Unheilvolle Spannungen in der Heiligen Stadt
60 Jahre nach der Staatsgründung Israels wachsen in Jerusalem, der offiziell wiedervereinigten und emotional immer noch geteilten Stadt, die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern. Fast 41 Jahre nach der Eroberung Ost-Jerusalems Anfang Juni 1967 durch Israel ist der Hass zwischen radikalisierten Juden und Moslems vor allem in der Altstadt zu spüren.
Die Touristen kommen auf ihre Kosten, doch wer genau hinsieht und hinhört, spürt eine unheilvolle Stimmung. Bewaffnete jüdische Siedler laufen provozierend durch das muslimische Viertel der Altstadt. Ein bärtiger arabischer Händler sitzt vor seinem Laden und ruft demonstrativ in Richtung der Siedler: „Allahu Akbar“ – Gott ist groß. Munib Younan ist Bischof der Evangelisch-Lutheranischen Kirche in Jordanien und dem Heiligen Lande. Vor wenigen Wochen, an Ostern, erlebte er zwei Provokationen gegen seine Gemeinde:
„Als wir am Gründonnerstag von der Evangelisch-Lutherischen Erlöserkirche auf dem Weg nach Getsehmane waren, bei der Prozession, kam ein Moslem und schrie uns an: ‚Ihr Ketzer!‘ Und dann, am Karfreitag, waren wir zusammen mit den Anglikanern auf der Via Dolorosa, und ein jüdischer Siedler kam vorbei, sah das Kreuz, bedeckte seine Augen mit seiner Hand und spuckte aus. Wissen Sie, wir antworten auf so etwas niemals. Aber das ist der religiöse Fanatismus, der Jesus ans Kreuz gebracht hat.“
Der Muezzin der Al-Aksa-Moschee. Seit September 2000, nach dem Besuch von Ariel Scharon auf dem Tempelberg und dem Beginn der zweiten Intifada, dürfen nur noch Muslime die Moscheen besuchen. Eine Sicherheitsmaßnahme der israelischen Polizei – aus Angst, jüdische Extremisten könnten einen Anschlag auf das Heiligtum verüben. Erst seit vier Jahren ist es für Nicht-Muslime überhaupt wieder möglich, den Tempelberg zu betreten. Die Aufsicht über die Moscheen führt die islamische Religionsbehörde Wakf. Adnan Husseini war bis vor einigen Monaten ihr Chef. Heute ist er Berater von Palästinenserpräsident Machmud Abbas. Husseini beklagt die vielfältigen Einschränkungen, die Checkpoints der israelischen Armee und die Mauer im Westjordanland, die Palästinenser auf ihrem Weg zu den Heiligen Stätten in Jerusalem behindern.
„Wenn ein Moslem in Jerusalem beten will, dann nicht in einer kleinen Moschee, sondern in der Al-Aksa-Moschee. Die Muslime sind es gewöhnt, aus den Dörfern hierherzukommen. Sie kommen am frühen Morgen, beten und gehen zum Markt, sie kaufen Andenken als Segen aus Jerusalem, und dann kommen sie nach Hause und bringen ihren Söhnen Geschenke mit. All dieses soziale Leben haben die Israelis beschnitten. Oft lassen sie Männer unter 45 oder 50 gar nicht in die Stadt. Und so bringen sie die Menschen dazu, zweimal darüber nachzudenken, ob sie lieber in einer kleinen, leichter zugänglichen Moschee beten wollen als in der Al-Aksa-Moschee. Und durch diese Maßnahmen wollen sie das Heiligtum evakuieren, und dann wollen sie hineingehen und es für sich selbst in Besitz nehmen. Ja, das ist ihr Plan.“
Husseini bestreitet sogar, dass es in biblischen Zeiten jemals einen ersten und zweiten jüdischen Tempel gegeben habe. Seine Behauptung, die Juden wollten die Al-Aksa-Moschee beseitigen, findet auf den Straßen der Altstadt ihr Echo – in einer Verschwörungstheorie.
Khaled, ein arabischer Händler, ist fest davon überzeugt, dass die Steine für den Dritten Tempel der Juden in einem Geheimversteck bereits bereit liegen. Im oberen Stock eines Andenkengeschäfts, zwischen Holzkreuzen und Holzkamelen, zitiert Khaled Stellen aus dem Koran, die seiner Ansicht nach die erneute Vertreibung der Juden aus dem Heiligen Land prophezeien.
