Unmoral eines Süchtigen
Wadim Maslennikow ist Absolvent einer elitären Privatschule, ein unverfrorener Draufgänger und rücksichtsloser Frauenheld. Skrupellos trägt er seine Verachtung für andere nach außen. Die fiktive Biografie und Charakterstudie eines Kokain-Süchtigen entstand in den 1930-er Jahren unter Pseudonym in Russland, über den wahren Autor gibt es nur Vermutungen.
Der Titel ist ziemlich gut, täuscht aber ein wenig. Im "Roman mit Kokain" von M. Agejew aus den 1930er-Jahren geht es erst am Ende um die Droge. Dann reißt sie den Erzähler Wadim Maslennikow in den Abgrund, den er zuvor schon eingehend besichtigt hat: als zynischer Absolvent einer elitären Privatschule, der allein auf seinen hart erkämpften Ruf als unverfrorener Draufgänger und rücksichtsloser Frauenheld bedacht ist, sowie als Student, der mit einer verheirateten Frau eine zärtliche Affäre unterhält.
Beides beruht auf Lügen, auf Verstellung und der Unterdrückung von ganz anders gearteten Gefühlen und Wünschen, weshalb Wadim beständig brennende Scham verspürt und das kaum erträgliche Gefühl des Gespaltenseins. Alles – Lüge, Scham und Gespaltensein – löscht im dritten Teil des Romans das Kokain aus. Wadim reflektiert es abschließend mit Schärfe: Der Mensch sei eben sowohl bestialisch wie menschlich, beides folge unvermeidlich aufeinander.
In diesen vier, eilig hingeworfen wirkenden Teilen vollzieht sich das Schicksal von Wadim Maslennikow. Am Ende, im Jahre 1919, stirbt er – ein ehemaliger Klassenkamerad und Genosse des neuen Regimes hat dem Süchtigen als aussichtslosen, für die Revolution nutzlosen Fall die Aufnahme in die Psychiatrie verwehrt. Der "Roman mit Kokain" ist die Skizze einer Biografie, entworfen entlang von moralischen Überlegungen zum sozialen Verhalten des Menschen. Fesselnd ist er wegen der mit aller Drastik dargestellten Unmoral in Haltung und Handlung, der scharfsinnige moralische Reflektionen vorausgehen oder folgen.
Dem Leser stockt der Atem gleich zu Beginn, als Wadim auf dem Schulhof seine ärmliche, liebevolle Mutter beschimpft, sie verscheucht und gegenüber den Mitschülern verächtlich verleugnet, weil sie seiner nicht würdig sei. Kurz darauf erschrickt man noch einmal, als er ein junges Mädchen mit Syphilis ansteckt – durchaus nicht bedenkenlos, sondern gerade, um vorhandene Bedenken zu besiegen.
In der zärtlichen Affäre mit der verheirateten Sonja wird dem Studenten dann die sorgsam kultivierte Spaltung zwischen Verehrung und Verachtung, zwischen zärtlichen und sexuellen Gefühlen, die Klaus Theweleit eingehend analysiert hat, zum Verhängnis. Denn als er Sonja auf das Bett zudrängt, in dem die Spaltung aufgehoben wäre, fürchtet er, sexuell zu versagen. Wadim täuscht daher Übelkeit vor, und Sonja lässt ihn wissen, dass sie weiß, warum: aus Verachtung.
In der europäischen Literatur der Zwischenkriegszeit steht Agejews Härte und Drastik, auch seine Mischung von erzählenden und reflektierenden Passagen durchaus nicht allein da. Auffällig ist allerdings die Eleganz mancher Passagen des von einem russischen Exilverlag in Paris erstmals 1936 verlegten Werks, mit der auch die Übersetzung von Norma Cassau und Valerie Engler überzeugt.
