Unsportliche Teenager

"Die wollen nur chillen"

Mehrere Kinder stehen in einer Reihe auf einem Fuß, den anderen ziehen sie mit den Händen an ihren Oberkörper.
Kinder während des Sportunterrichts © Wolterfoto/Imago
Von Dieter Jandt · 04.11.2018
Kaum ein Kind hüpft noch durch Käsekästchen, selbst der Schulsport wird geschwänzt: Lehrer zeichnen ein erschreckendes Bild. Doch andere versuchen, Kinder wieder zu motivieren, sich mehr zu bewegen – frei von Frust und Helikoptereltern.
"Wir stellen bei den Kindern ganz viel fest, dass es viele Kinder gibt, die ihre Motorik nicht mehr genügend beüben, im Alltag, weil sie auch die Chance gar nicht mehr dafür kriegen", erzählt die Physiotherapeutin Doris Keller. In ihrer Jugend sind die Mädchen noch von Kästchen zu Kästchen gehüpft und haben Gummitwist getanzt. Auf einem Bein zu stehen war kein Problem. Heute aber scheint das für die jüngere Generation eher schwierig. "Ganz viele Kinder können es tatsächlich nicht, und die können vor allen Dingen auf einem Bein ganz oft nicht hüpfen oder mal rückwärts laufen. Das erschreckend, wieviele Kinder im 1. Schuljahr das nicht können."
"Die wollen nur chillen", maulen frustrierte Eltern über ihre bewegungsunlustigen Kinder. Auch an Schulen und in Sportvereinen glaubt man erkannt zu haben, dass der Nachwuchs lieber sitzenbleibt. Früher sah das anders aus.
"Im Winter hatte ich immer eine Eins auf dem Zeugnis. Immer. Turnen war genau mein Ding. Schließlich hatte ich Gelenke wie aus Gummi. Im Sommer bekam ich immerhin eine zwei. Das lag aber nur daran, weil ich klein und schmächtig war, und deshalb über 50 Meter 8,1 Sekunden brauchte und den Schlagball nur an die 50 Meter weit werfen konnte. Ansonsten: toppfit! Das Sportabzeichen war so sicher wie das Amen in der Kirche."

Kaum ein Kind hüpft noch durch Kreidekästchen

Doris Keller sagt: "Wir kennen das wahrscheinlich noch, wir sind früher noch draußen rumgelaufen, wir haben unsere Kreide gehabt, wir haben irgendwo was drauf gemalt, wir haben mit dem Nichts, was wir hatten, etwas getan. Die Kinder heute werden ja mit Spielsachen zugeschossen, die brauchen ja kreativ nichts mehr üben. Und die wenigstens Kinder sind draußen. Und wenn sie dann auf Schulhöfen oder in Kindergärten wenigstens solche Spielmöglichkeiten noch haben, springen, Kästchen hüpfen, all diese Dinge, die wir früher auch vielleicht gemacht haben, dann trainieren sie es automatisch."
"Wir haben auch das Hüpfekästchen aufgemalt auf dem Boden, aber ich hab da noch selten jemanden aktiv mit spielen sehen", sagt die Schwimmlehrin Franziska Gößmann. Stillstand auf den Schulhöfen? Der Sportlehrer Karsten Preiss sagt: "Wir verleihen auch Springseile. Wenn man das wollte. Dann könnte man das machen. Aber es sind die Wenigsten, die sich überhaupt noch an die Sportart erinnern. Also offensichtlich." Gößmann ergänzt: "Oder es dann koordinativ umsetzen können. Das ist dann schon sehr komplex für viele."
Karsten Preiss und Franziska Gößmann sind Sport- und Schwimmlehrer an der Else-Lasker-Schüler-Schule in Wuppertal. Heute ist Unterricht in der Schwimmoper, die ihren eigenartigen Namen vielleicht auch deswegen trägt, weil sie mit ihren geschwungenen Linien architektonisch gesehen sehr anspruchsvoll dasteht. Wie aber stehen die Kinder, die soeben nacheinander aus dem Becken steigen, sportlich gesehen da. Im Schnitt sind sie 13 Jahre alt.

