Universeller Sufismus

Göttliches Licht als Quelle der Spiritualität

08:27 Minuten
Der Hazrat Inayat Khan Schrein in Neu Delhi, Indien.
In Indien werden Sufi-Heilige weiterhin sehr verehrt, so wie hier in Neu Delhi am Grab von Nizamuddin Awlia. © laif / Redux / John Stanmeyer
Von Stefanie Oswalt · 13.12.2020
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Von Sufis hat oft sogar gehört, wer sonst wenig Verbindung zum Islam hat: Sufis, die tanzenden Derwische, die sich mit weiten Gewändern um sich selbst drehen. Doch es gibt Sufis auch außerhalb des Islams. Sie glauben an alle Religionen – und keine.
Berlin-Grunewald. Im ersten Stock einer Gründerzeitvilla in der Menzelstraße haben sich 15 Menschen zu einem sogenannten "Universellen Sufi-Gottesdienst" versammelt. Sie tragen Masken und sitzen mit coronagebührendem Abstand. Asal Manzil heißt der Ort, Haus der Wahrhaftigkeit.
Auf dem Altar stehen sieben schlichte Kerzenleuchter aus Holz. In einem feierlichen Ritual sind soeben die sieben Kerzen angezündet worden, je eine für die Weltreligionen Hinduismus, Buddhismus, Zoroastrismus, Judentum, Christentum und Islam sowie eine für alle kleinen Religionen.
Die Gemeinde betet: "Herr, Gott des Ostens und des Westens, der Welten heroben und hienieden, der sichtbaren und der unsichtbaren Wesen."
Drei Gebete spricht die Gemeinde während des Gottesdienstes, Gebete, die den Gottheiten aller Religionen gewidmet sind und sich auf universelle Eigenschaften Gottes beziehen. Auf dem Altar vor den Kerzen liegen die Schriften der genannten Weltreligionen, aus ihnen wird bei dieser Feier gelesen.

Ehrfurcht, Respekt und Dankbarkeit

Gemeinsam ist den für diesen Gottesdienst ausgewählten Texten, dass sie von Ehrfurcht und Respekt handeln. Über jeder einzelnen heiligen Schrift spricht die in eine dunkle Robe gekleidete Laienpriesterin eine eigene Gebetsformel: "Wir erweisen dem allwissenden Gott unsere Ehrfurcht, unsere Huldigung und unsere Dankbarkeit für das Licht des göttlichen Erbarmens."
In der Predigt greift Petra-Beate Schildbach, eine weitere Laienpriesterin, die gelesenen Texte auf und setzt sie zueinander in Beziehung. "Das eine Licht, dieses göttliche Licht speist all die anderen Religionen", erklärt sie. "Wir sind dafür da, Gott zu verehren. Darum geht es uns eigentlich, dass wir sagen: Wir müssen zurückfinden zu dem, dass alles von dem einen Gott kommt. Nicht von verschiedenen Göttern – von einem Gott."
Auf dem Altar, einem schlichten Tisch mit hellem Tuch und einer Glasplatte, stehen sieben Leuchter mit brennenden Kerzen, vor jedem davon liegt ein Buch: die heilige Schrift der jeweils durch die Kerze repräsentierten Religion.
Sieben Lichter für die Religionen der Welt: Altar im Berliner Sufi-Zentrum Asal Manzil, dem "Haus der Wahrhaftigkeit".© Petra Beate Schildbach
Petra-Beate Schildbach hat die Lehre vom Universellen Sufismus schon als Kind während der Nazi-Zeit durch eine Bekannte kennengelernt. Damals war die Glaubensgemeinschaft verboten, weil sie auch das Judentum verehrte.

Ursprung in Indien

In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen hatte sich die Lehre vom Universellen Sufismus in vielen Ländern des Westens verbreitet. Sie geht auf den in Indien geborenen, ursprünglich muslimischen Musiker und Gelehrten Hazrat Inayat Khan zurück. Sein Ziel war es, spirituelle Menschen auf der Suche nach Gott zu unterstützen, ungeachtet ihrer Religion.
"Er hat immer wieder gesagt: Der Orientale, der braucht keine Organisation. Aber der westliche Mensch braucht Organisation", erklärt Petra-Beate Schildbach. "Daher war es sein Wunsch, eine Organisation zu gründen, und das war 1923 in Genf. Da hat er die Sufi-Bewegung gegründet, also das 'Sufi Movement'."
1925 sei dann der deutsche Zweig der Sufi-Bewegung hinzugekommen, so Schildbach: "Da waren in Berlin zum Beispiel jede Woche Gottesdienste, es waren Vorträge, es waren viele, viele Menschen da. Inayat Khan war mehrfach in Berlin, ich glaube fünf Mal etwa."
Indische Gläubige entzünden Kerzen in einem Sufi-Schrein.
Indische Gläubige entzünden Kerzen in einem Sufi-Schrein. © laif / Redux / VII / John Stanmeyer
Heute gibt es schätzungsweise einige Tausend Anhänger Inayat Khans in Deutschland, genaue Zahlen sind nicht erhoben, sagt Erdal Toprakyaran, Professor für Islamische Geschichte und Gegenwartskultur an der Universität Tübingen und für Islamische Theologie an der Universität Luzern. Vor allem für Individualisten sei der Sufismus in der Gefolgschaft Hazrat Inayat Khans sehr attraktiv.
"An sich gab es gar keine Regeln", erklärt Toprakyaran. "Selbst die Regeln, die man heute in den verschiedenen Gruppen hat, das sind eher Regeln, die seine Anhängerschaft gebraucht und zum Teil selbst konstruiert hat, denn Menschen verlangen oft nach klaren Regeln und Strukturen."

