagen, eine Fortentwicklung im Sinne von Fortschritt zu sehen oder haben Sie den Eindruck, es sind doch eigentlich immer Facetten von Herlinde Koelbl?
Koelbl: Es sind Facetten der Menschen, würde ich sagen, eigentlich der Menschen, was den Menschen umtreibt auch. Es ist natürlich so, wenn ich die ersten Sache sehe, so wie das deutsche Wohnzimmer, dann sehe ich natürlich schon ein Grundmuster. Viele Dinge, die ich später begonnen habe, sind in einzelnen Fotografien schon aufgetaucht, habe ich auch festgestellt. Und natürlich ist es so, dass in dieser Ausstellung auch ganz bewusst Vergangenheit da ist, also der Rückblick, dann gibt’s ne Gegenwart, also Dinge, die noch nie jemand gesehen hat, völlig neue Sachen, und dann gibt’s einen kleinen Ausblick auch in die Zukunft von einem neuen Werk, an dem ich arbeite, was ich sonst normal nicht mache. Also es ist eine Mischung. Auf keinen Fall wollte ich nur zurückblicken.
Führer: Sie sind ja einem, ja, was soll man sagen, ganz breitem Publikum bekannt geworden mit Ihrer Serie "Spuren der Macht", da haben Sie über Jahre hinweg Politiker fotografiert – die prominentesten: Angela Merkel, Gerhard Schröder, Joschka Fischer – und interviewt. Also unter diesen Fotos gibt es auch immer noch so einen Text, eine Selbstaussage. Ist diese Arbeit eigentlich auch für Sie herausragend aus Ihrem Werk?
Koelbl: Sie ist herausragend, weil ich natürlich sehr viel über Machtstrukturen gelernt habe. Und ich denke auch, das ist, glaube ich, auch eine Eigenart meiner Art zu arbeiten, dass ich mir jedes Mal überlege, was bedingt ein Thema – Text oder nur Fotos oder sogar Film dazu oder Videoinstallation? – also immer ganz individuell. Das mit den "Spuren der Macht" ist sicherlich, bin ich am bekanntesten geworden. Für mich am wichtigsten waren aber zum Beispiel die "Jüdischen Portraits.
Führer: Obwohl, eine Ihrer Eigenarten zu arbeiten, merkt man ja an beiden - "Spuren der Macht", auch "Jüdische Portraits" hat ein paar Jahre in Anspruch genommen, wenn auch nicht ganz so lange - immer die Zeit, die Sie sich nehmen. Ich finde das sehr interessant, wie Sie jetzt gerade erzählt haben, wie Sie monatelang auch diese Werkschau zusammengestellt haben. Also dieser lange Atem, den nehmen Sie sich einfach?
Koelbl: Ich denke, der gehört dazu, und zwar einfach dazu – also erst mal muss man von einem Thema begeistert sein, also man muss mit der Leidenschaft dabei sein, das ist etwas Elementares, das Wichtigste. Dann kommt die Disziplin dazu, weil man sonst das nicht durchhalten würde. Und der wichtigste Teil ist ja aber bei so langen Projekten, man geht sehr, sehr in die Tiefe eines Themas, und dann kommt, wie Elias Canetti einmal sagte, der notwendige kühle, kalte Blick, der unabdingbar ist für die Kunst. Das heißt also, man hat dann selbst Abstand zu seinen eigenen Arbeiten, und man sieht sozusagen sich selber wieder distanziert und nicht mehr so emotionalisiert. Wenn man dann Begegnungen hatte, klar, lebt das noch weiter. Also dieser Abstand, dass man dann immer wieder reduzieren kann und neutral wieder auf seine eigenen Arbeiten guckt, auch bei so langen Themen auch aussortiert und analysiert, ich denke, das ist wichtig und das gehört zu so einem Prozess. Deshalb liebe ich diesen Prozess auch.