Manche Leser vermuteten, hinter dem Pseudonoym Agejew stecke Vladimir Nabokov. Die Recherchen nach der Wiederentdeckung in den 1980er-Jahren konnten dies nicht beweisen, erhellten jedoch das Schicksal des russischen Exilanten Mark Levi, der das Manuskript Anfang der 1930er-Jahre an eine russische Zeitschrift in Istanbul geschickt hatte. Karl-Markus Gauß zeichnet die seltsame Geschichte des Buches in seinem informativen Nachwort nach.
Besprochen von Jörg Plath
M. Agejew: Roman mit Kokain
Aus dem Russischen übersetzt von Norma Cassau und Valerie Engler; mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauß,
Manesse Verlag, Zürich 2012,
248 Seiten, 22,95 Euro
Beides beruht auf Lügen, auf Verstellung und der Unterdrückung von ganz anders gearteten Gefühlen und Wünschen, weshalb Wadim beständig brennende Scham verspürt und das kaum erträgliche Gefühl des Gespaltenseins. Alles – Lüge, Scham und Gespaltensein – löscht im dritten Teil des Romans das Kokain aus. Wadim reflektiert es abschließend mit Schärfe: Der Mensch sei eben sowohl bestialisch wie menschlich, beides folge unvermeidlich aufeinander.
In diesen vier, eilig hingeworfen wirkenden Teilen vollzieht sich das Schicksal von Wadim Maslennikow. Am Ende, im Jahre 1919, stirbt er – ein ehemaliger Klassenkamerad und Genosse des neuen Regimes hat dem Süchtigen als aussichtslosen, für die Revolution nutzlosen Fall die Aufnahme in die Psychiatrie verwehrt. Der "Roman mit Kokain" ist die Skizze einer Biografie, entworfen entlang von moralischen Überlegungen zum sozialen Verhalten des Menschen. Fesselnd ist er wegen der mit aller Drastik dargestellten Unmoral in Haltung und Handlung, der scharfsinnige moralische Reflektionen vorausgehen oder folgen.
Dem Leser stockt der Atem gleich zu Beginn, als Wadim auf dem Schulhof seine ärmliche, liebevolle Mutter beschimpft, sie verscheucht und gegenüber den Mitschülern verächtlich verleugnet, weil sie seiner nicht würdig sei. Kurz darauf erschrickt man noch einmal, als er ein junges Mädchen mit Syphilis ansteckt – durchaus nicht bedenkenlos, sondern gerade, um vorhandene Bedenken zu besiegen.
In der zärtlichen Affäre mit der verheirateten Sonja wird dem Studenten dann die sorgsam kultivierte Spaltung zwischen Verehrung und Verachtung, zwischen zärtlichen und sexuellen Gefühlen, die Klaus Theweleit eingehend analysiert hat, zum Verhängnis. Denn als er Sonja auf das Bett zudrängt, in dem die Spaltung aufgehoben wäre, fürchtet er, sexuell zu versagen. Wadim täuscht daher Übelkeit vor, und Sonja lässt ihn wissen, dass sie weiß, warum: aus Verachtung.
In der europäischen Literatur der Zwischenkriegszeit steht Agejews Härte und Drastik, auch seine Mischung von erzählenden und reflektierenden Passagen durchaus nicht allein da. Auffällig ist allerdings die Eleganz mancher Passagen des von einem russischen Exilverlag in Paris erstmals 1936 verlegten Werks, mit der auch die Übersetzung von Norma Cassau und Valerie Engler überzeugt.
Manche Leser vermuteten, hinter dem Pseudonoym Agejew stecke Vladimir Nabokov. Die Recherchen nach der Wiederentdeckung in den 1980er-Jahren konnten dies nicht beweisen, erhellten jedoch das Schicksal des russischen Exilanten Mark Levi, der das Manuskript Anfang der 1930er-Jahre an eine russische Zeitschrift in Istanbul geschickt hatte. Karl-Markus Gauß zeichnet die seltsame Geschichte des Buches in seinem informativen Nachwort nach.
Besprochen von Jörg Plath
M. Agejew: Roman mit Kokain
Aus dem Russischen übersetzt von Norma Cassau und Valerie Engler; mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauß,
Manesse Verlag, Zürich 2012,
248 Seiten, 22,95 Euro