Lehrer bemängeln körperliche Verfassung ihrer Schüler

Ein Junge sagt: "Ich hab schon meinen Rettungsschwimmer, und das macht auch Spaß, und die Leute, die sagen: Schwimmen ist blöd, das stimmt gar nicht." Was er sonst noch so an Sport macht? "Fußball", sagt er. "Ich spiele bei Fortuna Düsseldorf."
Ein Mädchen sagt: "Ich gehe auch zum Verein, also zum Schwimmverein auch manchmal, aber jetzt nicht öfters, weil ich irgendwie, ich hab keine Motivation. Ich hab eher beim Tanz Motivation, und ich singe auch sehr gerne, aber ist kein Sport, aber ich singe."
Die Lehrer zeichnen ein nicht so positives Bild von der körperlichen Verfassung der Kinder.
Preiss: "Das ist erschreckend."
Gößmann: "Ist schade."
Preiss: "Ja. Bewegen tun sie sich dann, wenn sie sich nicht bewegen sollen. Im Unterricht. Hahaha."
"Alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, von den Kinderärzten, von Lehrerinnen und Lehrern, auch Eltern zum Teil beobachten natürlich, dass einerseits die motorischen Fähigkeiten, das heißt die grob-motorischen Fähigkeiten, dazu gehört das Rückwärtslaufen, das Balancieren, das auf einem Bein-Stehen deutlich sich verschlechtert hat", bestätigt Heidrun Thaiss, Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. "Kinder verfügen auch nicht mehr über diese Freiräume, so wie früher, da ist man auch auf Bäume geklettert, da hat man sich nachmittags getroffen nach den Schularbeiten und ist einfach rausgegangen, hat sich bewegt, das entspricht ja auch dem Drang der Kinder, das muss man sagen, Kinder bewegen sich einfach gerne."

Schülerinnen drücken sich vor dem Schwimmunterricht

Kinder, die sich nicht gerne bewegen, erfinden aber auch gerne Ausreden. Sie haben ihre Schwimmsachen vergessen, und schon müssen sie nicht ins Wasser.
Gößmann: "Das ist die häufigste Ausrede, ja. Würde ich schon sagen."
Preiss: "Und Mädchenprobleme."
Gößmann: "Ja."
Preiss: "Unterleibsschmerzen."
Gößmann: "Oder eben, dass man sagt. Ich schäme mich, ich möchte das nicht, ich kann nicht schwimmen, deswegen möchte ich nicht dahin gehen, ist auch manchmal ein Argument, ja."
Preiss: "Wir hatten jetzt heute von unseren 29 Schülern 14 Nichtschwimmer. Also 14 in der Schule-Bleiber. Die haben dann keine Lust, dann treffen die sich irgendwie und bleiben da gerne in der Schule. Die kriegen nen Arbeitsauftrag, die werden in Klassen untergebracht, aber die bleiben trotzdem lieber da."
"Schulschwimmen war nicht so ganz mein Ding. War mir einfach zu nass, aber besser als Mathe. Und immerhin war ich scheinbar doch so heiß darauf, dass ich zwei Mal vergaß, das Unterhemd auszuziehen, bevor ich ins Wasser stieg - sagte einem ja auch keiner was. Und dass man nur in Badehose schwimmen durfte, war schließlich auch nicht vorgeschrieben."
Ein Mädchen im Burkini hangelt sich ängstlich am Beckenrand entlang. Doch daraus zu schließen, muslimische Mädchen seien sportfern, wäre nicht nur ein Klischee, sondern schlichtweg falsch oder gar diskriminierend. Der Lehrer sagt, er habe in einer anderen Schulklasse eine, die schwimme auch im Burkini, die sei richtig fit und sportbegeistert.

