Unkonkrete Prosa unfertiger Erzählungen

Vorgestellt von Jörg Magenau |
Das Verschwiegene ist das wiederkehrende Thema Jagoda Marinićs. Allerdings gelingt es ihr nicht, die Geheimnisse ihrer Figuren zum Sprechen zu bringen. Man ahnt in jedem Satz, dass er bedeutungsvoll sein soll – und ist verstimmt. Dieser Prosa mangelt es an Konkretion. Die Gefühle bleiben im Ungefähren.
"Mein Land ist kein großes Land, von wirklicher Distanz wissen die Menschen hier wenig."

So beginnt Jagoda Marinić ihre Erzählung "Russische Bücher". Das kleine Land, das keine Distanz erlaubt, ist Kroatien. Von dort kommen die Eltern der 1977 in Württembergischen Waiblingen geborenen jungen Autorin. 2001 erschien ihr erster Prosaband mit Geschichten, nun sind drei knappe Erzählungen recht unterschiedlicher Qualität zum zweiten Buch gebündelt. Sie handeln von Distanz und Näheverhältnissen, von einer gescheiterten Liebe, einer vorsichtigen, scheuen Annäherung zweier junger Frauen und von einer Kindheit in Kroatien.

Die titelgebenden russischen Bücher markieren in der dörflichen Enge die Sehnsucht nach Weite und Ferne und Aufbruch. Ein Zitat aus Tolstois "Anna Karenina" ist dieser Erzählung vorangestellt:

"Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche ist auf ihre Art unglücklich."

Das Zitat ist ein Gemeinplatz. Es wird gerne benutzt, um das jeweils eigene Familienunglück als etwas ganz Besonderes und ganz besonders Erzählenswertes erscheinen zu lassen. In diesem Fall geht es um den frühen Tod des Vaters, auf den die Mutter mit einem großen Schweigen und verdoppelter Strenge reagieren kann. Umso enger schließen sich die Geschwister Jonáš und Hannah zusammen und schmieden gemeinsam Fluchtpläne.

In kurzen, skizzenhaften Szenen schildert Jagoda Marinić das Heranwachsen ihrer Ich-Erzählerin, bis zu dem Tag, an dem die Mutter Hannah und Jonáš zu sich ruft, um ihnen mitzuteilen, das sie das Haus verkaufen wird, wenn die Kinder bald ausgezogen sein werden. Sie weiß, dass sie in diesem Haus von ihrem toten Mann nicht loskommen kann und entschuldigt sich nun bei ihren Kindern dafür, die Erinnerungen an ihn nicht zugelassen und ihnen damit den Vater zum zweiten Mal genommen zu haben. Die Erzählerin kommentiert diese Abbitte mit dem Satz:

"Seit jenem Abend ist mir klar, dass Erklärungen nie nachträglich gegeben werden können. Schmerzen ändern sich, und man kann den Zugang zur Wunde nicht finden, wenn man es nicht sofort tut."

Von solchen altklugen und kostbar klingenden Sätzen gibt es in diesem Buch eine ganze Menge. Nur der Tonfall verschafft ihnen Evidenz, denn genauso gut könnte man auch das Gegenteil behaupten: Für Erklärungen ist es nie zu spät, und erst wenn die Wunde nicht mehr schmerzt, kann man sie behandeln.

Als ihr Bruder Jonáš schließlich eine erste Freundin hat, ist es für Hannah so, als habe er sie verlassen. Die untergründige inzestuöse Bindung im Verhältnis der Geschwister wird nur sanft angedeutet, so wie in der Geschichte "Lara" die Zuneigung, die zwei junge Frauen zueinander empfinden und die sie irritiert. Sie leben zusammen in einer Wohngemeinschaft, können ihre Liebe aber nicht zulassen. Auch in dieser Geschichte wird mehr verschwiegen als ausgesprochen.

Das Verschwiegene ist überhaupt das wiederkehrende Thema Jagoda Marinićs. Allerdings gelingt es ihr nicht, die Geheimnisse ihrer Figuren zum Sprechen zu bringen. Man ahnt in jedem Satz, dass er bedeutungsvoll sein soll – und ist verstimmt. Dieser Prosa mangelt es an Konkretion. Die Gefühle bleiben im Ungefähren, so dass man den Eindruck bekommt, nicht die Figuren taumeln ins Leere, sondern die Autorin traut sich nicht, anders als in einer hingetupften, ein wenig schüchtern wirkenden Sprache zu sprechen.

Jagoda Marinić wurde zuletzt mit einem Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg gefördert. Ob der Suhrkamp Verlag ihr damit einen Gefallen getan hat, diese unausgereiften Texte zu einem schmalen Buch zu bündeln, muss man jedoch bezweifeln.

Jagoda Marinić: Russische Bücher
Erzählungen. Suhrkamp Verlag 2005
132 Seiten, 14,90 Euro