Unruhig flackerndes Sprechen
Ilse Aichinger gehört zu den kreativsten und bedeutendsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Zu ihrem 90. Geburtstag hat <em>speak low</em> eine Collage aus Stimmen und Texten zusammengestellt, die uns im besten Sinne aufrührt.
Ilse Aichinger: "Das Schreiben ist eigentlich, jedenfalls ist es bei mir so, eine Art Ernte. Es geht mir so wie dem Jongleur Rastelli, vom dem Walter Benjamin schreibt, man hat ihn gefragt, wie er das macht mit diesen Bällen - und sicher müssen Sie sehr viel üben, hat man ihn gefragt – und da hat er gesagt, ich muss sehr viel üben, aber ich muss deshalb sehr viel üben, damit ich mich müd’ mache und aus dem Spiel herauskomme. Damit meine Hände allein bleiben, ohne mich."
Ihr literarisches Werk ist von einem unruhig flackernden Sprechen erfüllt, wo Abschiede das Sagen haben und jeder Ankunft mit Misstrauen begegnet wird. Ilse Aichinger, 1921 als Zwilling geboren, die Mutter Jüdin, entgeht der Deportation, weil sie ein sogenannter "Mischling ersten Grades" ist. Ein Schutzschild, der auch das Leben der Mutter rettet.
Ilse Aichinger: "Wenn ich weggezogen wäre, wäre sie sofort auch weggekommen. Sie hat überlebt, aber ihre Mutter, ihre Geschwister und viele, viele meiner Freunde haben es nicht überlebt. Und viele von ihnen wussten es, dass sie es nicht überleben würden."
Die um wenige Minuten jüngere Zwillingsschwester Helga wird im Juli 1939 mit einem Kindertransport der Quäker nach England verschickt. Dort überlebt sie den Krieg, kehrt aber nicht nach Deutschland zurück. Für Ilse Aichinger tut sich eine existenzielle Leerstelle auf, die ihr Werk wie eine blinde Spiegelung durchzieht.
Corinna Kirchhoff: "Abgezählt
Der Tag, an dem du ohne Schuhe ins Eis kamst.
Der Tag, an dem die beiden Kälber zum Schlachten getrieben wurden.
Der Tag, an dem ich mir das linke Auge durchschoss, aber nicht mehr.
Der Tag, an dem in der Fleischerzeitung stand, das Leben geht weiter.
Der Tag, an dem es weiter ging."
Corinna Kirchhoff fängt die Worte wie Bälle jenes Jongleurs Rastelli auf. Keine Silbe entgleitet ihr, kein Ton wird verfehlt. Bevor der Text überhaupt hörbar wird, umhüllt ihn schützend ein hauchdünner Atemmantel. Hier spricht sich etwas aus, das weder Raum noch Zeit beansprucht. Eine Wirklichkeit, der man nachschweigen muss.
Peter Handke: "Es gibt Andeutungen von Räumen, aber mit den Räumen wird eigentlich fast nur gespielt, so als ob es die Räume gar nicht gibt. Die Räume kommen sozusagen nur als Ironie vor bei ihr.
Aber Räume selber werden von Ilse Aichinger nie umrissen, nie beschrieben und es gibt auch kein Vertrauen in Räume bei ihr."
Peter Handkes Annäherung an Ilse Aichingers Werk stellt eine eigene akustische Dimension des Hörbuchs und einen analytischen Gewinn dar. Zaghaft, fast scheu folgt er den Spuren von Zerrissenheit und Zerstörung in dieser Erzählwelt. Und vermag damit jene Bedrohung einzukreisen, aus der ihr Schreiben seine Kraft und Hoffnung bezieht.
Peter Handke: "Ich hab’ großes Vertrauen dadurch zu dem, was sie schreibt, dass sie nie über das hinausgeht, was sie als Rhythmus, als Dringlichkeit und als Wahrhaftigkeit in sich spürt. Sie lässt sich nie gehen."
Obwohl bereits 1948 ihr Romandebüt "Die größere Hoffnung" erscheint, gelingt Ilse Aichinger erst 1952 der literarische Durchbruch. Auf einer Tagung der "Gruppe 47" liest sie ihre "Spiegelgeschichte" und erhält dafür den Preis der Gruppe. Dort begegnet sie auch dem Schriftsteller Günter Eich, den sie 1953 heiratet. Nähe und Vertrauen begründen sich in der gemeinsamen Suche nach Sprache. Glück bedeutet, voneinander zu wissen, was es heißt, schreiben zu müssen.
Ilse Aichinger "Wir haben oft von Büchern gesagt, oder er hat mir gesagt, lies das nicht weiter, das hat keine Sprache. Und damit hat er, glaub ich, genau auch das gemeint, was ich mein’: kein Schweigen in sich."
Corinna Kirchhoff: "Meine Sprache und ich: Ich werde tun, was ich für sie tun kann. Die Unterhaltung allein wird ihr helfen, das Gespräch über sie, die Beobachtungen, die sich wiederholen. Man wird mit der Zeit nichts mehr von ihr wollen und ich werde das Meinige dazutun. Ich werde hier und dort einen Satz einflechten, der sie unverdächtig macht."
Ilse Aichingers Wortarbeit ist radikal. speak low hat mit einer klugen Auswahl aus den Erzählungen, Gedichten und Interviews eine Poetik des Schweigens umrissen, die in der deutschen Literaturlandschaft beispiellos ist. Weiche Ein- und Ausblendungen sowie kommentarlose Schnittstellen erzeugen ein Nachdenken, das in die Tiefe führt.
Ilse Aichinger: "Chinesischer Abschied
Wir legen uns heute nieder,
doppelt nieder,
wer uns wecken will,
möge es sanft tun,
er möge seine Stimme schonen
und auch sein Herz,
denn beide sind kostbar."