Unsportlichen Schülern drohen Wirbelsäulenprobleme

Quer durch die Kulturen findet man aber Kinder, die ein paar Pfund zu viel auf den Rippen haben. Das zeigt sich auch hier im Wasser. Preiss: "Einige neigen halt zum Übergewicht, und andere, die haben einfach überhaupt gar keine ausgebildeten Muskeln. Die kriegen dann früh schon Schäden, Wirbelsäulenprobleme und sowas, das kriegt man schon mit."
Die Leiterin der bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Heidrun Theiss: "Da sehen wir ganz eindeutig, dass etwa 15 Prozent der Kinder übergewichtig sind, und zwischen sieben und acht Prozent adipös, also schon bedenkliches Übergewicht haben, und dass auch die motorischen Fähigkeiten deutlich nachlassen. Erfreulicherweise sind diese Zahlen konstant geblieben, aber wir sehen insbesondere dann mit dem Eintritt in die Schule, und das hat nicht nur was mit dem Schulunterricht zu tun, sondern natürlich auch mit intensiver Nutzung der neuen Medien oder sozialen Medien, dass diese Fähigkeiten dort noch drastisch abnehmen und dass das Übergewicht steigt."
Der Vorteil beim Schulschwimmen ist: Man kann kein Smartphone oder Notebook mit ins Becken nehmen.
Wie viele Stunden verbringen Schüler heute am Smartphone oder Computer? "Zehn Stunden", sagt ein Junge. Jeden Tag? "Ja. Also es gibt so 'ne Aufgabe, die musst du bei Fortnite machen, und du bezahlst dafür Geld, und deswegen, muss jeder so oft zocken, damit er es schafft. Aber jetzt muss ich ja mein Dings machen, eh, meinen E- oder G-Kurs, und deswegen werde ich jetzt nicht mehr spielen."
Fortnite ist ein Survivalspiel, bei dem man sich am Computer mit diversen Gestalten herumschlägt. E und G bezeichnen hingegen unterschiedliche Leistungskurse, bei denen sich Schüler mit Lehrstoff herumschlagen sollen, ebenso stundenlang. Aber viele bleiben dann eben doch am Computer oder Handy hängen.

Sechs Stunden Smartphone pro Tag

Ein andere Junge sagt: "Pro Tag sechs Stunden. Also ich bin nicht so oft an meinem Handy." Die neuen Medien können getrost als Bewegungsbremse gelten. Früher waren Kinder arm dran. Da standen wir herum und wussten nicht, mit wem wir chatten oder welchen Unhold wir bekämpfen sollten.
"Im Kirchenpark schwang ich mich locker mit Sandalen auf den Obstbaum und bewarf die unten stehenden Kollegen mit wurmzerfressenen Äpfeln, bis ich höchstselbst hinunterstürzte, weil einer der Äste gebrochen war. Ich saß am Waldboden, befühlte meine Schrammen an den Waden, während die Anderen hämisch auf mich herablästerten, gut gelaunt die Äpfel aßen und mich mit den Kernen bespuckten. Aber gut."
Zurück zu den neuen Medien. Es scheint für deren Benutzung eine Altersgrenze zu geben. Die soll bei knapp zehn Jahren liegen, belegen Studien. Demnach besitzen aber schon 85 Prozent der zwölfjährigen Kinder ein Smartphone. Es gibt aber auch Kleinkinder, die schon mit solchen Dingern in der Tasche herumlaufen, wenn sie denn überhaupt noch laufen und nicht nur sitzen, weil das Smartphone sie fesselt und sie darüber älter werden.
"Das könnte ich eigentlich so nicht sagen. Weil ich hab ein Sohn, der ist 17, und der hat eigentlich so den gleichen Werdegang gemacht wie die heutigen Kinder, und wenn ich so zurückblicke, war der nicht fitter oder schwächer als die jetzigen Kinder, und ich kann halt auch nur von den Kindern berichten, die wir halt unterrichten", sagt Simone Leukens vom TSV 04 Bayer Leverkusen. Sie trainiert als Übungsleiterin an der Sankt-Stephanus-Grundschule in Leverkusen-Hitdorf neunjährige Kinder, um sie später möglichst an den Klub zu binden. Auch die Vereine klagen über Nachwuchsmangel und versuchen Kinder in den Schulen abzufischen. Die werfen in der Halle mit einem Ball ihre Freunde ab, um sich zunächst einmal auszutoben.

