Unsere multiple Moral
Wenn ein 39-jähriger Mann mit einem sechzehnjährigen Mädchen eine sexuelle Beziehung eingeht, bleibt es nicht aus, dass diese Paarkonstellation in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt, Besorgnisse weckt, auf Vorbehalte stößt.
Gewiss soll man sich als Privatier und Nachrichtenkonsument eingehend mit den daraus folgenden privaten und gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen dürfen, aber im politischen Raum haben sie nichts zu suchen und gehören nach bewährter demokratischer Übereinkunft aus ihm verbannt.
Im Falle von Boetticher ist dem geltenden Recht und Gesetz Genüge getan und über den Vorgang wäre kein Wort zu verlieren gewesen, wenn es der Bundeskanzlerin und der Führungsriege der schleswig-holsteinischen CDU in ihrer endlichen Weisheit nicht gefallen hätte, ihren Ministerpräsidentschaftskandidaten darüber stolpern zu lassen. Der Mann geht, das Unbehagen bleibt und dieses Unbehagen gilt nicht einer Liebe, die der bußfertige Beschuldigte auf Geheiß seiner politischen Freunde im Nachhinein zum moralischen Fehltritt herabwürdigte.
Zur Erinnerung: Vor rund 80 Jahren, im April 1932, äußert sich Kurt Tucholsky in der Berliner ‚Weltbühne’ zum Versuch der linksradikalen Presse, den SA-Führer Röhm durch die Enthüllung dessen homosexueller Neigungen zu Fall bringen. "Seine Veranlagung", schreibt der unbestechliche Tucholsky, "widerlegt den Mann nicht. Er kann durchaus anständig sein, solange er seine Stellung nicht dazu missbraucht, von ihm abhängige Menschen aufs Sofa zu ziehen, und dafür liegt auch nicht der kleinste Beweis vor … Hat Röhm öffentliches Ärgernis erregt? Nein. Hat er sich an kleinen Jungen vergriffen? Nein. Hat er bewusst Geschlechtskrankheiten übertragen? Nein. Das und nur das unterliegt der öffentlichen Kritik und sonst nichts - alles andere ist seine Sache." Und dann formuliert Tucholsky mit der ihm eigenen Drastik und Lakonie die bis heute gültige Grundregel der politischen Auseinandersetzung: "Man soll seinen Gegner nicht im Bett aufsuchen."
Es wäre überflüssig, den immer wieder mal ins Schlafzimmer von Parteifreunden eindringenden Saubermännern zu bescheinigen, dass ein Politiker, der sich solcher Freunde rühmen kann, keine Feinde mehr braucht - wenn nicht in diesem Einbruch in die Privatsphäre eines Angehörigen der politischen Klasse darüber hinaus etwas zutage träte, was sich als im Faltenwurf markiger Standfestigkeit daher kommende Prinzipienlosigkeit des gegenwärtigen Regierungslagers bezeichnen ließe. Die Belege für die Ausbreitung einer multiplen Moral, das heißt eines von schwankenden kollektiven Stimmungslagen, medial evozierten Erregungszuständen und demoskopischen Momentaufnahmen geleiteten Handelns mehren sich von Tag zu Tag.
Der nach der Havarie von Fukushima im Affektsturm vollzogene Salto mortale rückwärts in der Atomenergiepolitik und die damit einhergehende Abhängigkeit von Gasimporten aus dem despotisch regierten Russland. Die ebenso feige wie verklemmte Stimmenthaltung im Weltsicherheitsrat bei der militärischen Durchsetzung des Flugverbots über Libyen. Der von Erwin Teufel und führenden Ökonomen konstatierte permanente Verstoß gegen die No-Bailout-Klausel der Maastrichter Verträge. Die als alternativlos bezeichnete, generationsübergreifende Zwangsverschuldung der deutschen Steuerzahler bei der Beschickung eines bodenlosen Fasses, das sich Eurozone nennt.
Die von Angela Merkel zugunsten eines freiherrlichen Charakterdarstellers aus dem Hut gezauberte Zwei-Körper-Theorie, der zufolge sie keinen wissenschaftlichen Assistenten, sondern einen Verteidigungsminister ins Amt berufen habe. Kaum ist ihre Gefolgschaft in der Causa Guttenberg darauf eingeschworen, die Sphäre der Politik fortan von der Rechtssphäre zu trennen, macht sie an der Kieler Förde mit der umgekehrten Argumentation Druck: Nach der Geschichte mit dem Mädchen sei von Boetticher nicht ins Amt zu hieven, geschweige denn in ihm zu halten.
Lavieren, täuschen, abducken, aussitzen und ein Volk bei Laune halten, von dem Botho Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu wissen glaubt, dass es "verwöhnt, bequem, leicht reizbar und hypochondrisch" sei. Das Urteil seines toten Kollegen Kurt Tucholsky erscheint mir prägnanter und zutreffender: "Das Volk ist doof, aber gerissen." Und auf sein Langzeitgedächtnis ist Verlass. Zumindest bis zur nächsten Bundestagswahl.
Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt am Main. Buchveröffentlichungen unter anderem: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main, 2000. "Zeit des Zorns. Tagebuch einer Trauer", Freiburg 2011.
Im Falle von Boetticher ist dem geltenden Recht und Gesetz Genüge getan und über den Vorgang wäre kein Wort zu verlieren gewesen, wenn es der Bundeskanzlerin und der Führungsriege der schleswig-holsteinischen CDU in ihrer endlichen Weisheit nicht gefallen hätte, ihren Ministerpräsidentschaftskandidaten darüber stolpern zu lassen. Der Mann geht, das Unbehagen bleibt und dieses Unbehagen gilt nicht einer Liebe, die der bußfertige Beschuldigte auf Geheiß seiner politischen Freunde im Nachhinein zum moralischen Fehltritt herabwürdigte.
Zur Erinnerung: Vor rund 80 Jahren, im April 1932, äußert sich Kurt Tucholsky in der Berliner ‚Weltbühne’ zum Versuch der linksradikalen Presse, den SA-Führer Röhm durch die Enthüllung dessen homosexueller Neigungen zu Fall bringen. "Seine Veranlagung", schreibt der unbestechliche Tucholsky, "widerlegt den Mann nicht. Er kann durchaus anständig sein, solange er seine Stellung nicht dazu missbraucht, von ihm abhängige Menschen aufs Sofa zu ziehen, und dafür liegt auch nicht der kleinste Beweis vor … Hat Röhm öffentliches Ärgernis erregt? Nein. Hat er sich an kleinen Jungen vergriffen? Nein. Hat er bewusst Geschlechtskrankheiten übertragen? Nein. Das und nur das unterliegt der öffentlichen Kritik und sonst nichts - alles andere ist seine Sache." Und dann formuliert Tucholsky mit der ihm eigenen Drastik und Lakonie die bis heute gültige Grundregel der politischen Auseinandersetzung: "Man soll seinen Gegner nicht im Bett aufsuchen."
Es wäre überflüssig, den immer wieder mal ins Schlafzimmer von Parteifreunden eindringenden Saubermännern zu bescheinigen, dass ein Politiker, der sich solcher Freunde rühmen kann, keine Feinde mehr braucht - wenn nicht in diesem Einbruch in die Privatsphäre eines Angehörigen der politischen Klasse darüber hinaus etwas zutage träte, was sich als im Faltenwurf markiger Standfestigkeit daher kommende Prinzipienlosigkeit des gegenwärtigen Regierungslagers bezeichnen ließe. Die Belege für die Ausbreitung einer multiplen Moral, das heißt eines von schwankenden kollektiven Stimmungslagen, medial evozierten Erregungszuständen und demoskopischen Momentaufnahmen geleiteten Handelns mehren sich von Tag zu Tag.
Der nach der Havarie von Fukushima im Affektsturm vollzogene Salto mortale rückwärts in der Atomenergiepolitik und die damit einhergehende Abhängigkeit von Gasimporten aus dem despotisch regierten Russland. Die ebenso feige wie verklemmte Stimmenthaltung im Weltsicherheitsrat bei der militärischen Durchsetzung des Flugverbots über Libyen. Der von Erwin Teufel und führenden Ökonomen konstatierte permanente Verstoß gegen die No-Bailout-Klausel der Maastrichter Verträge. Die als alternativlos bezeichnete, generationsübergreifende Zwangsverschuldung der deutschen Steuerzahler bei der Beschickung eines bodenlosen Fasses, das sich Eurozone nennt.
Die von Angela Merkel zugunsten eines freiherrlichen Charakterdarstellers aus dem Hut gezauberte Zwei-Körper-Theorie, der zufolge sie keinen wissenschaftlichen Assistenten, sondern einen Verteidigungsminister ins Amt berufen habe. Kaum ist ihre Gefolgschaft in der Causa Guttenberg darauf eingeschworen, die Sphäre der Politik fortan von der Rechtssphäre zu trennen, macht sie an der Kieler Förde mit der umgekehrten Argumentation Druck: Nach der Geschichte mit dem Mädchen sei von Boetticher nicht ins Amt zu hieven, geschweige denn in ihm zu halten.
Lavieren, täuschen, abducken, aussitzen und ein Volk bei Laune halten, von dem Botho Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu wissen glaubt, dass es "verwöhnt, bequem, leicht reizbar und hypochondrisch" sei. Das Urteil seines toten Kollegen Kurt Tucholsky erscheint mir prägnanter und zutreffender: "Das Volk ist doof, aber gerissen." Und auf sein Langzeitgedächtnis ist Verlass. Zumindest bis zur nächsten Bundestagswahl.
Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt am Main. Buchveröffentlichungen unter anderem: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main, 2000. "Zeit des Zorns. Tagebuch einer Trauer", Freiburg 2011.