"Unsere Strategie war die schonungslose Wahrheit"
Der Spezialchemiekonzern Lanxess in Leverkusen meldet in diesen Tagen ein Rekordergebnis. Wie funktioniert Personalabbau mit den Methoden eines modernen Personalmanagements? Darüber und über andere Fragen spricht Personalleiter Zhengrong Liu.
Deutschlandradio Kultur: Herr Liu, spreche ich eigentlich Ihren Vornamen richtig aus, Zhengrong?
Zhengroung Liu: Ja, Sie haben es wunderbar ausgesprochen.
Deutschlandradio Kultur: Geboren sind Sie in Shanghai, dort und in Köln studiert, Magisterabschluss in Pädagogik, Anglistik und Politikwissenschaft, viele Jahre für Bayer in China tätig, dann Rückkehr nach Deutschland und seit 2004 Leiter des weltweiten Personalwesens von Lanxess. Herr Liu, wo ist Heimat für Sie?
Zhengroung Liu: Ach, gleich zu Anfang eine schwierige Frage. Ich sehe mich mehr als ein Grenzgänger. Ich sehe China aus einer gewissen Distanz. Das ist nicht nur geografisch gemeint. Ich sehe aber auch, was ich tagtäglich in Deutschland erlebe, aus einer gewissen Entfernung. Ich denke, ich bleibe wahrscheinlich Zeit meines Lebens in dieser Symbiose.
Deutschlandradio Kultur: Wo ist denn Ihr Zuhause? Als Chinese sind Sie zweimal ins Rheinland gezogen, einmal mit Rucksack und wenig Geld und einmal mit Familie und einem Spitzenjob. Wo sind Sie zu Hause?
Zhengroung Liu: Rein zeitlich betrachtet habe ich bis jetzt ein Drittel meiner Zeit in Deutschland verbracht, zwei Drittel in China, vor allem in Shanghai. Zusammen mit meiner Familie würde ich sagen, das Rheinland ist auf jeden Fall unsere zweite Heimat geworden.
Deutschlandradio Kultur: Wie ist es mit der rheinischen Kultur? Ist Karneval für Sie ein Thema oder sind Sie dann lieber auf Dienstreisen?
Zhengroung Liu: Nein, nein, alle zwei Jahre fahren wir auf jeden Fall nach Köln. Das ist schon aus meiner Studentenzeit so entstanden. Und die Kinder lieben das. Die können viel mehr Karnevalslieder als ich und meine Frau.
Deutschlandradio Kultur: Kann man sich dran gewöhnen, nicht?
Zhengroung Liu: Die rheinische Mentalität hat mich ja schon von Anfang an fasziniert. Das ist ein sehr offener Umgang miteinander, was man vielleicht in anderen Gegenden von Deutschland nicht unbedingt sieht oder erlebt.
Deutschlandradio Kultur: Was waren für Sie die größten Hürden als Asiaten, sich hier in Deutschland zurechtzufinden? Die Sprache sicherlich und dann? Die Ordnung und Disziplin?
Zhengroung Liu: Ja, die Sprache sicherlich und paradoxerweise auch die perfekte Infrastruktur für den Alltag. Was eigentlich dazu führen könnte, ist in meinem Fall glücklicherweise so nicht eingetreten, dass man auch ohne Sprache für längere Zeit gut zurechtkommen kann. Das reduziert die Motivation, die Sprache aktiv zu lernen, das Umfeld näher kennen zu lernen. Es bedarf doch sehr viel Eigeninitiative, diese Schwelle, die durch Bequemlichkeit entstanden ist, zu überwinden.
Deutschlandradio Kultur: Wie haben Sie die überwunden?
Zhengroung Liu: Ich denke mal, aus einer Mischung aus Neugier und natürlich auch faktisch sehr wenig Wissen über dieses Land. Ich kam hierher. Deutschland war nicht meine erste Wahl. Ich hatte die Sprache nicht in China studiert. Und diese große Wissenslücke, die es seinerzeit gab, hat mich dazu angetrieben, vor allem mehr aus dem Umfeld außerhalb der Universität kennen zu lernen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Geisteswissenschaftler. Was hat Sie in die Wirtschaft getrieben? Mit Ihrem Studium würde doch jeder Deutsche eher Lehrer oder Taxifahrer werden.
Zhengroung Liu: Brotlose Künste, meinen Sie. Ja, das verdanke ich einer Verkettung von glücklichen Umständen. Ich bin heute allerdings sehr tief der Überzeugung, dass die Wirtschaft, vor allem die sehr international aufgestellten deutschen Firmen auch Geisteswissenschaftler gut gebrauchen können. Ich sehe mich auch nicht alleine. Wir sind in der Tat eine kleine Minderheit, aber es werden immer mehr. Und diese Geisteswissenschaftler bringen eine stärkere Fähigkeit vernetzt zu denken, ein sehr breit angelegtes Wissensspektrum mit, was für unsere technischen Herausforderungen durchaus hilfreich ist.
Deutschlandradio Kultur: Das hilft dann also, nicht nur Paragraphen und Benchmarks im Kopf zu haben.
Zhengroung Liu: Ja, doch, also, die großen Zusammenhänge unserer Welt, auch die sehr hohe Kapazität unserer alltäglichen Managementfragestellungen sind allein durch Fachwissen nicht zu lösen. Durch dieses vernetzte Denken, dieses Verständnis für komplexe Zusammenhänge, haben, glaube ich, viele Geisteswissenschaftler hier einen Standortvorteil.
Deutschlandradio Kultur: Lanxess ist ein börsennotiertes Unternehmen mit 15.800 Beschäftigten in 30 Ländern und über sieben Milliarden Euro Umsatz im letzten Jahr. Die Steigerung des operativen Gewinns im zweiten Quartal 2011 liegt im zweistelligen%bereich. Als der Bayerkonzern das Geschäft mit der Spezialchemie 2003 abspaltete galt dieser so genannte Spin-off noch als Schrottfirma. Doch es kam anders. Und, Herr Liu, als Personalchef haben Sie da ursächlichen Anteil an diesem Erfolg. Denn aus Schrott einen Erfolg zu machen, heißt ja auch Restrukturierung, übersetzt durchaus mit Personalabbau. Erinnern Sie sich eigentlich noch an Ihren ersten Auftritt vor Beschäftigten im Werk Uerdingen?
Zhengroung Liu: Oh ja. Da hatte ich schon – ob die Leute es gemerkt haben oder nicht, weiß ich nicht – stellenweise weiche Knie. In einer so großen Kantine vor so vielen Leuten zu sprechen, noch dazu in einer etwas angeheizten Atmosphäre, das war eine völlig neue Erfahrung für mich, obwohl ich ja zuvor auch sechs Jahre Personalmanagement in Asien gemacht habe.