Kinder spielen gerne Fußball, schwimmen oder machen Karate

"Heute präsentiere ich Ihnen hier die Kidsakademie", sagt Tanja Esser. Sie leitet bei Bayer Leverkusen die Ressorts Kinder- und Jugendsport. "Bei unserem Vereinssportangebot an den Schulen geht es halt darum, dass wir den Kindern die unterschiedlichsten Sportarten nahelegen wollen, das kann dann Fußball sein, das kann Trampolin sein, Parcours, Inliner, also alles, und wir wechseln dann halt von Woche zu Woche die Themen durch, dass die Kinder halt viel kennenlernen. Und dann sich vielleicht auch orientieren, zu uns in den Verein zu kommen und da bei den Fachabteilungen dann Sport zu treiben."
Ein Junge sagt: "Wir haben Fußball gespielt, also wir haben beim Messi haben wir den Ball unter die Arme geklemmt und bei Ronaldo haben wir den Ball unter den Fuß getan und bei Neymar haben wir uns auf den Boden geworfen und Schwalben gemacht, also dass jemand uns gefoult hat oder ja." Was er noch für Sport macht? "Ich mach Karate und Schwimmen. In Monheim mache ich schwimmen und in Langenfeld bei SGL mache ich Karate." Ein anderer sagt: "Ich mache Taek Wan Do."
Kinder, die an solchen Kursen teilnehmen, sind meist von vornherein bewegungsaffin. Aber viele machen einen großen Bogen um Sporthallen. Sie haben anderes zu tun. Wer sich darüber mokiert, dass die Kinder heutzutage unbeweglicher seien als früher, muss auch über den Faktor Zeit nachdenken und sich fragen, ob die Kids überhaupt welche haben.
"Der Alltag ist sowohl von Erwachsenen wie auch von Kindern streng durchgetaktet, jeder hat seinen Plan und seine Termine, und da bleibt nicht mehr so viel Raum für Freizeitaktivitäten und auch Bewegung", sagt Heidrun Theiss. Die Vereine haben sich darauf eingestellt.
Die Ressortleiterin Tanja Esser sagt: "Weil in der heutigen Zeit durch dieses ganze OGS-System, wie sich das entwickelt hat, ist es halt natürlich für Eltern und Kinder auch schwierig, dann noch zu uns zu kommen. Die gehen ja dann bis eins, zwei in die Schule, und danach werden sie ja noch bis 15 oder 16 Uhr im Rahmen Offener Ganztag betreut. Dann ist da noch was, mit Freunden treffen oder da noch der zusätzliche Termin, und um dem Ganzen vorzubeugen haben wir uns damals als Verein entschieden, "Hey okay, dann kommen wir zu euch. Und machen euch es damit einfacher."

Auch heute klettern Kinder noch auf Kirschbäume

Rund 30 Grundschüler rennen in der Turnhalle herum, am frühen Nachmittag. Der TSV Bayer 04 Leverkusen ist Teil des Ganztagsangebotes an der Schule.
Überall im Land klagen die Vereine über Nachwuchs. Der Bayerische Landessportbund schiebt es auf die mangelnde Bereitschaft der Kinder, sich nach der Schule noch auf weitere Termine einzulassen. Die aber wollen und brauchen ihre Freizeit, und wenn dazu Bewegung gehört, ist ja alles gut.
Ein Junge sagt: "Ich bin manchmal bei uns in der Siedlung mit den Jungs spielen wir dann irgendwie Räuber und Gendarm und laufen dann halt um den Block rum und müssen uns dann gegenseitig immer fangen." Ein anderer Junge sagt: "Ich hab einen Kirschbaum im Garten, und früher stand da noch das Gartenhaus, dann bin ich auf den Baum geklettert und dann bin ich aufs Gartenhaus gesprungen, dann konnte ich die Kirschen immer pflücken."
Sind die Unterschiede zu früher also tatsächlich nicht so groß?
Im Sportunterricht haben viele Kinder, die hier trainieren, eine Eins auf dem Zeugnis, sagen sie. Ob sie auch alte Spiele kennen wie Schnitzeljagd? Ein Junge sagt: "Wir waren mal auf dem Geburtstag eingeladen und da hat mein Freund auf seinem Geburtstag hat Schnitzeljagd gespielt, also am Baggersee, und da sollten wir immer die ganze Zeit suchen und da haben wir am Ende doch eine Kiste gefunden mit Süßigkeiten."
Trotzdem: Warum sieht man so selten Kinder auf den Bürgersteigen, die mit Kreide Kästchen zeichnen, um darin zu hüpfen, oder mit einem Gummiband um die Fußgelenke.

