"Unser Verhältnis zu Städten und Häusern muss sich drastisch ändern"

Moderation: Jürgen König · 02.07.2008
Anlässlich des Internationalen Architektenkongresses in Turin appelliert Teilnehmer Matthias Sauerbruch an Städte- und Häuserplaner, sich nicht nur auf Fragen der Gestaltung zurückzuziehen. Auch Architekten müssten Energieverbrauch und Ressourceneinsatz mit berücksichtigen und Orte schaffen, an denen Menschen gern sein mögen und für deren Erhalt sie sich einsetzen.
Jürgen König: Was für Städte, was für Häuser, welche Infrastruktur müssen wir jetzt planen, um gegen die Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein - das diskutiert der Internationale Architektenkongress in Turin. Einen Vortrag, Bauen für die Zukunft, hält der deutsche Architekt Matthias Sauerbruch vom Büro Sauerbruch & Hutton mit Sitz in London und Berlin. Für viele Architekturkritiker gehört Matthias Sauerbruch zu den herausragenden deutschen Architekten. Er baut ganze Stadtlandschaften licht, schwungvoll, sehr farbenfroh. Seine Bauten müssen von sinnlicher Qualität, ökologisch vernünftig und funktional sein, so hat er es selber mal gesagt. Guten Tag, Herr Sauerbruch.

Matthias Sauerbruch: Guten Tag.

König: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen der Zukunft an die Architekten?

Sauerbruch: Wir stehen tatsächlich vor einer geradezu gigantischen Herausforderung im Augenblick, denn die ganzen Daten, die uns die Wissenschaft liefert, die zwar teilweise diskutiert werden, aber doch eigentlich relativ einhellig in eine Richtung gehen, zeigen darauf hin, dass der ganze Verbrauch von nichterneuerbaren Energien und anderen Ressourcen auf der Welt derartig auf dem Ruder gelaufen ist, dass sich unser ganzes Verhältnis zu unseren Städten, zu unseren Häusern, natürlich zu allem anderen auch, Autos, Lebensstil, wirklich drastisch ändern muss, wenn wir nicht in eine große Katastrophe laufen wollen.

Und das betrifft natürlich das Bauen auch wie jeden anderen Bereich. Die Bauindustrie oder das Bauen generell, also alles, was mit Konstruktion und Architektur und Häuserbauen, Straßenbauen und so weiter zu tun hat, nimmt in etwa 50 Prozent des Energieverbrauchs in Anspruch, den westliche Gesellschaften produzieren. Und da kann sicher viel getan werden.

König: Nun hat man früher das Niedrigenergie-Haus entwickelt, hat damit in vergleichsweise kleinen Großstädten wie Berlin zum Beispiel oder München auch gute Ergebnisse zeitigen können. Nun haben wir es weltweit mit dem Zustand zu tun, dass die Mega-Citys wie Mexiko oder Shanghai rasant wachsen. Lassen sich ökologische Baulösungen im großen Maßstab anwenden?

Sauerbruch: Also manchmal hat man schon ein bisschen das Gefühl, als wäre das der Don Quichotte, der gegen die Windmühlen kämpft, oder Tropfen auf heiße Steine und so weiter. Aber es gibt natürlich unterschiedliche Maßstäbe des Angriffs oder der Strategie. Man kann auch mit einen Maßstab der Stadt mit einer oder zwei Strategien natürlich wesentlich viel mehr erreichen als mit einem einzelnen Haus. Umgekehrt muss man natürlich sagen, da eben solche großen Entscheidungen immer wieder von der Politik und von komplexen Zusammenhängen abhängig sind, die dann auch dazu führen, dass die Dinge nicht durchgeführt werden, ist die Akkumulation der vielen kleinen Maßnahmen vielleicht sogar am Ende sogar das Wirksamere.

Wenn Sie jetzt von Mexiko-City sprechen, dann zum Beispiel, das gilt natürlich auch für andere Städte, ist der Verkehr einfach ein riesiges Thema. Der öffentliche Nahverkehr funktioniert nur sehr fragmentarisch dort. Die durchschnittliche Pendelzeit pro Tag ist, glaube ich, eine Stunde pro Einwohner. Es gibt eine sehr starke Unterscheidung zwischen Arm und Reich zwischen West- und Ostteil der Stadt. Es fahren die Leute hin und her, weil die Armen bei den Reichen arbeiten und dann wieder nach Hause fahren. Und da könnte man natürlich beispielsweise durch eine vernünftige Verkehrsstrategie, durch ein gutes Bussystem oder ich weiß nicht was, irgendein anderes Verkehrssystem, was halt Massen transportiert und nicht Einzelne, könnte man wesentlich mehr erreichen als durch den Einbau von irgendwelchen Erdwärmetauschern in einzelnen Häuser.