„Okay, das ist die Sure, der Vers Al-Isra. Sie haben der Menschheit zweimal unrecht getan. Einmal in der Vergangenheit und einmal wird es sehr bald geschehen. Und Gott hat sich entschieden, sie zweimal zu bestrafen. Das jüdische Volk – die Israelis. Und die, die ihnen folgen.“
Bischof Munib Younan kennt die Stimmungslage vieler Moslems in Jerusalems. Er selbst versucht, die Befürchtungen sachlich zu entkräften:
„Aufgrund dessen, was ich über die jüdische Theologie und das jüdische Religionsgesetz weiß, glaube ich nicht, dass das wahre Judentum den Dritten Tempel errichten will. Denn der Dritte Tempel wird nicht von Menschenhand errichtet, sondern wenn der Messias kommt. Natürlich gibt es trotzdem Ängste auf der muslimischen Seite. Manchmal kann diese Angst auf Fakten beruhen, manchmal auf Halbfakten und Halbwahrheiten. In jedem Fall muss die jüdische Gemeinschaft die Moslems beruhigen und ihnen Sicherheit geben, und die israelische Regierung muss beweisen, dass sie nicht unter dem Heiligtum gräbt.“
Eine schwierige Aufgabe, wenn die selbe Regierung gewaltbereite jüdische Siedler gewähren und durch Soldaten schützen lässt. Doch viele Menschen, die in Jerusalem leben, ignorieren die alltäglichen Spannungen, so gut es geht. Inmitten der „Heiligen Stadt“, die Israel als seine ewige Hauptstadt und die Palästinenser als zukünftige Hauptstadt eines eigenen Staates beanspruchen, versuchen die Menschen wie überall auf der Welt, ein möglichst ruhiges, alltägliches Leben zu führen. Trotz Häuserzerstörungen, trotz der Enge und der hohen Mieten in der Stadt: Palästinenser, die außerhalb der Trennmauer leben, versuchen derzeit verstärkt, sich wieder im von Israel besetzten Ost-Jerusalem anzusiedeln.
Im Westteil gibt es einen anderen Trend. Während die Bevölkerung der ultraorthodoxen Juden ständig wächst, fühlen sich Säkulare zunehmend in der Minderheit. Die Fotografin Marsha Weinstein, die vor einiger Zeit aus der Stadt weggezogen ist, spricht für viele.
„Ich habe es sehr genossen, in Jerusalem zu leben, und bis heute spüre ich eine starke seelische Verbindung zu dieser Stadt. Aber als im Jahr 2000 die zweite Intifada ausbrach, haben sich die Dinge geändert. Ich war es gewöhnt, in Ost-Jerusalem und in West-Jerusalem unterwegs zu sein, oft mit der Kamera in der Hand, und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass ich mich an vielen Orten nicht mehr bewegen konnte. In der Altstadt, wo ich viele arabische Freunde gehabt hatte, wurde die Stimmung feindselig. Mehr und mehr meiner jüdischen Freunde haben Jerusalem verlassen und sind nach Tel Aviv umgezogen, oder in die Vororte, wenn sie Kinder und Familie hatten. Als ledige, säkulare und nicht mehr ganz so junge Jüdin hatte ich kaum noch Gesellschaft. Und eines Tages bin ich am Schabat aufgewacht und habe neben meinem Haus ultraorthodoxe Juden gesehen, mit langem schwarzem Mantel und Pelzmütze, und mir wurde klar, was das bedeutet: Sie wohnen in der Nähe! Denn mit dem Auto würden sie am Schabat nicht fahren. Und da hatte ich das Gefühl, dass es für mich in Jerusalem keinen Platz mehr geben würde.“
Traditionell teilte sich die Bevölkerung Jerusalems in drei Drittel: ultraorthodoxe Juden, Palästinenser, und schließlich der „dritte Sektor“: säkulare und sogenannte nationalreligiöse Juden. Die meisten von ihnen tragen gehäkelte Kippot und gehen zur Armee – im Gegensatz zu den Ultras. Doch die Gleichgewichte in der Stadt verschieben sich – langsam, aber stetig. Seit 2003 wird Jerusalem von Uri Lupolianski regiert, einem ultraorthodoxen Politiker mit zwölf Kindern. Doch nicht nur orthodoxe Juden haben ihn gewählt. Sondern auch weltliche Israelis wie der Ökonom Yaron Schroter, der im Handelsministerium arbeitet. Yaron, Ende 30, hat seit Lupolianskis Amtsantritt keine Verschlechterung für die Säkularen bemerkt. Im Gegenteil, sagt er, das Kulturleben in der Stadt blüht. Yaron bereut es keineswegs, Lupolianski seine Stimme gegeben zu haben.