Lehrer kritisieren, dass zu wenig Sport auf dem Lehrplan steht

In der Ganztagsbetreuung werden solche Angebote gemacht, sagt Tanja Esser. "Ja, Gummitwist und Kästchenhüpfen, wie heißt es denn jetzt? Kästchenhüpfen, ja. Wir haben das erste Mal dieses Jahr im AG-Angebot auch eine AG, die sich Pausenspiele nennt. Und da sollen wir halt, oder da wollen wir im Nachmittag versuchen, den Kindern einfach auch eine bewegte Pausengestaltung zu vermitteln. Dass das, was wir nachmittags mit denen in der AG machen, dass die es in der Pause umsetzen können."
"Gummitwist war Mädchenkram. Im Sommer gingen wir tagtäglich mit dem Ball auf den Spielplatz. Ich war so eine Art blonder Engel, spielte zentimetergenaue Pässe, drosch den Plastikball in die Mitte des Sandkastens, der als Tor diente. Kleinkinder mit Schüppe und Eimer hatten wir zuvor weggescheucht. Manchnmal standen Männer am Zaun: 'Mensch Junge, aus dir wird mal was.' Was eine AG ist, wussten wir nicht."
Zu wenig Schulsport, klagen die meisten. Im Schnitt sehen die Lehrpläne zwei Stunden in der Woche vor. Das sei nicht genug, murren die Lehrer, und oft fallen Sportstunden aus, weil andere Schulfächer wichtiger scheinen. Der bedauernswerte Zustand vieler Turnhallen ist schon seit Jahrzehnten ein Thema. Das Land Nordrhein-Westfalen hat nun zwei Milliarden Euro in Aussicht gestellt, um den Sanierungsstau bei maroden Sportanlagen aufzulösen. Schwimm-, Eis- und Turnhallen sollen attraktiver werden und Anwohner locken. Das Auge turnt mit.

Turnverbände wollen Kinder mit Events zum Sport motivieren

Bundesjugendspiele gibt es seit ewigen Zeiten, beim Schwimmen diverse Abzeichen, und nun preschen die Bundesturnverbände mit Initiativen vor. "Die Tage des Kinderturnens die sind 2017 zum ersten Mal veranstaltet worden, das ist der Deutsche Turnerbund, und diese Offensive Kinderturnen, die berät, die klärt auf und die qualifiziert auch bundesweit Übungsleiter in den Vereinen zu besonderen Angeboten", sagt Heidrun Thaiss, Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
"Weil alle Kinder zu erreichen ist das eine, aber wir haben natürlich auch Gruppen von Kindern, die sich schwer tun, auch diese Angebote von Sportvereinen anzunehmen oder überhaupt zu erreichen, das sind Kinder, die aus benachteiligten Familien kommen, das können sozial Benachteiligte sein oder das können auch Kinder mit Sprachbarrieren sein, und auch die gilt es gezielt anzusprechen und zu sagen: Wir haben da Angebote, und diese Angebote sind offen für alle, und ihr seid da herzlich willkommen und ihr könnt daran teilnehmen."
Breitenförderung nennt man das heutzutage, wenn motorisch weniger Begabte Lust auf Sport bekommen sollen. Theiss: "Die werden sich immer schwer tun, und die gehen mit Angstschweiß dann zum Sportunterricht, weil sie wissen, das ist natürlich ein Schulfach, das wird benotet, und sie strengen sich an, aber sie haben dann immer negative Erlebnisse, und das ist etwas Prägendes, und da sollten natürlich Sportpädagogen auch drauf gucken, dass man eben nach den Möglichkeiten der Kinder dann auch positive Erlebnisse, also Erfolgserlebnisse auch einbaut."
"Bei der Hocke über das Reck stand der Turnlehrer unter mir herum. Wegen der Hilfestellung. Hätte er sich sparen können. Locker der Umschwung aus der Hüfte heraus, die Knie angezogen und ab über die Querstange. Weiter zum nächsten Gerät. Da kam dann der Dicke mit seiner Speckrolle angewalzt. Semmelte mit dem Becken gegen den Kasten. Schallendes Gelächter."