Besprochen von Carola Wiemers
Ilse Aichinger: Schriftstellerin
speak low, Berlin 2011
Regie: Vera Teichmann/Harald Krewer, mit Ilse Aichinger, Corinna Kirchhoff, Peter Handke, Michael Krüger
1 CD mit 20-seitigem Begleitheft
Laufzeit 77 Minuten, 18,90 Euro
Ihr literarisches Werk ist von einem unruhig flackernden Sprechen erfüllt, wo Abschiede das Sagen haben und jeder Ankunft mit Misstrauen begegnet wird. Ilse Aichinger, 1921 als Zwilling geboren, die Mutter Jüdin, entgeht der Deportation, weil sie ein sogenannter "Mischling ersten Grades" ist. Ein Schutzschild, der auch das Leben der Mutter rettet.
Ilse Aichinger: "Wenn ich weggezogen wäre, wäre sie sofort auch weggekommen. Sie hat überlebt, aber ihre Mutter, ihre Geschwister und viele, viele meiner Freunde haben es nicht überlebt. Und viele von ihnen wussten es, dass sie es nicht überleben würden."
Die um wenige Minuten jüngere Zwillingsschwester Helga wird im Juli 1939 mit einem Kindertransport der Quäker nach England verschickt. Dort überlebt sie den Krieg, kehrt aber nicht nach Deutschland zurück. Für Ilse Aichinger tut sich eine existenzielle Leerstelle auf, die ihr Werk wie eine blinde Spiegelung durchzieht.
Corinna Kirchhoff: "Abgezählt
Der Tag, an dem du ohne Schuhe ins Eis kamst.
Der Tag, an dem die beiden Kälber zum Schlachten getrieben wurden.
Der Tag, an dem ich mir das linke Auge durchschoss, aber nicht mehr.
Der Tag, an dem in der Fleischerzeitung stand, das Leben geht weiter.
Der Tag, an dem es weiter ging."
Corinna Kirchhoff fängt die Worte wie Bälle jenes Jongleurs Rastelli auf. Keine Silbe entgleitet ihr, kein Ton wird verfehlt. Bevor der Text überhaupt hörbar wird, umhüllt ihn schützend ein hauchdünner Atemmantel. Hier spricht sich etwas aus, das weder Raum noch Zeit beansprucht. Eine Wirklichkeit, der man nachschweigen muss.
Peter Handke: "Es gibt Andeutungen von Räumen, aber mit den Räumen wird eigentlich fast nur gespielt, so als ob es die Räume gar nicht gibt. Die Räume kommen sozusagen nur als Ironie vor bei ihr.
Aber Räume selber werden von Ilse Aichinger nie umrissen, nie beschrieben und es gibt auch kein Vertrauen in Räume bei ihr."
Peter Handkes Annäherung an Ilse Aichingers Werk stellt eine eigene akustische Dimension des Hörbuchs und einen analytischen Gewinn dar. Zaghaft, fast scheu folgt er den Spuren von Zerrissenheit und Zerstörung in dieser Erzählwelt. Und vermag damit jene Bedrohung einzukreisen, aus der ihr Schreiben seine Kraft und Hoffnung bezieht.
Peter Handke: "Ich hab’ großes Vertrauen dadurch zu dem, was sie schreibt, dass sie nie über das hinausgeht, was sie als Rhythmus, als Dringlichkeit und als Wahrhaftigkeit in sich spürt. Sie lässt sich nie gehen."
Obwohl bereits 1948 ihr Romandebüt "Die größere Hoffnung" erscheint, gelingt Ilse Aichinger erst 1952 der literarische Durchbruch. Auf einer Tagung der "Gruppe 47" liest sie ihre "Spiegelgeschichte" und erhält dafür den Preis der Gruppe. Dort begegnet sie auch dem Schriftsteller Günter Eich, den sie 1953 heiratet. Nähe und Vertrauen begründen sich in der gemeinsamen Suche nach Sprache. Glück bedeutet, voneinander zu wissen, was es heißt, schreiben zu müssen.
Ilse Aichinger "Wir haben oft von Büchern gesagt, oder er hat mir gesagt, lies das nicht weiter, das hat keine Sprache. Und damit hat er, glaub ich, genau auch das gemeint, was ich mein’: kein Schweigen in sich."
Corinna Kirchhoff: "Meine Sprache und ich: Ich werde tun, was ich für sie tun kann. Die Unterhaltung allein wird ihr helfen, das Gespräch über sie, die Beobachtungen, die sich wiederholen. Man wird mit der Zeit nichts mehr von ihr wollen und ich werde das Meinige dazutun. Ich werde hier und dort einen Satz einflechten, der sie unverdächtig macht."
Ilse Aichingers Wortarbeit ist radikal. speak low hat mit einer klugen Auswahl aus den Erzählungen, Gedichten und Interviews eine Poetik des Schweigens umrissen, die in der deutschen Literaturlandschaft beispiellos ist. Weiche Ein- und Ausblendungen sowie kommentarlose Schnittstellen erzeugen ein Nachdenken, das in die Tiefe führt.
Ilse Aichinger: "Chinesischer Abschied
Wir legen uns heute nieder,
doppelt nieder,
wer uns wecken will,
möge es sanft tun,
er möge seine Stimme schonen
und auch sein Herz,
denn beide sind kostbar."
Besprochen von Carola Wiemers
Ilse Aichinger: Schriftstellerin
speak low, Berlin 2011
Regie: Vera Teichmann/Harald Krewer, mit Ilse Aichinger, Corinna Kirchhoff, Peter Handke, Michael Krüger
1 CD mit 20-seitigem Begleitheft
Laufzeit 77 Minuten, 18,90 Euro