Gläubige aller Religionen sind willkommen

So gibt es zwar ein Ritual für den Gottesdienst, das relativ einheitlich befolgt wird, grundsätzlich aber sei dieser Sufismus sehr offen, sagt Toprakyaran.
"Das ist eine Besonderheit von Inayat Khan, dass er nicht nur andere Religionen toleriert hat, sondern auch Anhänger anderer Religionen in den Sufismus eingeführt hat, sie initiiert hat und ihnen sogar die Befugnis gegeben hat, die Lehre weiterzugeben, also selbst Sufi-Lehrer zu sein. Und es waren auch viele Frauen unter diesen Schülerinnen, die dann zu Lehrerinnen wurden."
Außenstehende sind bei allen Gottesdiensten willkommen. Wer tiefer in die Lehre eindringen will, kann sich einem sogenannten Orden anschließen – der aber nicht mit einem christlichen Orden vergleichbar ist. Ordensmitglieder leben nach wie vor ihr weltliches Leben, haben aber exklusiv Zugang zu Meditationen und Riten und vertiefen ihr spirituelles Wissen.
Porträt von Regine Sophia Gartmann, im blauen Anorak mit schwarzer Mütze, im Hintergrund ein kleiner Park mit gelbem Herbstlaub.
Regine Sophia Gartmann vom Sufi-Zentrum Na-Koja-Abad© Deutschlandradio / Stefanie Oswalt
"In Deutschland gibt es drei große Orden", erklärt Regine Sophia Gartmann. "Die Sufi-Bewegung, das 'Sufi-Movement', ist für mein Empfinden die Richtung, die am stärksten die Tradition von Hazrat Inayat Khan verfolgt und das möglichst unverfälscht macht. Dann gibt es unseren Weg, den Inayati-Weg, der ist ein bisschen offener, ein bisschen freier, aber dem jetzigen Ordensleiter ist es schon auch sehr wichtig, die Regeln und die Botschaften seines Großvaters wieder stärker in den Vordergrund zu bringen. Und dann gibt es noch einen dritten Orden, das ist die Rohanyat-Bewegung, die vor allem die Tänze des universellen Friedens praktiziert, aber auch andere Arten von Meditation."

Kein fester Ort für die Gemeinschaft

Alle drei Gruppierungen in der Tradition Hazrat Inayat Khans stehen miteinander in Verbindung, sagt Gartmann, die im weltlichen Leben als Tanztherapeutin und als Sonderschulpädagogin arbeitet: "Ich bin offiziell die Leiterin des Berliner Zentrums Na-Koja-Abad. Das bedeutet: The place of no place."
Dass ihr Zentrum "Place of no place", übersetzt etwa: "Ort ohne Ort" heißt, findet sie sehr passend, denn ihre Gruppe habe keine eigenen Räume. Gebetet und meditiert wird zu coronafreien Zeiten in sehr kleinen Gruppen in ihrem privaten Wohnzimmer. Zu den Gottesdiensten in angemieteten Räumen kommen manchmal bis zu 100 Menschen.

Weihnachten und Sufismus schließen sich nicht aus

"Jeder feiert die Feste, die er aus seiner Heimattradition gerne feiern möchte", sagt Gartmann. "Ich bin Christin ursprünglich, also evangelisch getauft, praktiziere auch das Christentum weiter, gehe auch in Gottesdienste – also, ich feiere Weihnachten."
Der islamische Theologe Toprakyaran meint: "Das ist mit der Lehre von Inayat Khan vereinbar, denke ich, weil er eben sagt, man soll seiner eigenen Religion auch treu bleiben. Wer Muslim ist, soll eben auch als Sufi Muslim bleiben, wer Christ ist, soll auch als Sufi Christ bleiben. Also, er wollte die Menschen nicht bekehren zum Islam, sondern wollte sie einladen zu dieser tiefer gehenden gemeinsamen Quelle: zur Seele, zum Geist, zu Gott."
Mit ihrem Postulat der Liebe und der Toleranz sowie der Forderung, die universelle Weisheit aller Religionen anzuerkennen, sind Sufis in der Gefolgschaft Hazrat Inayat Khans besonders anschlussfähig im interreligiösen Dialog. Zugleich gibt ihnen der Austausch mit anderen Gläubigen die Gelegenheit, ihre weltumspannende Lehre bekannter zu machen. Denn die ist einem breiteren Publikum, trotz ihres universellen Ansatzes, immer noch weitgehend unbekannt.
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