Deutschlandradio Kultur: Freundlich sind Sie nicht aufgenommen worden. Die Angst vor dem Chinesen ging um. Sind Sie denn beim Personalabbau auch chinesisch vorgegangen?
Zhengroung Liu: Sie sind ja gut informiert. Nein, nein, ich zähle es schon zu meinen Stärken, mich relativ schnell an das neue Umfeld zu gewöhnen und mich entsprechend auch anzupassen. Für jemanden, der die globale Personalverantwortung trägt, ist es unabdingbar, dass man die lokalen Gegebenheiten, das lokale Umfeld und die Rahmenbedingungen so respektiert und auch nach den geltenden Spielregeln spielt. Das habe ich in Deutschland relativ schnell gelernt. Allerdings hatte es Jahre gedauert, bis eine nachhaltige Vertrauensbasis zwischen mir und den wichtigen Verhandlungspartnern auf der anderen Seite des Tisches entstanden ist.
Deutschlandradio Kultur: Sie mussten erstmal auf der anderen Seite des Verhandlungstisches Überzeugungsarbeit leisten. Denn in gängigen BWL-Büchern ist Ihre Strategie nicht zu finden. Wie würden Sie sie beschreiben? Wie konnten Sie die Arbeitnehmer auf der anderen Seite überzeugen? Oder wie konnten Sie die unerfreulichen Maßnahmen, wie zum Beispiel Gehaltskürzungen oder auch Personalabbau, durchsetzen?
Zhengroung Liu: Mir ist wichtig, auch an dieser Stelle zu betonen, das war nie die Hauruckaktion einer einzelnen Person. Personalarbeit ist im Grunde genommen in gut geführten Unternehmen auch immer Chefsache. Insofern ist es relativ schwer, meinen Anteil genau zu berechnen. Das ist beileibe keine fernöstliche Höflichkeit.
Deutschlandradio Kultur: Nun gut, aber Sie haben andere Ideen mit eingebracht.
Zhengroung Liu: Genau. Unsere Strategie war erst einmal Transparenz, die schonungslose Wahrheit, auch wenn diese Wahrheit schmerzte, auch wenn diese Wahrheit unter Umständen zu weiterer Verunsicherung der Mannschaft führen konnte, dass diese Wahrheit auf den Tisch kommen musste. Denn nur mit dieser Klarheit, mit dieser Transparenz schaffen Sie eine neue Basis für einen Neuanfang und schaffen Sie den ursprünglichen Kern für eine spätere vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Ein zweiter Punkt, der sehr wichtig war, war die Geschwindigkeit. Es gab sehr viele wohlmeinende Ratgeber, die auch auf mich zukamen nach dem Motto, lassen Sie doch erstmal die Organisation ein bisschen setteln, diese ist ja hochgradig verunsichert. Warten Sie erst mal bis die Organisationen zu sich gefunden haben. Im Nachhinein sage ich jetzt: Hätten wir damals uns Zeit gegeben, länger gewartet, hätten wir vielleicht sehr wertvolle Zeit auch verloren, um rechtzeitig gegen die Misere anzugehen.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt als auch weniger Bürokratie. Sie haben Hierarchieebenen abgeschafft. Und Sie sprechen von Transparenz. Das bedeutet aber doch aber auch Machtverlust.
Zhengroung Liu: Machtverlust ist eigentlich ein falsches Konzept. Ja, durchaus haben vor allem manche Führungskräfte durch die damals neu eingeführte flache Hierarchie das Gefühl gehabt, dass das Wertigkeitsgefüge auseinander gelaufen sei, was aber nicht stimmte. Denn die Welt außerhalb Lanxess oder unserer früheren Mutter Bayer fragt nicht nach Hierarchie. Diese Welt fragt danach, was eine Führungskraft oder ein Berufstätiger selbst eigenverantwortlich gemacht hat. Willkürliche Hierarchie, die von einem Unternehmen aus unterschiedlichen Erwägungen heraus festgelegt wurde, hat am Markt gar keinen Wert. Das ist eine Scheinwertigkeit in einer in sich geschlossenen Organisation.
Nachdem Sie in Ruhe mit den Führungskräften diskutieren und kommunizieren wurde diese Theorie auch mehr und mehr verstanden, so dass diese Verluste von Statussymbolen nach einer Zeit nicht mehr als Verluste empfunden wurden, was für die Firma ein großer Zugewinn ist. Denn das bedeutet ja auf einmal, dass Aufgaben statt Statussymbolen wieder mehr im Fokus der Betrachtung gerückt waren.
Deutschlandradio Kultur: Nun gut, aber Lanxess ist doch sicherlich kein Kuschelbetrieb. Ihre Aktienbesitzer wollen Geld verdienen. Auch Sie verlangen natürlich mehr von Ihren Arbeitnehmern, auch wenn Sie durch diese Strategie vielleicht was erreicht haben. Druck als Ansporn für bessere Leistung. Ganz beliebt und weit verbreitet sind bei uns Zielvereinbarungsgespräche. Ist das auch ein Baustein in Ihrer Werkzeugkiste gewesen?
Zhengroung Liu: Sie hören, dass ich schmunzle. Ja, allerdings sind wir ganz gegen den Mainstream. Wir fahren eine ganz andere Systematik, nämlich mit mehr gesundem Menschenverstand, mit den jeweiligen verantwortlichen Führungskräften im Mittelpunkt des Geschehens und mit möglichst wenig Mathematik auszukommen.
Der Irrglaube, mit noch immer komplizierteren Rechenformeln die Managementwirklichkeit abbilden zu können, ist von der Wirklichkeit nicht gedeckt. Leider laufen 95, wenn nicht 99 Prozent der Firmen auch heute dieser Illusion nach und versuchen mit immer höherer Komplexität, immer komplizierteren Formeln menschliche Leistungen zu messen, was ihnen leider auch in zehn Jahren nicht gelingen wird.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie haben ein Boni-System nach Nasenfaktor? Das fördert doch eher die Unzufriedenheit.
Zhengroung Liu: Nein, wir haben ein Gewinnbeteiligungsprogramm für die breite Masse unserer Organisation. In Deutschland sind es alle – vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Tarifmitarbeiter der untersten Hierarchiestufen. Alle haben die Chance, sich an einem Unternehmensbeteiligungserfolgsprogramm zu beteiligen. Und dort verzichten wir bewusst auf die mathematische Differenzierung.
