Unsichtbare Opfer

Von Bettina Rühl |
Je nach Schätzung haben zwischen vier und sechs Millionen Menschen in den mörderischen Auseinandersetzungen im Kongo, die Mitte der 90er-Jahre begannen, und bis heute im Osten von Zeit zu Zeit aufflackern, ihr Leben verloren. Es war ein Krieg, in dem allzu oft die Grenzen verwischten, in dem Regierungssoldaten, Rebellen und Milizen mordeten und vergewaltigten.
Bis heute sterben im Osten des Riesenreichs Frauen an den Folgen der ihnen zugefügten Verletzungen. Sei es, weil sie nicht oder nur unzureichend medizinisch betreut werden, sei es, weil sie Geschlechtskrankheiten wie Aids erliegen.

Die Gläubigen haben sich unter freiem Himmel getroffen. Sie sitzen auf ungehobelten Holzbänken. Die Wolken hängen tief und grau, bald wird der tropische Regen über Kayna einsetzen, einem Dorf im Osten des Kongos. Nur eine halb zerrissene Plastikplane kann den Chor dann vor der Nässe schützen. Trotzdem stürmt keiner davon, alle proben weiter.

Elisa Kanyere fühlt sich nur noch im Glauben zu Hause. Sie hat eine tiefe, raue Stimme. Und Narben rund um ihre beiden Handgelenke. Das sind, für jeden sichtbar, die Spuren des schweren Verbrechens, das Elisa Kanyere nur mit viel Glück überlebte. Doch ihr Körper, ihre Ehe und ihre Heimat sind seitdem zerstört.

Elisa Kanyere: "Ich habe in Kahete gelebt, das ist nicht weit von hier. Damals war ich reich: Ich hatte an die 100 Ziegen, außerdem Schweine und 150 Dollar Bargeld. Die Hutu-Kämpfer wussten das. Deshalb sind sie gekommen. Als Erstes haben sie mich gefesselt, dann eins meiner Kinder erschossen und meinen Vater vor meinen Augen getötet. Während sie ihn quälten, schrie mein Vater in größter Todesangst. Er bettelte sie an: 'Lasst mir mein Leben! Da steht meine Tochter, sie wird Euch sagen, wo unser Besitz ist!' Sie haben ihn trotzdem umgebracht. Dann haben sie mich gequält und geschlagen, bis ich den Schmerz nicht mehr aushielt und ihnen schließlich gezeigt habe, wo das Geld versteckt war."

Doch auch da ließen die Kämpfer noch nicht von Elisa Kanyere ab, einer älteren Frau von vielleicht Mitte 50.

"Sie haben mich zusammengeschlagen, mich in den Busch geschleppt und vergewaltigt, einer nach dem anderen. Diejenigen, die gerade nicht an der Reihe waren, haben mir Arme und Beine auseinander gerissen, damit es derjenige, der gerade dran war, leichter hatte. Zehn Männer habe ich gezählt, bevor ich das Bewusstsein verlor. Ich weiß nicht, was danach passiert ist. Nur die Gnade Gottes hat mich gerettet."

Als sie wieder zu sich kam, war sie allein und lag mit schmerzendem Körper im Busch.

"Ich war an den Handgelenken gefesselt. Nach zwei Tagen kamen einige Jungen vorbei, die auf Rattenjagd waren. Ich hatte kaum noch Kraft, aber ich hab es geschafft, ganz leise zu rufen: 'Hallo, ich bin hier im Gebüsch! Helft mir!' Die Jungen haben mich tatsächlich gehört, mich losgebunden und mir nach Hause geholfen."

In ihrem Dorf gibt es keinen Arzt und niemanden, der sich professionell um Kranke kümmert. Elisa Kanyere war auf die Hilfe der anderen Frauen angewiesen, die ihre Schmerzen mit traditionellen Mitteln linderten. Sie überlebte und kam wieder zu Kräften. Doch für ihren Mann ist sie seit diesem Überfall eine Fremde, die er nicht mehr anrührt. Immerhin hat er sie nicht aus der gemeinsamen Hütte vertrieben, so wie es viele andere Männer machen.