König: Das sind ja nun Aufgaben für Verkehrsplaner, für Stadtentwickler, inwieweit auch für Architekten?

Sauerbruch: Das ist ein anderer Aspekt, der sozusagen mit dieser ganzen Aufgabenstellung einhergeht, dass wir uns als Architekten eben nicht nur zurückziehen können auf die Gestaltung - ich meine, das konnten wir im Grunde genommen nie, aber es wird immer weniger der Fall sein, immer weniger zurückziehen können auf bloß noch Fragen der Gestaltung. Sondern man muss schon versuchen, gesamtheitlich zu denken, man muss also versuchen, Häuser als Teil der Stadt zu sehen und natürlich auch im Haus jetzt eben nicht nur auf die Materialität und auf die Oberfläche und die Konstruktion noch zu denken, sondern man muss auch darüber nachdenken, wie ein Haus funktioniert, was für ein System es darstellt, wie es Energie einsetzt und so weiter und so fort. Da ist so ein bisschen übergreifendes, integriertes Denken gefragt.

König: Das heißt, Architektur hier begriffen als Wissenschaft, die eben Technik und Ästhetik verbindet?

Sauerbruch: Ja, Wissenschaft und Kunst auch. Also das kommt noch als Komplikation dazu, weil es ist sicher nicht nur ein technisches Gebilde oder System, sondern es ist ja in erster Linie ein Ort, an dem die Menschen leben wollen, an dem sie sich zu Hause fühlen wollen, der ihnen nützlich sein soll und so weiter. Und da spielen ja sehr viele subjektive Komponenten mit hinein.

Also wenn wir heute von nachhaltiger Architektur sprechen, dann ist das sicherlich nicht nur eine Frage von Energieverbrauch oder Ressourceneinsatz, sondern es ist natürlich auch die Frage, inwieweit die Menschen an einem Ort sein mögen, inwieweit sie einen Ort schätzen, inwieweit sie den Ort auch pflegen und erhalten und nachhaltig zu einem Überleben sichern. Das hängt sehr viel auch von der Zuneigung, von dem Gefühl ab, was Menschen einem Ort entgegenbringen.

König: In der Wüste des Emirats Abu Dhabi wird eine Stadt geplant, Masdar, die ganz ohne Emissionen auskommen soll. Kann das eine Modellstadt der Zukunft werden?

Sauerbruch: Das ist nicht die einzige, es gibt noch einige andere Modellstädte dieser Art. Das sind erste Versuche tatsächlich von Städten, wie wir sie eigentlich bräuchten. Ich kenne die Projekte jetzt nicht so im Detail, als dass dich darüber viel urteilen könnte. Aber grundsätzlich muss man sagen, dass diese Art von Experimenten eigentlich sehr wertvoll sind, selbst wenn sie vielleicht auch nicht hundertprozentig gelingen, aber uns eben doch Daten und Erfahrungen liefern, die auch für andere Städte unbedingt notwendig sind im Augenblick.

König: Welche anderen Möglichkeiten visionären Bauens sehen Sie, neue Techniken zum Beispiel, die das Wohnen, vielleicht den ganzen Städtebau verändern könnten?

Sauerbruch: Also ich glaube, dass dieser einzelne Faktor, wie ich vorhin schon sagte, ich glaube, das ist im Grunde genommen der wichtigste und alles durchdringende Faktor, nachdem sich eigentlich auch der Städtebau der Zukunft sozusagen zu orientieren hat. Ich glaube, wenn man das mal sehr extrem sagen möchte, dann müssen eigentlich die Städte der Zukunft mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen.