Gleichzeitig fordern wir von unseren Vorgesetzten, über Probleme, über Defizite, welche im Alltag registriert wurden, offen zu sprechen. Das ist nun mal dieses Paradox. Indem ich meinen Mitarbeitern zunächst einmal einen Vertrauensbeweis gebe und sage, ich weiß, Sie haben sich Mühe gegeben und Ihr Bestes für die Firma gegeben, bin ich psychologisch gesehen besser in der Lage, auch kritische Diskussionen mit eben diesen Mitarbeitern zu führen. Genau das ist ja das, was wir als Unternehmen erreichen wollen.
Deutschlandradio Kultur: Gewerkschaften und Betriebsräte beschreiben Sie als "harten Verhandler", aber eben auch als "zuverlässig, was sie zusagen, darauf könne man sich verlassen", habe ich herausgefunden.
Zhengroung Liu: Oh, da freue ich mich.
Deutschlandradio Kultur: Aber, lässt sich Ihr Modell eigentlich auch auf andere Firmen oder andere Branchen hier in Deutschland übertragen, vielleicht sogar auch auf den öffentlichen Dienst in Deutschland?
Zhengroung Liu: Ich bin da sehr vorsichtig. Schon innerhalb der eigenen Branche gibt es sehr unterschiedliche Firmenkulturen, auch sehr unterschiedliche Geschäftsmodelle. Schon da ist es nicht ohne weiteres möglich, bestimmte Erfahrungen direkt zu übertragen. Der öffentliche Dienst gehorcht nach meinem rudimentären Verständnis davon ganz anderen Gesetzmäßigkeiten. Ich glaube, wichtig ist aber, dass Personalverantwortliche branchenübergreifend – und das geht sehr wohl auch in den öffentlichen Dienst hinein – vielleicht noch mehr Austausch pflegen. Im Grunde bedarf es in diesem Land einer viel intensiveren Dialogkultur zwischen Politik und Wirtschaft und, wenn Sie runterkommen auf meine Ebene der Personalverantwortlichen, auch zwischen der freien Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst.
Gedankenlose Übertragung von Dingen wie Performance-Management, also Leistungsbeurteilung im öffentlichen Dienst, das ist in der Tat von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wie kann man glauben, dass etwas, was in der freien Wirtschaft nach jahrzehntelangen Experimenten nicht funktioniert, auf einmal im öffentlichen Dienst funktionieren sollte?
Deutschlandradio Kultur: Eine Studie hat jüngst ergeben, die Deutschen werden immer unzufriedener mit ihrem Job und in ihrem Job, vor allem die älteren Arbeitnehmer. Verstehen Sie das? Was läuft da eigentlich schief in Deutschland?
Zhengroung Liu: Das spüre ich in meinem eigenen Unternehmen nicht. Das heißt zwar nicht, dass in jeder Ecke unserer Organisation nur glückliche Mitarbeiter sind. Was ist meine Erklärung dazu? Ich glaube, die Beschäftigten in einem Unternehmen, in einer Organisation wollen bei einer erfolgreichen Firma arbeiten. Die wollen Perspektive sehen. Firmen, die diese Perspektive glaubhaft und überzeugend darlegen können, haben bessere Chancen, auch zufriedene Mitarbeiter in ihren eigenen Reihen zu haben.
Deutschlandradio Kultur: Zhengroung Lui als Wandler zwischen den Kulturen, was können wir Deutschen von China lernen? Welche Tugenden sollten wir uns bei Ihnen abschauen?
Zhengroung Liu: Die Kunst des Improvisierens, und das liegt sehr tief in der DNA des chinesischen Milliardenvolkes, oft wahrscheinlich notgedrungen, die über die jahrtausendelange Geschichte nicht immer vom Glück beseelt waren. Diese Improvisationskünste, die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, auch wenn die Informationen dazu nicht vollkommen waren, könnten einer hoch entwickelten Industrienation wie Deutschland vielleicht hier und da auch helfen.
Umgekehrt allerdings, das ist mir auch wichtig zu sagen, kann China von einem Land wie Deutschland eine ganze Menge ebenfalls lernen kann. Das ist nie eine einseitig Einbahnstraße.
Deutschlandradio Kultur: Das wollte ich gerade fragen. Und anders herum, auch politisch – Fragen der Demokratie oder Freiheit und Menschenrechte?
Zhengroung Liu: Ja, wir sollten erstmal nicht so weit gehen. Ich sage es mal aus meiner eigenen Praxis. Ich habe gelernt in den letzten sechs Jahren, wie viel Zeit der Unternehmensführung für Kommunikation mit den eigenen Mitarbeitern, aber auch Kommunikation mit den sonstigen so genannten Stakeholders, mit der Gemeinde, in der wir aktiv sind, mit der Politik und sonstigen drauf geht und wie sinnvoll diese Aktivitäten für Unternehmensführungen im heutigen Kontext sind. Das habe ich so in meiner Asienzeit nicht kennen gelernt.
Wenn Sie auf die politischen Herausforderungen zu sprechen kommen, denke ich, sollten wir hier als Europäer – ich zähle mich auch dazu – zwei Dinge voneinander unterscheiden. Dass wir, wo immer Werte, die in der europäischen Gesellschaft besonders wichtig sind und zum Kern dieser Gesellschaft gehören, verletzt werden, mit aller Deutlichkeit unsere Kritik äußern, das auch zum Thema machen, ist eine Seite der Medaille. Da gibt es gar keine Bedenken und sollte auch keiner dazu Bedenken haben. Und diese Meinung wird auch respektiert.
Die andere Seite ist: Wir sollten als Europäer oder als Außenstehende nicht sofort immer die Systemfrage stellen. Diese Frage müssen das chinesische Volk und die chinesische Bevölkerung selbst für sich beantworten, auch wenn es Zeit bedeutet, auch wenn es Zeit kostet. Dann soll es eben auch Zeit dafür geben.
Deutschlandradio Kultur: Aber täuscht der Eindruck, dass es die chinesische Führung im Moment wenig schert, wenn wir die Menschenrechte zum Beispiel ansprechen oder einklagen? Denn gleichzeitig laufen ja die Wirtschaftsbeziehungen brillant.
Zhengroung Liu: Erstens ist es sowieso ein Fehler zu glauben, Politik könnte alles richten. Gerade in der sehr schwierigen Frage einer gesellschaftlichen Transformation muss der Westen – wenn man den Westen pauschal als eine Wertegemeinschaft versteht – über unterschiedliche Kanäle mit der chinesischen Gesellschaft in den Dialog eintreten und in diesem Dialog auch bleiben. Das geschieht heute viel zu wenig. Und es wird zu sehr auf Politik geschaut, die nur noch sehr begrenzt Spielraum besitzt.
Wenn Sie explizit auf die Rolle der Wirtschaft zu sprechen kommen, muss ich eine Lanze für die Wirtschaft generell, aber auch für die deutsche Wirtschaft brechen. Die deutsche Wirtschaft und die europäische Wirtschaft hat eine maßgebliche positive Rolle in dem 30 Jahre andauernden Öffnungsprozess Chinas gespielt, gerade weil unsere Aktivität nicht miteinander abgesprochen worden ist.