„Einfach deshalb, weil er einen besseren Eindruck gemacht hat als die anderen Kandidaten. Er wird hier nicht als Vertreter der Ultraorthodoxen angesehen, die die Stadt erobern wollen. Sondern als Mensch, der zufällig orthodox ist. In Jerusalem zu leben ist immer eine Herausforderung, und es gibt vieles, was hier nicht einfach ist, aber das hat nichts mit dem jetzigen Bürgermeister zu tun. Wirklich nicht.“
Uri Lupolianski hat fünf Stellvertreter. Igal Amedi vom Likud-Block ist der Einzige von ihnen, der nicht orthodox ist. Dennoch haben der Bürgermeister und sein Stellvertreter dasselbe Anliegen: säkulare Juden in der Stadt zu halten – und mehr Wohnmöglichkeiten für alle zu schaffen. Das eigentliche Ziel der Stadtverwaltung: In 20 bis 30 Jahren soll Jerusalem eine Million Einwohner haben. Heute sind es etwa 700.000 Menschen. Igal Amedi präsentiert seine Stadt in bestem Licht:
„Es gibt zwar eine ‚negative Abwanderung‘ aus Jerusalem. Aber Sie sind sicher überrascht zu hören, dass mehr orthodoxe als säkulare Juden die Stadt verlassen. Es gibt vor allem zwei Gründe, aus Jerusalem wegzugehen: Erstens sind die Wohnungen hier sehr teuer und zweitens gibt es hier ein Problem am Arbeitsmarkt. Und weil die Orthodoxen normalerweise große Familien haben, haben sie auch ein Problem, hier Wohnungen für alle Familienangehörigen zu kaufen, und deswegen suchen sie lieber Wohnungen in der Nähe Jerusalems, in der Peripherie.“
Im israelischen Vergleich ist Jerusalem eine arme Stadt – eine Stadt der Beamten, der Tora-Schüler und der Ministerien. Die Gehälter sind im Schnitt niedriger als anderswo. Der stellvertretende Bürgermeister über Gegenmaßnahmen:
„Die Stadtverwaltung zahlt, zusammen mit der Regierung, Prämien an jeden High-Tech-Mitarbeiter und jede Firma, die sich in Jerusalem ansiedeln. Wir ändern das Gesicht der Stadt auch in Hinblick auf die Bevölkerung: Wir ermutigen heute junge Studenten, sich im Stadtzentrum niederzulassen. Also, ich hoffe, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass in einigen Jahren das Gefühl der Säkularen ganz anders sein wird.“
Doch nicht bei allen kommt diese Botschaft an. Die Erziehungswissenschaftlerin Tal Kligman arbeitet beim Jerusalemer interkulturellen Zentrum in der Nähe des Zionstors in der Altstadt. Zusammen mit der Jerusalem-Foundation setzt sich die Organisation für den Dialog zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Jerusalem ein. Dennoch beobachtet sie bei vielen Säkularen, sagt Tal Kligman, ein Gefühl der Resignation.
„Es gibt hier sehr viel Verzweiflung. In 20 Jahren wird es, allein aufgrund der natürlichen Wachstumsrate, nur noch orthodoxe Juden und Palästinenser geben. Ich will wirklich nichts Böses über Orthodoxe oder über Palästinenser sagen, ich arbeite mit beiden Gemeinschaften zusammen und schätze die Menschen, aber der dritte Sektor von Nationalreligiösen und vor allem von säkularen Juden hat einfach das Gefühl, dass diese Stadt nicht mehr die ihre ist.“
Dennoch: Die meisten Straßen sind am Schabat immer noch offen für den Verkehr. Und auch im Stadtzentrum gibt es genügend unkoschere Cafes, deren Besitzer sich nicht an die Schabatruhe halten.
Es gibt sie und es wird sie immer geben, die Orte, an denen säkulare Menschen sich wohlfühlen – sagen die Jerusalemer, die bleiben wollen.
