Unschuldige „Bösewichte“

Rezensiert von Lutz Bunk |
Fast die ganze Welt ist sich darüber einig, dass das US-Gegangenenlager Guantanamo geschlossen werden müsste. Gleichzeitig hat bislang kaum jemand danach gefragt, wer die Menschen sind, die dort gefangen gehalten werden. Roger Willemsen ist dieser Frage nachgegangen und hat ehemalige Häftlinge interviewt. Mit seinem Buch „Hier spricht Guantanamo“ gibt er nicht nur Auskunft über fünf Schicksale, sondern entlarvt zugleich unsere alltäglich-mediale Islam- und Terroristen-Paranoia.
Zwei Bücher gleichzeitig bringt der deutsche Journalist und Schriftsteller Roger Willemsen im Moment heraus: einmal „Afghanische Reise“, ein Reisebericht, – und auf eben jener Afghanistan-Reise stieß Willemsen auf einen zweiten Buch-Stoff: Er traf einen ehemaligen Häftling des amerikanischen Gefängnisses auf Kuba, bekannt unter dem Namen Guantanamo.

Der britische Außenminister Jack Straw verglich Guantanamo mit stalinistischen Terror-Lagern, Angela Merkel forderte Präsident Bush auf, das Lager zu schließen; die Welt ist sich einig. Nur hat bisher niemand danach gefragt, wer denn eigentlich jene Menschen sind, die in Guantanamo gefangen gehalten werden. Dieser Frage ist also Roger Willemsen in seinem neuen Buch „Hier spricht Guantanamo " nachgegangen, in dem er fünf Interviews mit ehemaligen Häftlingen präsentiert, die als unschuldig entlassen wurden.

In seinem Vorwort schreibt Willemsen: Über Guantanamo sei sicherlich alles gesagt. Nur wüssten wir eigentlich gar nicht, was die Betroffenen selbst, die Häftlinge dazu zu sagen hätten. Und diese Schelte geht zu Recht und bewusst auch an die deutschen Journalisten-Kollegen: Wir sprechen und wir diskutieren über Menschen, die wir gar nicht kennen. Und diese unsichtbare Medien-Wand bricht Willemsen auf, – ganz trocken und nüchtern. Da wird vielleicht manch ein Leser überrascht oder enttäuscht sein, dass er sich erstmal mit der Lebensgeschichte zum Beispiel eines palästinensisch-jordanischen Gewürzhändlers beschäftigen muss. Willemsen gibt dem Medien-Ereignis Guantanamo ein Gesicht und entlarvt damit auf der anderen Seite auch unsere alltäglich-mediale Islam- oder Terroristen-Paranoia.

Das Gefängnis Guantanamo besteht seit über vier Jahren. Amnesty International spricht von Folter; anderthalb Jahre Einzelhaft könnte man wohl als Folter bezeichnen. Die Wachen lernen dazu: Nachdem ein Schäferhund einem Häftling den Finger abgebissen hat, dürfen die Hunde nicht mehr an die Häftlinge heran. Das ganze Guantanamo-Lager stellt sich als eine vollkommen bizarre Einrichtung heraus: Zum Beispiel bekommt jeder neue Häftling einen eigenen Koran, darf fünfmal am Tag beten und in jeder Zelle ist ein Wegweiser aufgemalt, der die Richtung anzeigt, in der Mekka liegt.

Willemsens Interviews entlarven Guantanamo: Guantanamo selbst ist eine mediale, rein innenpolitische Propaganda-Aktion für die amerikanische Öffentlichkeit: Seht her, wir haben die Bösewichter, und bei uns bekommen sie den Koran auf den Nachttisch.

Guantanamo ist nur die winzige Spitze eines Eisberges: In Afghanistan halten die USA bei Bagram und bei Kandahar mindestens weitere 13.000 Häftlinge in Haft.

„Hier spricht Guantanamo " ist ein uneingeschränkter Lesetipp: ein wirklich faszettenreiches, vielerlei erhellendes Buch. Und es ist ein Buch, das äußerst überfällig war. Und es gibt unserer permanenten Islam- und Terroristenangst ein ganz neues, manchmal beschämendes Gesicht.

Roger Willemsen: Hier spricht Guantanamo. Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge
Unter Mitarbeit von Nina Tesenfitz (amnesty international)
Zweitausendeins Verlag 2006
237 Seiten, 12.95 Euro