Wir haben in den letzten zwei Dekaden so vielen Chinesen die Möglichkeit eröffnet, überhaupt erstmals die Welt außerhalb Chinas kennen zu lernen. Mit dieser Erfahrung kommen unweigerlich die Diskussionen über Werte, über unterschiedliche Vorstellungen zu Werten und Gesellschaftsordnungen. Natürlich gibt es handfeste wirtschaftliche Interessen, aber unser Engagement in China geht weit über dieses wirtschaftliche Interesse hinaus.
Deutschlandradio Kultur: Zunehmend wächst aber bei uns die Angst vor einer neuen chinesischen Weltherrschaft. Welche Etappe hat Peking auf dem Weg zu diesem Ziel inzwischen erreicht? Oder ist diese Angst eigentlich völlig unbegründet?
Zhengroung Liu: Nein, ich kann diese Angst gut verstehen. Und ich kann diese Angst – auch gerade vor dem Hintergrund der China-Rezeption, dem China-Bild, was in den Westen rüberkam – umso mehr verstehen. Reden Sie mit jemandem, der mehrere Jahre in China gearbeitet und gelebt hat, und da gibt es inzwischen eine hohe sechsstellige Zahl von Deutschen, die diese Erfahrung schon gemacht haben, haben Sie ein deutlich differenzierteres Bild.
China wird für uns – sowohl für die Wirtschaft wie auch für die europäische Politik – eine große Herausforderung bleiben, aber aus lauter Angst nur präventive Maßnahmen zu ergreifen, damit schneiden wir uns in Deutschland, als einer der größten Exportnationen der Welt, ins eigene Fleisch.
Also, das Rezept kann nur lauten: Wir müssen unterschiedliche Kanäle der Kommunikation nutzen. Wir müssen die in der Entstehung befindliche Pluralität der chinesischen Gesellschaft nutzen, um mit den Eliten der Zukunft Chinas zu diskutieren und zu debattieren.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie besetzen die Globalisierung weiterhin positiv, auch in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrisen. Billionen Dollar und Euro wurden an den internationalen Börsen weltweit in den letzten Tagen und Wochen vernichtet. Steht die Globalisierung jetzt vor dem Ende?
Zhengroung Liu: Nein, definitiv nicht. Als Globalisierungsoptimist kann ich aus Prinzip diese Ansicht nicht teilen. Allerdings würde ich einen anderen Beruf ausüben, wenn ich genau wüsste, was in den unmittelbar nächsten Tagen oder Wochen passieren wird.
Eins ist nur klar: Ein Unternehmen, ein gut geführtes Unternehmen kann sich nicht von momentanen Turbulenzen des Kapitalmarkts allein ablenken oder verunsichern lassen. Die so genannten fundamentalen Daten bleiben weiterhin intakt. Wenn ich auf unsere eigene Firma schaue, die eigene Stärke, die wir in den letzten Jahren aufgebaut haben, bleibt völlig unangetastet. Diese Stärke hat uns seit 2010 Rückenwind verliehen. Sollten sich wieder schlechte Zeiten ankündigen, wird uns diese Stärke wiederum den notwendigen Halt geben. Da bin ich sehr zuversichtlich. Und da gibt es auch keinen Grund, übernervös zu sein, schon gar nicht für kurzfristige Reaktionen.
Deutschlandradio Kultur: Allerdings drohen doch Konjunktureinbruch und Rezession. Die Aussichten sind wahrlich nicht rosig. Sehen Sie Auswege aus diesen Krisen?
Zhengroung Liu: Wir haben die Mütter aller Krisen gerade vor zwei Jahren erlebt. Die aufziehende neue Krise muss erst zeigen, dass sie das Jahr 2009 noch mal toppen könnte. Dafür sehe ich doch zu viele auch positive Anzeichen. Dafür hat die Politik, auch die Weltpolitik einige notwendige Vorkehrungen in dieser Zeit getroffen. Ja, es wird wahrscheinlich eine Korrektur geben. Große Fragezeichen gibt es hinsichtlich der USA. Aber es ist wirklich kein Grund zur Panik, vor allem, wenn man an die langfristige Wachstumsperspektive der Welt glaubt. Und diese langfristige Perspektive der Welt ist intakt – allein aufgrund des Bevölkerungswachstums. Wir werden in diesem Jahr die Siebenmilliardengrenze bei der Weltbevölkerung überschreiten. Ich weiß nicht, ob im Oktober oder November, das ist auch egal. In den nächsten 40 Jahren kommen noch weitere zwei Milliarden Menschen hinzu.
Wir reden hier beleibe nicht über deutsche und schon gar nicht amerikanische Lebensverhältnisse. Wir reden hier darüber, ausreichend annähernd adäquate Lebensbedingungen für diese zusätzlichen zwei Milliarden Menschen zu geben – ob jetzt trinkbares Wasser, ob eine rudimentäre Mobilität und dies und jenes. Darin liegt der grundlegende Trend der Weltwirtschaft. Und hier sehe ich eine ganze Reihe von Potenzialen, welche wir wieder – ich weiß nicht wann – auf einen gesunden Wachstumspfad zurückführen werden.
Deutschlandradio Kultur: Welche sind das? Wenn ich Sie höre, sagen Sie, langfristige Perspektiven sind intakt. Wo steht da Deutschland? Können wir zum Beispiel unser Lohn- und Sozialniveau weiterhin halten?
Zhengroung Liu: Deutschland ist erst einmal als ein Lösungsanbieter besonders gut gefragt. Ob Sie auf die Maschinenbauer schauen oder auf uns, die Chemie. Wir sind einer der größten Lösungsanbieter für die Nachhaltigkeitsfragen der Zukunft. Deutschland ist in dieser Rolle nicht nur hier in Europa gefragt, sondern weltweit. Deswegen, wenn ich an den Export von Ideen, Konzepten und Know-how denke, denke ich zunächst einmal an diese Dinge.
Ob die sozialen Rahmenbedingungen so ohne weiteres exportierbar sind, wird sich in der Praxis zeigen. Aber auch hier gibt es gute Anzeichen. Wenn ich noch mal das Beispiel China nehmen darf, das Arbeitsgesetz in China ist sehr stark am deutschen Vorbild angelehnt. Dazu hat auch der deutsch-chinesische Rechtsdialog einen maßgeblichen Beitrag geleistet. Wie gut die Umsetzung im Alltag ist, steht auf einem anderen Blatt, aber das chinesische Gesetz – auch für die Arbeitsmarktregulierung – ist sehr nach deutschen Vorbild gemacht. Auch hier, wenn Sie so wollen, gibt es Exporterfolg zu vermelden – in bescheidenem Umfang.