Das heißt also, wir müssen darüber nachdenken, wie können wir auch dezentral in Städten Energie produzieren. Das müssen natürlich erneuerbare Energien sein, denn der nächste Punkt ist eigentlich, dass die Städte der Zukunft keinen Kohlendioxid mehr produzieren dürfen. Das heißt also, wenn der Verkehr beispielsweise Kohlendioxid produziert, müssten Flächen zur Verfügung stehen, die das wieder absorbieren, sprich Wälder oder Parks oder sonst irgendwie Dinge, wo die Photosynthese das Kohlendioxid wieder aus der Atmosphäre zieht.

Wir müssten eigentlich in unseren Städten mit dem Müll in der Stadt zurecht kommen. Das heißt, wir müssten sehen, dass wir Müll entweder rezyklieren oder verbrennen oder wie auch immer, eben keine Flächen belasten außerhalb unseres Wohnorts. Und wir müssten eigentlich auch das Wasser autark managen. Das sind alles Punkte, die in den traditionellen Stadtmodellen eigentlich nicht vorkommen. Das heißt, wir müssen an der Stelle wirklich neu denken.

Ich würde mal sagen, das andere große Thema, was Architektur und Städtebau und die ganze Kultur und Gesellschaft im Augenblick generell betrifft, ist die Digitalisierung, die ja alles durchdringt, von Musik über Film, über die Art und Weise, wie wir kommunizieren, also eigentlich unser gesamtes Leben erfasst hat. Und das gilt natürlich auch für die Architektur. Wir haben durch digitale Techniken vollkommen neue Möglichkeiten. Es gibt sowohl in der Art und Weise, wie beispielsweise Häuser konstruiert werden und berechnet werden, wahnsinnig große Fortschritte. Auch die Art und Weise, wie Häuser entworfen werden, hat sich verändert. Es wird eben sehr viel am Computer gearbeitet, und auch die Räumlichkeit, Dreidimensionalität von Häusern über Computerprogramme ermittelt.

Und es geht auch in die Produktion hinein, insofern als schon heute das sogenannte CAM, das Computer Aided Manufacturing eine große Rolle spielt, beispielsweise für Fassadenteile oder Ausbauteile, die vollkommen vorgefertigt schon auf die Baustelle kommen, in der Fabrik quasi wie Autos oder so robotergefertigt werden. Das sind einfach neue Techniken, neue Methoden, die vieles erleichtern, die rationalisieren, die die Produktion billiger, effizienter machen, aber auch technisch neue Möglichkeiten eröffnen, und auch teilweise vollkommen neue Formwelten erschließen.

König: Der Weltkongress der Architekten findet alle drei Jahre statt, früher mit mehr als 10.000 Teilnehmern, in den letzten Jahren gingen die Zahlen dann zurück. Dennoch, der Rahmen bleibt ein sehr großer. Sie sind jetzt in Turin. Haben Sie das Gefühl, die Probleme der Zukunft da noch vernünftig debattieren zu können auf dem Kongress?

Sauerbruch: Also debattieren kann man die auf alle Fälle, und das passiert auch und das ist auch sehr interessant, weil wirklich ein globaler Blickwinkel zusammenkommt. Es gibt Delegierte aus praktisch allen Ländern des Globus. Inwieweit das dann natürlich dann in Politik oder überhaupt Einfluss findet in der Realität, ist eine andere Frage. Aber allein der Austausch – ich habe jetzt gerade heute Morgen mit einer Kuratorin eines Instituts in New York gefrühstückt, die mir erzählte von dem Plan, den New York gerade herstellt für die nachhaltige Entwicklung von der Stadt und des Bundesstaates.

Und das ist einfach eine unheimlich interessante Information, und die Diskussion, die da rüber kommt, und der Austausch von der Erfahrung ist natürlich für alle Beteiligten extrem wertvoll. Und das findet in diesen vier Tagen jetzt hier in Turin sehr erfolgreich statt. Ich war gestern Abend auf einem der großen Plätze, da war eine große Diskussion unter freiem Himmel, der ganze Platz war gefüllt, da waren sicherlich mehrere tausend Leute da und haben zugehört. Das ist schon ein Anlass, an dem sehr viel Information ausgetauscht wird, umgewälzt wird und dann eben auch wieder über die Welt verteilt wird.

König: Bauen für die Zukunft. Ein Gespräch mit dem Architekten Matthias Sauerbruch, zur Zeit in Turin beim internationalen Architektenkongress. Herr Sauerbruch, vielen Dank und weiterhin schöne Tage in Turin.

Sauerbruch: Besten Dank.