Führer: Morgen beginnt eine Werkschau der Werke Herlinde Koelbls in Berlin. Die Fotografin ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Frau Koelbl, ein weiteres Charakteristikum Ihrer Arbeit, ob jetzt in "Spuren der Macht" oder "Jüdische Portraits", sind, glaube ich, tatsächlich eben die Portraits, also dass fast immer der Mensch bei Ihnen im Mittelpunkt steht. Wie nähern Sie sich den Menschen?
Koelbl: Erst mal mit großer Neugierde natürlich, aber auch mit einer großen Offenheit, und ich glaube, etwas Wesentliches, sich auch einlassen. Das Zweite ist auch, Menschen anzunehmen in ihrem Sein, so wie sie sind, und nicht sie sozusagen zu beurteilen, sondern im wirklichen Sinne sie anzunehmen und versuchen, natürlich auch eine Nähe zu haben und auch beim Portraitieren absolut das eigene Ego zu vergessen, sondern dem anderen zugewandt sein wirklich in vollstem Sinne.
Führer: Und Sie beobachten die Menschen, die Sie portraitieren, bisweilen sehr lange, oder? Also jetzt nicht nur, dass Sie sie jetzt wie bei den "Spuren der Macht" einmal im Jahr immer wiedersehen, sondern die einzelne Fotosession dauert offenbar länger, oder? Wie kommen sonst manchmal diese sehr überraschenden Portraits - von Horst Köhler zum Beispiel - zustande, wenn Sie sich nicht die Zeit nähmen?
Koelbl: Der Termin war gar nicht so lange, weil ein Bundespräsident hat nicht so viel Zeit. Aber ich habe versucht, das sehr gut zu organisieren und mir die Plätze auszusuchen, wo ich ihn fotografieren möchte. Und ich denke, wir haben ’ne ganz gute Verbindung aufgebaut. Und dann hatte ich ihm einmal gesagt, dass ich ihn jetzt fotografiere und dass ich auch ein bisschen näher komme und hatte einen Ausschnitt seines Gesichtes gewählt und ihn nur gebeten, mich anzusehen, und ich vergesse diesen Augenblick auch nicht, weil ich plötzlich ein anderes Gesicht gesehen habe oder andere Augen, die mich anblickten, als die, die man so geläufig kennt. Und es war ein ganz spezieller Moment. Manche Dinge vergisst man schnell und manche Dinge vergisst man nie. Und das ist so ein Moment gewesen, wo ich ein anderes Gesicht gesehen hat als das, was man so gemeinhin im Fernsehen kennt von ihm.
Führer: Ich kann das bestätigen, man erkennt ihn nicht, das ist sehr faszinierend, obwohl nur ein bisschen vom Kinn und von der Stirn fehlt. Ich hab’s hier mehreren Kollegen gezeigt, keiner hat ihn erkannt, weil er so ganz anders guckt. Er wirkt ja sonst so ein bisschen immer wie der freundliche Nachbar von nebenan, der grüßt, und da guckt er so ein bisschen traurig, entschlossen …
Koelbl: Entschlossen würde ich sagen, nicht traurig. Es ist auch ein entschlossenes Gesicht, das sind entschlossene Augen, und man sieht auch eine gewisse Kraft oder Energie in den Augen, die sicherlich auch notwendig sind – neben dem Lächelnden –, um so in eine Position zu kommen.
Führer: Eines, also viele wunderbare, aber ein wunderbares Portrait in diesem Katalog, den es zur Ausstellung gibt, ist das von der französischen Bildhauerin Louise Bourgeois, die, glaube ich, zum Zeitpunkt des Fotos – ich hatte nachgerechnet – 90 Jahre alt war. Und das ist, was relativ selten bei Ihnen ist, in Farbe und das sprüht auch vor Farben. Wie entscheiden Sie, ob sie Schwarz-Weiß oder Farbe fotografieren?