Deutschlandradio Kultur: Herr Liu, vielen Dank für dieses Gespräch.
Zhengroung Liu: Ja, Sie haben es wunderbar ausgesprochen.
Deutschlandradio Kultur: Geboren sind Sie in Shanghai, dort und in Köln studiert, Magisterabschluss in Pädagogik, Anglistik und Politikwissenschaft, viele Jahre für Bayer in China tätig, dann Rückkehr nach Deutschland und seit 2004 Leiter des weltweiten Personalwesens von Lanxess. Herr Liu, wo ist Heimat für Sie?
Zhengroung Liu: Ach, gleich zu Anfang eine schwierige Frage. Ich sehe mich mehr als ein Grenzgänger. Ich sehe China aus einer gewissen Distanz. Das ist nicht nur geografisch gemeint. Ich sehe aber auch, was ich tagtäglich in Deutschland erlebe, aus einer gewissen Entfernung. Ich denke, ich bleibe wahrscheinlich Zeit meines Lebens in dieser Symbiose.
Deutschlandradio Kultur: Wo ist denn Ihr Zuhause? Als Chinese sind Sie zweimal ins Rheinland gezogen, einmal mit Rucksack und wenig Geld und einmal mit Familie und einem Spitzenjob. Wo sind Sie zu Hause?
Zhengroung Liu: Rein zeitlich betrachtet habe ich bis jetzt ein Drittel meiner Zeit in Deutschland verbracht, zwei Drittel in China, vor allem in Shanghai. Zusammen mit meiner Familie würde ich sagen, das Rheinland ist auf jeden Fall unsere zweite Heimat geworden.
Deutschlandradio Kultur: Wie ist es mit der rheinischen Kultur? Ist Karneval für Sie ein Thema oder sind Sie dann lieber auf Dienstreisen?
Zhengroung Liu: Nein, nein, alle zwei Jahre fahren wir auf jeden Fall nach Köln. Das ist schon aus meiner Studentenzeit so entstanden. Und die Kinder lieben das. Die können viel mehr Karnevalslieder als ich und meine Frau.
Deutschlandradio Kultur: Kann man sich dran gewöhnen, nicht?
Zhengroung Liu: Die rheinische Mentalität hat mich ja schon von Anfang an fasziniert. Das ist ein sehr offener Umgang miteinander, was man vielleicht in anderen Gegenden von Deutschland nicht unbedingt sieht oder erlebt.
Deutschlandradio Kultur: Was waren für Sie die größten Hürden als Asiaten, sich hier in Deutschland zurechtzufinden? Die Sprache sicherlich und dann? Die Ordnung und Disziplin?
Zhengroung Liu: Ja, die Sprache sicherlich und paradoxerweise auch die perfekte Infrastruktur für den Alltag. Was eigentlich dazu führen könnte, ist in meinem Fall glücklicherweise so nicht eingetreten, dass man auch ohne Sprache für längere Zeit gut zurechtkommen kann. Das reduziert die Motivation, die Sprache aktiv zu lernen, das Umfeld näher kennen zu lernen. Es bedarf doch sehr viel Eigeninitiative, diese Schwelle, die durch Bequemlichkeit entstanden ist, zu überwinden.
Deutschlandradio Kultur: Wie haben Sie die überwunden?
Zhengroung Liu: Ich denke mal, aus einer Mischung aus Neugier und natürlich auch faktisch sehr wenig Wissen über dieses Land. Ich kam hierher. Deutschland war nicht meine erste Wahl. Ich hatte die Sprache nicht in China studiert. Und diese große Wissenslücke, die es seinerzeit gab, hat mich dazu angetrieben, vor allem mehr aus dem Umfeld außerhalb der Universität kennen zu lernen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Geisteswissenschaftler. Was hat Sie in die Wirtschaft getrieben? Mit Ihrem Studium würde doch jeder Deutsche eher Lehrer oder Taxifahrer werden.
Zhengroung Liu: Brotlose Künste, meinen Sie. Ja, das verdanke ich einer Verkettung von glücklichen Umständen. Ich bin heute allerdings sehr tief der Überzeugung, dass die Wirtschaft, vor allem die sehr international aufgestellten deutschen Firmen auch Geisteswissenschaftler gut gebrauchen können. Ich sehe mich auch nicht alleine. Wir sind in der Tat eine kleine Minderheit, aber es werden immer mehr. Und diese Geisteswissenschaftler bringen eine stärkere Fähigkeit vernetzt zu denken, ein sehr breit angelegtes Wissensspektrum mit, was für unsere technischen Herausforderungen durchaus hilfreich ist.
Deutschlandradio Kultur: Das hilft dann also, nicht nur Paragraphen und Benchmarks im Kopf zu haben.
Zhengroung Liu: Ja, doch, also, die großen Zusammenhänge unserer Welt, auch die sehr hohe Kapazität unserer alltäglichen Managementfragestellungen sind allein durch Fachwissen nicht zu lösen. Durch dieses vernetzte Denken, dieses Verständnis für komplexe Zusammenhänge, haben, glaube ich, viele Geisteswissenschaftler hier einen Standortvorteil.
Deutschlandradio Kultur: Lanxess ist ein börsennotiertes Unternehmen mit 15.800 Beschäftigten in 30 Ländern und über sieben Milliarden Euro Umsatz im letzten Jahr. Die Steigerung des operativen Gewinns im zweiten Quartal 2011 liegt im zweistelligen%bereich. Als der Bayerkonzern das Geschäft mit der Spezialchemie 2003 abspaltete galt dieser so genannte Spin-off noch als Schrottfirma. Doch es kam anders. Und, Herr Liu, als Personalchef haben Sie da ursächlichen Anteil an diesem Erfolg. Denn aus Schrott einen Erfolg zu machen, heißt ja auch Restrukturierung, übersetzt durchaus mit Personalabbau. Erinnern Sie sich eigentlich noch an Ihren ersten Auftritt vor Beschäftigten im Werk Uerdingen?
Zhengroung Liu: Oh ja. Da hatte ich schon – ob die Leute es gemerkt haben oder nicht, weiß ich nicht – stellenweise weiche Knie. In einer so großen Kantine vor so vielen Leuten zu sprechen, noch dazu in einer etwas angeheizten Atmosphäre, das war eine völlig neue Erfahrung für mich, obwohl ich ja zuvor auch sechs Jahre Personalmanagement in Asien gemacht habe.
Deutschlandradio Kultur: Freundlich sind Sie nicht aufgenommen worden. Die Angst vor dem Chinesen ging um. Sind Sie denn beim Personalabbau auch chinesisch vorgegangen?
