Unheimliche dunkle Fratzen

Von Ludger Fittkau |
Der Maler Antonio Saura, ein Bruder des bekannten Filmemachers Carlos Saura, hat ein umfangreiches künstlerisches Erbe hinterlassen. Im Museum Wiesbaden ist die bisher umfangreichste Retrospektive seiner Werke zu sehen.
Gesichter, aufgelöst in grobe Linien, schwarz, weiß, manchmal auch durchmischt mit gelben und braunen Pinselstrichen. Frauenkörper, kaum noch als solche erkennbar, weil sie sich zu vielfach gebrochenen Objekten verformen, die nur noch entfernt etwas mit menschlichen Konturen zu tun haben. Massen, ohne die Hilfe des Bildtitels kaum noch als "Menschenmengen" identifizierbar, die sich bedrohlich dem Betrachter entgegenschieben.

Mit solchen ungemütlichen expressionistischen Abstraktionen findet Antonio Saura Mitte der 1950er-Jahre seinen eigenen Stil. Das lässt ihn künstlerisch "aufatmen", schreibt Saura damals. Ziemlich mittellos pendelt er in dieser Zeit zwischen Paris und dem stickigen Spanien Francos, gegen das er sich auch politisch engagiert.

Die alptraumhaften Figuren, die er seitdem in vielfachen Variationen kreiert, sorgen für den rauen Grundton der Wiesbadener Ausstellung. Menschen als ramponierbare Wesen, die jederzeit verschwinden können in einer amorphen, aber unauflösbaren Dichte. Deren individuelles Antlitz sich in jedem Moment zur Fratze verzerren kann. Alexander Klar, Kurator der Wiesbadener Ausstellung, spricht von "zähnefletschenden monströsen" Gestalten:

"Wo man sich fragt, sind bei Saura die Menschen alle so schrecklich schlecht? Oder ist es der Versuch, ein ästhetisches Ideal, das versucht, in der Malerei anzusetzen. Man kann, glaube ich, beide Deutungen mal verfolgen. Saura wird groß im Spanischen Bürgerkrieg, da ist der Spruch vom Menschen, der des Menschen Wolf ist, glaube ich noch sehr nahe. Also, der hat bestimmt in seiner Jugend bestimmt genügend Dinge erlebt, dass er sein Leben lang Fratzen hätte malen können. Aber ich glaube, in dem Sinne, das er hier nicht versucht, etwas darzustellen, sondern etwas auszudrücken, geht es hier mehr um Kraft, Aggression."

Robust, heftig, zeitgemäß – so sieht Antonio Saura die Tradition der spanischen Kunst. Dekonstruktion – eben auch ein starkes iberisches Thema von Goya bis zu den Filmen des Luis Buñuel, die auch seinen Bruder, den Filmemacher Carlos Saura stark beeinflussen. Es ist ein Verdienst der Wiesbadener Ausstellung, mittels großflächiger Fototapeten in einem eigenen Raum zu zeigen, wie Antonio Saura etwa Aufnahmen von Brigitte Bardot oder dem toten Che Guevara mit formal ähnlichen Motiven kombiniert und gleichzeitig mit der Malerei in Beziehung setzt.

Der Wiesbadener Gastkurator Dr. Cäsar Menz erklärt diese sogenannte "imaginäre Ikonografie" des Antonio Saura am Beispiel von Goyas Hund:

"Er stellt das aus in einer Ausstellung in Spanien. Da ordnet er diese Bilder. Ausgangspunkt: Goyas Hund. Dann die Darstellung des Schrecklichen in einer Reihe von Bildern. Und das Auftauchen der Figur in einem leeren Raum. Oder das Auftauchen eines Körpers in einem leeren Raum. Kennedy-Mord. Sie sehen hier, wie er arbeitet. Das ist immer sehr assoziativ. Hier das berühmte Bild mit dem Geiselnehmer von den Olympischen Spielen in München."

Einige Jahre vor dem Mauerfall übermalt Antonio Saura in Berlin 59 Fotografien des Bauwerks, das die Stadt zerschneidet – eine Technik, die er vom Dadaismus ableitet. Die Fotobegeisterung teilt Antonio Saura von früher Jugend an mit seinem jüngeren Bruder Carlos.

Zur Eröffnung dieser bisher international größten Saura-Retrospektive in Wiesbaden beschreibt Marina Saura, die Tochter des Malers, das Verhältnis der beiden Brüder. Sie haben immer wieder gemeinsam gearbeitet – etwa an Bühnenbildern und Opernchoreografien:

"Mein Onkel Carlos sagt immer: Dass er Filmregisseur geworden ist, hat er meinem Vater zu verdanken. Der habe ihm nämlich immer dazu angetrieben, auf die Filmhochschule zu gehen – und zuerst Fotograf zu werden. Carlos war nämlich zuerst Fotograf. Bei aller brüderlichen Rivalität, die es auch gab, konnten sie wirklich gut zusammenarbeiten. Beispielsweise bei den Opern oder beim Ballett – da war es nicht so, dass mein Vater nur das Bühnenbild machte wie andere Maler. Nein, sie arbeiteten zusammen an der Choreografie, an der Gesamtkonzeption."

Die chronologisch gestaltete Retrospektive in Wiesbaden beginnt dann auch mit einem abstrakten Bilderzyklus, den Antonio Saura bereits Ende der 1940er-Jahre gestaltet hat – noch stark beeinflusst durch den Surrealismus. Gestaltet mit Hilfe von technischen Anregungen seines Bruders Carlos, so der Schweizer Gastkurator Cäsar Menz:

"Das heißt, Carlos hat ihm gesagt: Du interessierst dich für Surrealismus. Ecriture automatique. Da werden wir mit einem Verfahren arbeiten, das fotografisch ist. Also sie sehen den Bezug auch zum Film, da kannst du dich austoben. Er hat sich zwar nicht ausgetobt – aber sie sehen, es beginnt völlig abstrakt."

Und endet bei einer langen Nase – zumindest im Wiesbadener Museum, wenn man es mit Kindern besucht. Denn in einem Raum hängen die Bilder auf der Höhe von Kinderaugen.

Es sind die Illustrationen, die Antonio Saura Anfang der 1990er-Jahre für Christine Nöstlingers Neufassung von Carlo Collodis "Abenteuer des Pinocchio" machte. Doch Vorsicht – auch zarte Kindergemüter stoßen hier trotz großer Farbenpracht wieder auf die unheimlichen, dunklen Fratzen, die Sauras Markenzeichen sind.

Mit dem Ende der Gemütlichkeit ist immer zu rechnen. Wer darauf gefasst ist, der sollte sich Antonio Saura in Wiesbaden nicht entgehen lassen.

Informationen des Museums Wiesbaden zur Ausstellung "Antonio Saura. Die Retrospektive"