"Seit der Vergewaltigung kann ich noch nicht einmal einen Faden halten – meine Hände gehorchen mir nicht mehr, seit ich an den Handgelenken tagelang gefesselt war. Ich kann nur noch als Trägerin für andere Frauen arbeiten: Ich packe mir das Brennholz oder andere Lasten auf den Kopf oder auf den Rücken. Aber auch beim Gehen habe ich Schmerzen, weil sie mir die Beine so weit auseinander gerissen haben, dass ich fast dalag wie ein ausgenommener Fisch – völlig aufgespreizt. Dadurch ist irgendetwas zerrissen. Auch mit dem Rücken habe ich seitdem Probleme. Ich schaffe es kaum noch, meine Familie zu ernähren – geschweige denn, das Schulgeld für meine Kinder zu zahlen. Einer meiner Söhne war fast mit der höheren Schule fertig, aber er musste abbrechen, weil ich kein Geld mehr habe."

Elisa Kanyere wurde Opfer der Hutu-Miliz. Andere Frauen werden von Mitgliedern der zahlreichen anderen bewaffneten Gruppen vergewaltigt - sogar Soldaten der Friedenstruppen MONUC waren unter den Tätern. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch gehören die meisten Täter heute als Soldaten der kongolesischen Armee an. Für viele gehören die Orgien der Gewalt der Vergangenheit an, einem abgeschlossenen Kapitel Zeit. Anders Ntumwa Pierre Basimwa, zwischenzeitlich Angehöriger der Rebellen, heute Capitaine der Regierungsarmee in Bukavu, einer der Städte im Osten des Kongo:

Capitaine Ntumwa Pierre Basimwa: "Ich war selbst Täter. Ich habe viele Frauen vergewaltigt. Für mich war das mein Recht. Wir alle glaubten das. Weil ich Kommandant einer Einheit war, dachte ich, dass es mir zustünde. Einfach zu einem Untergebenen zu sagen: 'Bring mir eine Frau! Ob sie will oder nicht – bring mir diese da!' Sobald sie vor mir stand, habe ich gesagt: 'Zieh Dich aus!' und sie dann vergewaltigt. Eine Zeit lang habe ich für eine Rebellengruppe namens RCD gekämpft. Bei unseren Aktionen im Busch haben wir zu jeder Frau, der wir begegneten, einfach nur gesagt: 'Zieh Dich aus!' und haben mit ihr geschlafen. Wir waren wie die Tiere. Irgendwann ist mir klar geworden, dass ich mich verhalte wie ein Tier."

Im Jahr 2001 kam für ihn die große Wende: Capitaine Basimwa bekam Schuldgefühle wegen seiner Verbrechen und hielt die Last der Bilder, die ihn verfolgten, nicht mehr aus. Er wurde Christ und ließ sich von einer Freikirche taufen. Inzwischen versucht er, auch andere Regierungssoldaten davon zu überzeugen, dass Vergewaltigungen ein Verbrechen sind.

"Die Vergewaltigungen werden als Kriegswaffe eingesetzt, um den Feind zu schwächen und zu demütigen: Häufig werden die Frauen sogar vor den Augen ihrer Ehemänner vergewaltigt, oder die Mädchen im Beisein ihrer Väter. Oder man zwingt einen Vater, seine Kinder zu vergewaltigen. Oder einen Sohn, seine Mutter zu schänden. Manchmal wird die sexuelle Gewalt noch in anderer Weise als Waffe genutzt: Man benutzt aidsinfizierte Soldaten. Die Kommandanten befehlen ihnen: 'Vergewaltigt die Frauen, wenn ihr das Dorf da eingenommen habt – sie gehören alle Euch!' Das ist eine Strategie, um den Feind zu schwächen: Wenn man es geschafft hat, zehn Frauen mit Aids anzustecken, dann werden diese zehn Frauen wahrscheinlich eine Vielzahl von Männern anstecken. Die werden wieder zahlreiche Frauen anstecken, und so weiter."

Es gibt im Kongo nicht viele Orte, an denen ein Mensch medizinische Hilfe bekommt. Wer schwer verletzt ist, hat wenig Chancen, ein Krankenhaus zu erreichen – schon weil es kaum passierbare Straßen gibt; von Krankenwagen ganz zu schweigen.

Jedes Jahr schaffen es trotzdem ein paar Tausend Menschen, sich zum Panzi-Krankenhaus in Bukavu durchzuschlagen. In den flachen Pavillons gibt es auch ganz gewöhnliche medizinische Abteilungen. Zu den Besonderheiten der Einrichtung gehören die Fürsorge und der Respekt, mit der hier Überlebende sexueller Gewalt behandelt werden.