Zhengroung Liu: Sie sind ja gut informiert. Nein, nein, ich zähle es schon zu meinen Stärken, mich relativ schnell an das neue Umfeld zu gewöhnen und mich entsprechend auch anzupassen. Für jemanden, der die globale Personalverantwortung trägt, ist es unabdingbar, dass man die lokalen Gegebenheiten, das lokale Umfeld und die Rahmenbedingungen so respektiert und auch nach den geltenden Spielregeln spielt. Das habe ich in Deutschland relativ schnell gelernt. Allerdings hatte es Jahre gedauert, bis eine nachhaltige Vertrauensbasis zwischen mir und den wichtigen Verhandlungspartnern auf der anderen Seite des Tisches entstanden ist.
Deutschlandradio Kultur: Sie mussten erstmal auf der anderen Seite des Verhandlungstisches Überzeugungsarbeit leisten. Denn in gängigen BWL-Büchern ist Ihre Strategie nicht zu finden. Wie würden Sie sie beschreiben? Wie konnten Sie die Arbeitnehmer auf der anderen Seite überzeugen? Oder wie konnten Sie die unerfreulichen Maßnahmen, wie zum Beispiel Gehaltskürzungen oder auch Personalabbau, durchsetzen?
Zhengroung Liu: Mir ist wichtig, auch an dieser Stelle zu betonen, das war nie die Hauruckaktion einer einzelnen Person. Personalarbeit ist im Grunde genommen in gut geführten Unternehmen auch immer Chefsache. Insofern ist es relativ schwer, meinen Anteil genau zu berechnen. Das ist beileibe keine fernöstliche Höflichkeit.
Deutschlandradio Kultur: Nun gut, aber Sie haben andere Ideen mit eingebracht.
Zhengroung Liu: Genau. Unsere Strategie war erst einmal Transparenz, die schonungslose Wahrheit, auch wenn diese Wahrheit schmerzte, auch wenn diese Wahrheit unter Umständen zu weiterer Verunsicherung der Mannschaft führen konnte, dass diese Wahrheit auf den Tisch kommen musste. Denn nur mit dieser Klarheit, mit dieser Transparenz schaffen Sie eine neue Basis für einen Neuanfang und schaffen Sie den ursprünglichen Kern für eine spätere vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Ein zweiter Punkt, der sehr wichtig war, war die Geschwindigkeit. Es gab sehr viele wohlmeinende Ratgeber, die auch auf mich zukamen nach dem Motto, lassen Sie doch erstmal die Organisation ein bisschen setteln, diese ist ja hochgradig verunsichert. Warten Sie erst mal bis die Organisationen zu sich gefunden haben. Im Nachhinein sage ich jetzt: Hätten wir damals uns Zeit gegeben, länger gewartet, hätten wir vielleicht sehr wertvolle Zeit auch verloren, um rechtzeitig gegen die Misere anzugehen.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt als auch weniger Bürokratie. Sie haben Hierarchieebenen abgeschafft. Und Sie sprechen von Transparenz. Das bedeutet aber doch aber auch Machtverlust.
Zhengroung Liu: Machtverlust ist eigentlich ein falsches Konzept. Ja, durchaus haben vor allem manche Führungskräfte durch die damals neu eingeführte flache Hierarchie das Gefühl gehabt, dass das Wertigkeitsgefüge auseinander gelaufen sei, was aber nicht stimmte. Denn die Welt außerhalb Lanxess oder unserer früheren Mutter Bayer fragt nicht nach Hierarchie. Diese Welt fragt danach, was eine Führungskraft oder ein Berufstätiger selbst eigenverantwortlich gemacht hat. Willkürliche Hierarchie, die von einem Unternehmen aus unterschiedlichen Erwägungen heraus festgelegt wurde, hat am Markt gar keinen Wert. Das ist eine Scheinwertigkeit in einer in sich geschlossenen Organisation.
Nachdem Sie in Ruhe mit den Führungskräften diskutieren und kommunizieren wurde diese Theorie auch mehr und mehr verstanden, so dass diese Verluste von Statussymbolen nach einer Zeit nicht mehr als Verluste empfunden wurden, was für die Firma ein großer Zugewinn ist. Denn das bedeutet ja auf einmal, dass Aufgaben statt Statussymbolen wieder mehr im Fokus der Betrachtung gerückt waren.
Deutschlandradio Kultur: Nun gut, aber Lanxess ist doch sicherlich kein Kuschelbetrieb. Ihre Aktienbesitzer wollen Geld verdienen. Auch Sie verlangen natürlich mehr von Ihren Arbeitnehmern, auch wenn Sie durch diese Strategie vielleicht was erreicht haben. Druck als Ansporn für bessere Leistung. Ganz beliebt und weit verbreitet sind bei uns Zielvereinbarungsgespräche. Ist das auch ein Baustein in Ihrer Werkzeugkiste gewesen?
Zhengroung Liu: Sie hören, dass ich schmunzle. Ja, allerdings sind wir ganz gegen den Mainstream. Wir fahren eine ganz andere Systematik, nämlich mit mehr gesundem Menschenverstand, mit den jeweiligen verantwortlichen Führungskräften im Mittelpunkt des Geschehens und mit möglichst wenig Mathematik auszukommen.
Der Irrglaube, mit noch immer komplizierteren Rechenformeln die Managementwirklichkeit abbilden zu können, ist von der Wirklichkeit nicht gedeckt. Leider laufen 95, wenn nicht 99 Prozent der Firmen auch heute dieser Illusion nach und versuchen mit immer höherer Komplexität, immer komplizierteren Formeln menschliche Leistungen zu messen, was ihnen leider auch in zehn Jahren nicht gelingen wird.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie haben ein Boni-System nach Nasenfaktor? Das fördert doch eher die Unzufriedenheit.
Zhengroung Liu: Nein, wir haben ein Gewinnbeteiligungsprogramm für die breite Masse unserer Organisation. In Deutschland sind es alle – vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Tarifmitarbeiter der untersten Hierarchiestufen. Alle haben die Chance, sich an einem Unternehmensbeteiligungserfolgsprogramm zu beteiligen. Und dort verzichten wir bewusst auf die mathematische Differenzierung.
Gleichzeitig fordern wir von unseren Vorgesetzten, über Probleme, über Defizite, welche im Alltag registriert wurden, offen zu sprechen. Das ist nun mal dieses Paradox. Indem ich meinen Mitarbeitern zunächst einmal einen Vertrauensbeweis gebe und sage, ich weiß, Sie haben sich Mühe gegeben und Ihr Bestes für die Firma gegeben, bin ich psychologisch gesehen besser in der Lage, auch kritische Diskussionen mit eben diesen Mitarbeitern zu führen. Genau das ist ja das, was wir als Unternehmen erreichen wollen.