Koelbl: Bei jedem Thema überlege ich mir, was bedingt das Thema: Farbe, Schwarz-Weiß, neutraler Hintergrund, Studio oder Outdoor-Fotografie? Also das ist immer eine Entscheidung. In dem Falle war es eine klare Entscheidung für Farbe, weil ich sie ursprünglich auch für das Projekt "Schlafzimmer in den Metropolen der Welt" fotografiert hatte. Und dann habe ich – und das ist wirklich ’ne toughe Frau, das muss ich wirklich sagen, das sind auch so Begegnungen, die man nicht vergisst – nicht viel Zeit, und sie weiß sehr genau, was sie will, und ich wurde zuerst richtig examiniert von ihr, weil ihr Assistent zuerst gesagt hat, obwohl ich einen Termin hatte: Nein, nein, heute geht das nicht. Und da musste ich mich hinsetzen, und sie fragte: Why do you want to photograph me?" Und ich hatte natürlich mich eingehendst mit ihrer Arbeit schon lange vorher befasst. Also irgendwann mal fand sie meine Antworten scheinbar gut genug, und da habe ich ihr noch zwei Bücher gesagt, damit sie sieht, wie ich arbeite und was sie erwarten würde. Und dann hat sie zu Jerry gesagt: Show her the room! Und dann sagt er: But only one roll. Also wir haben dann ganz, ganz schnell Licht aufgestellt …
Führer: Eine Filmrolle?
Koelbl: Ja. Wir haben dann fotografiert, und bevor ich loslegte, hatte sie noch schnell aus ihrer Cola-Dose getrunken, und wie ich dann fertig war, wie ich diese Rolle fertig hatte, habe ich sie gebeten, das hätte so wunderbar ausgesehen, ob ich sie noch mal damit fotografieren würde, ob sie noch mal trinken würde. Das hat sie dann auch noch mal gemacht …
Führer: Ja, sie trinkt aus einem Strohhalm aus dieser knallroten Cola-Dose mit einem knallblauen Kleid an.
Koelbl: Und wiederum hat sie gesagt: Nur ein paar Bilder! Und ich wusste auch, wenn sie das sagt, dann meint sie das auch. Und somit sind ein paar Bilder entstanden, aber ein paar wirklich wunderbare Bilder entstanden.
Führer: Ja, stimmt. Frau Koelbl, Sie haben sich ja jahrzehntelang den Menschen genähert, aber jetzt in jüngster Zeit werden Sie plötzlich abstrakt, also Spuren, Muster, Risse im All, Asphalt gibt es so am Ende der Ausstellung hin zu sehen. Ist das jetzt eine neue Richtung, die Sie einschlagen?
Koelbl: Ich arbeite immer parallel. Also das ist etwas Neues, weil ich anders gefordert werde. Ich muss zum Beispiel in dem Moment, wo ich auf den Asphalt schaue, wo niemand eigentlich was sieht, sehe ich aber etwas, aber man muss anders komponieren. Es ist ein anderes Sehen, als wenn ich einen Menschen fotografiere. Aber das sind Werke, die mir sehr wichtig sind, diese neue Arbeiten, also abstrakt. Andererseits arbeite ich aber bereits an einem neuen Thema, wo es wiederum um Menschen geht. Also dieses Verschiedenartig-zu-Arbeiten, mir neue Wege zu erschließen, neue Türen aufzumachen, mich immer wieder zu fordern, das ist das, was ich glaube, was mir ganz, ganz wichtig ist, um diese Freude und dieses Glück an der Fotografie zu erhalten.
Führer: Herlinde Koelbl. Morgen eröffnet die Werkschau mit dem Titel "Herlinde Koelbl. Fotografien 1976–2009" in Berlin im Martin-Gropius-Bau. Das ist noch zu sehen dann bis zum 1. November. Und mehr zu der Ausstellung gibt’s auch heute Abend in unserer Sendung "Fazit" nach 23 Uhr. Ganz herzlichen Dank, dass Sie hier waren, Frau Koelbl!
Koelbl: Ich danke Ihnen!