Denis Mukwege: "Es gibt im Kongo keine zuverlässigen Statistiken, aber wir können die Zahl der Opfer hochrechnen. Ich schätze, dass in diesem Krieg schon mehr als 500.000 Frauen vergewaltigt wurden."

Denis Mukwege Mukengere, der Gründer und Leiter des Panzi-Krankenhauses, hat in den vergangenen Jahren Tausende von Frauen operiert und versucht, aus zerfetztem, eitrigem oder verbranntem Gewebe wieder ein zusammenhängendes Ganzes zu formen – und in ein paar glücklichen Fällen auch so etwas wie ein weibliches Geschlechtsteil. Man könnte erwarten, dass jemand mit seinem Beruf im Lauf der Jahre zum Zyniker wird, oder zu einer Art medizinischem Techniker, der sich den Alptraum durch Nüchternheit fern hält. Stattdessen ist Mukwege Mukengere Herzlichkeit und Zuwendung. Der ständige Blick in die Abgründe des Menschen hat ihn für sein Gegenüber nicht blind gemacht.

"Jedes Mal, wenn ich eine dieser völlig verzweifelten Frauen sehe, kommen mir die Tränen und ich kann nachts nicht schlafen. Aber vielleicht treffe ich schon am nächsten Tag eine andere Frau, die zu mir sagt: 'Doktor, man wollte mein Leben zerstören und meine Weiblichkeit – aber sehen Sie mich an: Dank Ihrer Behandlung kann ich wieder arbeiten, ich bestelle mein Feld und treibe Handel. Ich habe mir ein kleines Stück Land gekauft und neu angefangen.' Solche Erlebnisse entschädigen uns für alles, was wir vielleicht am Vortag erlebt haben. So halten wir hier durch."

Schon vor zehn Jahren begann Denis Mukwege Mukengere zu ahnen, dass die brutalen Vergewaltigungen nicht nur Einzelfälle waren. Aus der Ahnung wurde längst Gewissheit: Wie in vielen Kriegen ist sexuelle Gewalt auch im Kongo eine Strategie.

"An den Verletzungen einer Frau kann ich erkennen, von welcher bewaffneten Gruppe sie vergewaltigt wurde. Im Norden gibt es eine Miliz, die ihre Opfer nach der Vergewaltigung zwingt, sich über ein Feuer zu hocken. Am Anfang habe ich von diesen schwersten Brandverletzungen noch Fotos gemacht, um diese Verbrechen zu dokumentieren, aber ich musste damit aufhören – ich habe den Anblick dieser Fotos nicht ertragen, sie haben mich traumatisiert. Eine Gruppe in der Gegend von Fizi schießt den Frauen in die Vagina. In Ninja werden sie mit den Händen über dem Kopf zehn oder 15 Tage lang auf einem Bett gefesselt, bis alle Nerven zerstört und die Hände gelähmt sind. Irgendwann habe ich begriffen, dass es bei den Vergewaltigungen nicht um individuelle Begierden geht. Nein, der Gegner soll zerstört werden. Man will seine eigene Handschrift hinterlassen, und eine Warnung: 'Sehr her, wozu wir fähig sind!' Das Ergebnis: Nicht nur die Opfer sind körperlich und psychisch zerstört, ihr ganzes Umfeld ist betroffen."

Eine geradezu teuflische Strategie, sagt der Arzt, zumal die Frauen alles daran setzen, die Schändungen nicht zu zeigen, sodass die Verbrechen äußerlich kaum zu erkennen sind.

Zur Versorgung der Gewaltopfer gehört nicht nur die medizinische Nothilfe. Auch die Traumatherapie ist ein wichtiger Teil der Behandlung.

Im Panzi-Krankenhaus stehen Greisinnen, Mädchen und erwachsene Frauen nebeneinander und ahmen Tierstimmen nach. Dass sie überhaupt wieder ihre Stimme erheben und sich auf die lautstarke Spielerei einlassen, ist bereits ein therapeutischer Erfolg. Viele sind seit Jahren zur Behandlung im Krankenhaus, haben zahlreiche Operationen hinter sich. Mukwege Mukengere kennt die Grenzen seines Erfolgs:

"Alle diese Frauen werden nach und nach sterben, auch wenn sie zunächst überlebt haben – sei es an Aids, sei es an anderen Geschlechtskrankheiten. Und selbst wenn sie überleben – fortpflanzen können sie sich nicht mehr. Was hier passiert ist grauenhaft, und ich weiß nicht, warum die Internationale Gemeinschaft dazu schweigt, obwohl jeder weiß, was hier los ist."