Deutschlandradio Kultur: Gewerkschaften und Betriebsräte beschreiben Sie als "harten Verhandler", aber eben auch als "zuverlässig, was sie zusagen, darauf könne man sich verlassen", habe ich herausgefunden.
Zhengroung Liu: Oh, da freue ich mich.
Deutschlandradio Kultur: Aber, lässt sich Ihr Modell eigentlich auch auf andere Firmen oder andere Branchen hier in Deutschland übertragen, vielleicht sogar auch auf den öffentlichen Dienst in Deutschland?
Zhengroung Liu: Ich bin da sehr vorsichtig. Schon innerhalb der eigenen Branche gibt es sehr unterschiedliche Firmenkulturen, auch sehr unterschiedliche Geschäftsmodelle. Schon da ist es nicht ohne weiteres möglich, bestimmte Erfahrungen direkt zu übertragen. Der öffentliche Dienst gehorcht nach meinem rudimentären Verständnis davon ganz anderen Gesetzmäßigkeiten. Ich glaube, wichtig ist aber, dass Personalverantwortliche branchenübergreifend – und das geht sehr wohl auch in den öffentlichen Dienst hinein – vielleicht noch mehr Austausch pflegen. Im Grunde bedarf es in diesem Land einer viel intensiveren Dialogkultur zwischen Politik und Wirtschaft und, wenn Sie runterkommen auf meine Ebene der Personalverantwortlichen, auch zwischen der freien Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst.
Gedankenlose Übertragung von Dingen wie Performance-Management, also Leistungsbeurteilung im öffentlichen Dienst, das ist in der Tat von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wie kann man glauben, dass etwas, was in der freien Wirtschaft nach jahrzehntelangen Experimenten nicht funktioniert, auf einmal im öffentlichen Dienst funktionieren sollte?
Deutschlandradio Kultur: Eine Studie hat jüngst ergeben, die Deutschen werden immer unzufriedener mit ihrem Job und in ihrem Job, vor allem die älteren Arbeitnehmer. Verstehen Sie das? Was läuft da eigentlich schief in Deutschland?
Zhengroung Liu: Das spüre ich in meinem eigenen Unternehmen nicht. Das heißt zwar nicht, dass in jeder Ecke unserer Organisation nur glückliche Mitarbeiter sind. Was ist meine Erklärung dazu? Ich glaube, die Beschäftigten in einem Unternehmen, in einer Organisation wollen bei einer erfolgreichen Firma arbeiten. Die wollen Perspektive sehen. Firmen, die diese Perspektive glaubhaft und überzeugend darlegen können, haben bessere Chancen, auch zufriedene Mitarbeiter in ihren eigenen Reihen zu haben.
Deutschlandradio Kultur: Zhengroung Lui als Wandler zwischen den Kulturen, was können wir Deutschen von China lernen? Welche Tugenden sollten wir uns bei Ihnen abschauen?
Zhengroung Liu: Die Kunst des Improvisierens, und das liegt sehr tief in der DNA des chinesischen Milliardenvolkes, oft wahrscheinlich notgedrungen, die über die jahrtausendelange Geschichte nicht immer vom Glück beseelt waren. Diese Improvisationskünste, die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, auch wenn die Informationen dazu nicht vollkommen waren, könnten einer hoch entwickelten Industrienation wie Deutschland vielleicht hier und da auch helfen.
Umgekehrt allerdings, das ist mir auch wichtig zu sagen, kann China von einem Land wie Deutschland eine ganze Menge ebenfalls lernen kann. Das ist nie eine einseitig Einbahnstraße.
Deutschlandradio Kultur: Das wollte ich gerade fragen. Und anders herum, auch politisch – Fragen der Demokratie oder Freiheit und Menschenrechte?
Zhengroung Liu: Ja, wir sollten erstmal nicht so weit gehen. Ich sage es mal aus meiner eigenen Praxis. Ich habe gelernt in den letzten sechs Jahren, wie viel Zeit der Unternehmensführung für Kommunikation mit den eigenen Mitarbeitern, aber auch Kommunikation mit den sonstigen so genannten Stakeholders, mit der Gemeinde, in der wir aktiv sind, mit der Politik und sonstigen drauf geht und wie sinnvoll diese Aktivitäten für Unternehmensführungen im heutigen Kontext sind. Das habe ich so in meiner Asienzeit nicht kennen gelernt.
Wenn Sie auf die politischen Herausforderungen zu sprechen kommen, denke ich, sollten wir hier als Europäer – ich zähle mich auch dazu – zwei Dinge voneinander unterscheiden. Dass wir, wo immer Werte, die in der europäischen Gesellschaft besonders wichtig sind und zum Kern dieser Gesellschaft gehören, verletzt werden, mit aller Deutlichkeit unsere Kritik äußern, das auch zum Thema machen, ist eine Seite der Medaille. Da gibt es gar keine Bedenken und sollte auch keiner dazu Bedenken haben. Und diese Meinung wird auch respektiert.
Die andere Seite ist: Wir sollten als Europäer oder als Außenstehende nicht sofort immer die Systemfrage stellen. Diese Frage müssen das chinesische Volk und die chinesische Bevölkerung selbst für sich beantworten, auch wenn es Zeit bedeutet, auch wenn es Zeit kostet. Dann soll es eben auch Zeit dafür geben.
Deutschlandradio Kultur: Aber täuscht der Eindruck, dass es die chinesische Führung im Moment wenig schert, wenn wir die Menschenrechte zum Beispiel ansprechen oder einklagen? Denn gleichzeitig laufen ja die Wirtschaftsbeziehungen brillant.
Zhengroung Liu: Erstens ist es sowieso ein Fehler zu glauben, Politik könnte alles richten. Gerade in der sehr schwierigen Frage einer gesellschaftlichen Transformation muss der Westen – wenn man den Westen pauschal als eine Wertegemeinschaft versteht – über unterschiedliche Kanäle mit der chinesischen Gesellschaft in den Dialog eintreten und in diesem Dialog auch bleiben. Das geschieht heute viel zu wenig. Und es wird zu sehr auf Politik geschaut, die nur noch sehr begrenzt Spielraum besitzt.
Wenn Sie explizit auf die Rolle der Wirtschaft zu sprechen kommen, muss ich eine Lanze für die Wirtschaft generell, aber auch für die deutsche Wirtschaft brechen. Die deutsche Wirtschaft und die europäische Wirtschaft hat eine maßgebliche positive Rolle in dem 30 Jahre andauernden Öffnungsprozess Chinas gespielt, gerade weil unsere Aktivität nicht miteinander abgesprochen worden ist.