In Berlin will ein Gewichtheber Sport "frei von Frust" anbieten

Marco Spanehl, ehemaliger Gewichtheber und Netzwerker beim Landessportbund Berlin, versucht mit der Initiative "Berlin hat Talent" sowohl Sportkanonen als auch weniger Fitte an die Geräte zu bekommen. Er sagt: "Gibt ja auch so'n bisschen den Spruch: 'Der Dicke kommt ins Tor', für uns ist extrem wichtig, dass diese Kinder auf ihrem Niveau positive Erfahrungen im Sport machen und sagen: 'Vielleicht bin ich nicht der Sportlichste, aber Bewegung macht halt Spaß', und das wollen wir diesen Kindern eigentlich vermitteln, dass sie das lebenslang für sich verinnerlichen: 'Sport ist auch meine Sache.' Weiter sagt er: "Und die Gruppe soll homogen bleiben. Wir machen das ja hier in der 3. Klasse, da sind sie alle noch sehr bewegungsaffin, und wenn die Stärkeren zum Beispiel dabei wären, dann würden natürlich so Situationen auftreten, dass sie sagen: 'Das kannste eh nicht', sie würden Frustrationen erleben, und das wollen wir vermeiden."
Die Turnhalle einer Grundschule am Amalienhof in Berlin-Spandau. Basketballkörbe hängen über dem Geschehen, blaue Matten liegen aus, zwei Handballtore begrenzen das Spielfeld, Glasbausteine lassen spärlich Licht ein und beleuchten 12 Kinder, die durch die Halle toben, frei nach dem Breitensport-Prinzip 'Just for fun', frei von Frust. Heidrun Theiss sagt: "Das ist etwas Prägendes auch für das Leben, und wenn man das ständig erfährt und dann vielleicht auch noch ne schlechte Note hat oder ausgegrenzt wird, nicht aufgefordert wird, bei den Mannschaftsspielen und auf der Bank sitzen muss, das wird dann später nicht dazu führen, dass man sich freiwillig dann auch und vor allem auch gern bewegt."
Die Vereinigung für Sportwissenschaft in Karlsruhe hat einen Motoriktest erstellt: 20-Meter-Sprints, 6-Minuten-Dauerläufe, Liegestütze, Sit ups und rückwärts Balancieren. Wer das alles hinkriegt, darf als sportlich gelten. Die Kinder hier laufen erst mal los, klauben Plaketten vom Boden auf und bringen sie flugs wieder zurück. Ein Junge sagt: "Ich find es am meisten spaßig, wenn wir manchmal rumrennen, ist aber echt anstrengend." Ob einen Handstand kann? "Handstand kann ich gut, und ich kann auch Radschlag, Brücke, und den Bogen, ich kann fast alles." Und das funktioniert auch in Straßenkleidung, ohne Turnhose und Trikot von Messi.
Marco Spanehl: "Da wird doch oft berichtet, dass grade diese Kinder, die sich eigentlich bewegen müssen, auch mal ihre Sportsachen vergessen. Bei uns in der Sport-AG ist es eigentlich ganz gut, da kann man auch sagen: Gut, das ist jetzt nicht das große Problem, du ziehst vielleicht deine Schuhe aus, kannst aber trotzdem diese Bewegungserfahrung weiter mitmachen. Also dass wir da auch nicht so die Hürden nicht so hochbauen, sondern sagen: 'Bewegen kann man sich auch, wenn man keine Sportsachen dabei hat.'"

Helikoptereltern erschweren das unbeschwerte Spielen

"Wir balancierten auf der Teppichstange. Hin und her. Die war übermannshoch zwischen zwei Häuserwänden montiert, rostig ohne Ende, wackelte aber nicht. Die Mutter meckerte aus dem Küchenfenster, das sei zu gefährlich, und wir hörten weg. Wenn wir herunterfielen, dann immer wie die Katzen auf die Füße."
Bleibt noch die Rolle der Eltern, der Helikoptereltern, die alles überwachen und dabei manchmal vergessen, anstatt über den Kindern zu schweben einfach vorauszufahren, mit dem Rad oder so.
Heidrun Theiss: "Ich hab gelernt beim Kinderärztekongress in Leipzig, dass es gar nicht mehr Helikoptereltern heißt, sondern Drohneneltern. Weil die jetzt gesteuert sind elektronisch. Das sehen wir auch aus den Studiendaten, dass das ganz eindeutig so ist, dass Kinder, die gewohnt sind, in Familien aufzuwachsen, wo eben Sport oder Bewegung generell ein Thema ist, es muss ja nicht immer Leistungssport sein, sondern einfach Bewegung in den Alltag zu integrieren, dann machen die Kinder das auch."
Alles in allem sind zwei Bewegungsbremsen festzustellen: Kinder und Jugendliche werden zu früh zu sehr zeitlich vereinnahmt, darüber verkommt das spontane Spiel. Und: die neuen Medien, die die Kids noch stärker in Beschlag nehmen. Wobei: Manchmal bringt sie auch das vom Sofa hoch. Sie laden sich aus dem Internet den Zahnseidetanz herunter. Dabei werden Bewegungen ausgeführt, die denen bei der Zahnpflege gleichen. Zu bewundern auf diversen Schulhöfen. Die Arme geschwind hin und her, bei kreisender Hüfte. Besser als nur mit dem Zeigefinger übers Display zu wischen oder mit einer Datenbrille vor Augen irgendwelche Gestalten zu jagen.
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