Wir haben in den letzten zwei Dekaden so vielen Chinesen die Möglichkeit eröffnet, überhaupt erstmals die Welt außerhalb Chinas kennen zu lernen. Mit dieser Erfahrung kommen unweigerlich die Diskussionen über Werte, über unterschiedliche Vorstellungen zu Werten und Gesellschaftsordnungen. Natürlich gibt es handfeste wirtschaftliche Interessen, aber unser Engagement in China geht weit über dieses wirtschaftliche Interesse hinaus.
Deutschlandradio Kultur: Zunehmend wächst aber bei uns die Angst vor einer neuen chinesischen Weltherrschaft. Welche Etappe hat Peking auf dem Weg zu diesem Ziel inzwischen erreicht? Oder ist diese Angst eigentlich völlig unbegründet?
Zhengroung Liu: Nein, ich kann diese Angst gut verstehen. Und ich kann diese Angst – auch gerade vor dem Hintergrund der China-Rezeption, dem China-Bild, was in den Westen rüberkam – umso mehr verstehen. Reden Sie mit jemandem, der mehrere Jahre in China gearbeitet und gelebt hat, und da gibt es inzwischen eine hohe sechsstellige Zahl von Deutschen, die diese Erfahrung schon gemacht haben, haben Sie ein deutlich differenzierteres Bild.
China wird für uns – sowohl für die Wirtschaft wie auch für die europäische Politik – eine große Herausforderung bleiben, aber aus lauter Angst nur präventive Maßnahmen zu ergreifen, damit schneiden wir uns in Deutschland, als einer der größten Exportnationen der Welt, ins eigene Fleisch.
Also, das Rezept kann nur lauten: Wir müssen unterschiedliche Kanäle der Kommunikation nutzen. Wir müssen die in der Entstehung befindliche Pluralität der chinesischen Gesellschaft nutzen, um mit den Eliten der Zukunft Chinas zu diskutieren und zu debattieren.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie besetzen die Globalisierung weiterhin positiv, auch in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrisen. Billionen Dollar und Euro wurden an den internationalen Börsen weltweit in den letzten Tagen und Wochen vernichtet. Steht die Globalisierung jetzt vor dem Ende?
Zhengroung Liu: Nein, definitiv nicht. Als Globalisierungsoptimist kann ich aus Prinzip diese Ansicht nicht teilen. Allerdings würde ich einen anderen Beruf ausüben, wenn ich genau wüsste, was in den unmittelbar nächsten Tagen oder Wochen passieren wird.
Eins ist nur klar: Ein Unternehmen, ein gut geführtes Unternehmen kann sich nicht von momentanen Turbulenzen des Kapitalmarkts allein ablenken oder verunsichern lassen. Die so genannten fundamentalen Daten bleiben weiterhin intakt. Wenn ich auf unsere eigene Firma schaue, die eigene Stärke, die wir in den letzten Jahren aufgebaut haben, bleibt völlig unangetastet. Diese Stärke hat uns seit 2010 Rückenwind verliehen. Sollten sich wieder schlechte Zeiten ankündigen, wird uns diese Stärke wiederum den notwendigen Halt geben. Da bin ich sehr zuversichtlich. Und da gibt es auch keinen Grund, übernervös zu sein, schon gar nicht für kurzfristige Reaktionen.
Deutschlandradio Kultur: Allerdings drohen doch Konjunktureinbruch und Rezession. Die Aussichten sind wahrlich nicht rosig. Sehen Sie Auswege aus diesen Krisen?
Zhengroung Liu: Wir haben die Mütter aller Krisen gerade vor zwei Jahren erlebt. Die aufziehende neue Krise muss erst zeigen, dass sie das Jahr 2009 noch mal toppen könnte. Dafür sehe ich doch zu viele auch positive Anzeichen. Dafür hat die Politik, auch die Weltpolitik einige notwendige Vorkehrungen in dieser Zeit getroffen. Ja, es wird wahrscheinlich eine Korrektur geben. Große Fragezeichen gibt es hinsichtlich der USA. Aber es ist wirklich kein Grund zur Panik, vor allem, wenn man an die langfristige Wachstumsperspektive der Welt glaubt. Und diese langfristige Perspektive der Welt ist intakt – allein aufgrund des Bevölkerungswachstums. Wir werden in diesem Jahr die Siebenmilliardengrenze bei der Weltbevölkerung überschreiten. Ich weiß nicht, ob im Oktober oder November, das ist auch egal. In den nächsten 40 Jahren kommen noch weitere zwei Milliarden Menschen hinzu.
Wir reden hier beleibe nicht über deutsche und schon gar nicht amerikanische Lebensverhältnisse. Wir reden hier darüber, ausreichend annähernd adäquate Lebensbedingungen für diese zusätzlichen zwei Milliarden Menschen zu geben – ob jetzt trinkbares Wasser, ob eine rudimentäre Mobilität und dies und jenes. Darin liegt der grundlegende Trend der Weltwirtschaft. Und hier sehe ich eine ganze Reihe von Potenzialen, welche wir wieder – ich weiß nicht wann – auf einen gesunden Wachstumspfad zurückführen werden.
Deutschlandradio Kultur: Welche sind das? Wenn ich Sie höre, sagen Sie, langfristige Perspektiven sind intakt. Wo steht da Deutschland? Können wir zum Beispiel unser Lohn- und Sozialniveau weiterhin halten?
Zhengroung Liu: Deutschland ist erst einmal als ein Lösungsanbieter besonders gut gefragt. Ob Sie auf die Maschinenbauer schauen oder auf uns, die Chemie. Wir sind einer der größten Lösungsanbieter für die Nachhaltigkeitsfragen der Zukunft. Deutschland ist in dieser Rolle nicht nur hier in Europa gefragt, sondern weltweit. Deswegen, wenn ich an den Export von Ideen, Konzepten und Know-how denke, denke ich zunächst einmal an diese Dinge.
Ob die sozialen Rahmenbedingungen so ohne weiteres exportierbar sind, wird sich in der Praxis zeigen. Aber auch hier gibt es gute Anzeichen. Wenn ich noch mal das Beispiel China nehmen darf, das Arbeitsgesetz in China ist sehr stark am deutschen Vorbild angelehnt. Dazu hat auch der deutsch-chinesische Rechtsdialog einen maßgeblichen Beitrag geleistet. Wie gut die Umsetzung im Alltag ist, steht auf einem anderen Blatt, aber das chinesische Gesetz – auch für die Arbeitsmarktregulierung – ist sehr nach deutschen Vorbild gemacht. Auch hier, wenn Sie so wollen, gibt es Exporterfolg zu vermelden – in bescheidenem Umfang.
Deutschlandradio Kultur: Herr Liu, vielen Dank für dieses Gespräch.