„Klar, woanders wäre es leichter für mich, es gäbe mehr Gesellschaft von Menschen, die so sind wie ich. Meine Miete wäre woanders billiger und es gäbe mehr Cafes. Aber Jerusalem ist meine Stadt. Und es ist mir wichtig, es weiterhin zu versuchen und Möglichkeiten für junge Menschen zu schaffen, und überhaupt, ein weiterer junger Mensch zu sein, der in dieser Stadt sein. Trotz allem gibt es in dieser Stadt etwas Großartiges. Hier gibt es Menschen, die denken. Hier gibt es weniger Materialismus als anderswo. In Jerusalem geht es nicht nur um Image und Geld.“
Juden, Christen und Moslems, Israelis und Palästinenser, Gläubige und Ungläubige – Tal Kligman und ihre Kollegen versuchen Tag für Tag, Brücken zu schlagen und Gräben zu schließen in Jeruschlajim – auf hebräisch die „Stadt des Friedens“. Doch nach Frieden sieht es derzeit nicht aus im Heiligen Land. Tal Kligman, die junge, engagierte Frau, erwartet vom Friedensprozess in Nahost nicht mehr viel – jedenfalls nicht für ihre eigene Zukunft:
„Ich glaube nicht, dass ich lange genug leben werde, um den Frieden zu sehen. Ja, auch der Hundertjährige Krieg ist irgendwann zu Ende gegangen. Eines Tages wird der Frieden kommen. Aber nicht sehr bald. Nicht in den nächsten 40, 50 Jahren.“
„Als wir am Gründonnerstag von der Evangelisch-Lutherischen Erlöserkirche auf dem Weg nach Getsehmane waren, bei der Prozession, kam ein Moslem und schrie uns an: ‚Ihr Ketzer!‘ Und dann, am Karfreitag, waren wir zusammen mit den Anglikanern auf der Via Dolorosa, und ein jüdischer Siedler kam vorbei, sah das Kreuz, bedeckte seine Augen mit seiner Hand und spuckte aus. Wissen Sie, wir antworten auf so etwas niemals. Aber das ist der religiöse Fanatismus, der Jesus ans Kreuz gebracht hat.“
Der Muezzin der Al-Aksa-Moschee. Seit September 2000, nach dem Besuch von Ariel Scharon auf dem Tempelberg und dem Beginn der zweiten Intifada, dürfen nur noch Muslime die Moscheen besuchen. Eine Sicherheitsmaßnahme der israelischen Polizei – aus Angst, jüdische Extremisten könnten einen Anschlag auf das Heiligtum verüben. Erst seit vier Jahren ist es für Nicht-Muslime überhaupt wieder möglich, den Tempelberg zu betreten. Die Aufsicht über die Moscheen führt die islamische Religionsbehörde Wakf. Adnan Husseini war bis vor einigen Monaten ihr Chef. Heute ist er Berater von Palästinenserpräsident Machmud Abbas. Husseini beklagt die vielfältigen Einschränkungen, die Checkpoints der israelischen Armee und die Mauer im Westjordanland, die Palästinenser auf ihrem Weg zu den Heiligen Stätten in Jerusalem behindern.
„Wenn ein Moslem in Jerusalem beten will, dann nicht in einer kleinen Moschee, sondern in der Al-Aksa-Moschee. Die Muslime sind es gewöhnt, aus den Dörfern hierherzukommen. Sie kommen am frühen Morgen, beten und gehen zum Markt, sie kaufen Andenken als Segen aus Jerusalem, und dann kommen sie nach Hause und bringen ihren Söhnen Geschenke mit. All dieses soziale Leben haben die Israelis beschnitten. Oft lassen sie Männer unter 45 oder 50 gar nicht in die Stadt. Und so bringen sie die Menschen dazu, zweimal darüber nachzudenken, ob sie lieber in einer kleinen, leichter zugänglichen Moschee beten wollen als in der Al-Aksa-Moschee. Und durch diese Maßnahmen wollen sie das Heiligtum evakuieren, und dann wollen sie hineingehen und es für sich selbst in Besitz nehmen. Ja, das ist ihr Plan.“
Husseini bestreitet sogar, dass es in biblischen Zeiten jemals einen ersten und zweiten jüdischen Tempel gegeben habe. Seine Behauptung, die Juden wollten die Al-Aksa-Moschee beseitigen, findet auf den Straßen der Altstadt ihr Echo – in einer Verschwörungstheorie.
Khaled, ein arabischer Händler, ist fest davon überzeugt, dass die Steine für den Dritten Tempel der Juden in einem Geheimversteck bereits bereit liegen. Im oberen Stock eines Andenkengeschäfts, zwischen Holzkreuzen und Holzkamelen, zitiert Khaled Stellen aus dem Koran, die seiner Ansicht nach die erneute Vertreibung der Juden aus dem Heiligen Land prophezeien.
„Okay, das ist die Sure, der Vers Al-Isra. Sie haben der Menschheit zweimal unrecht getan. Einmal in der Vergangenheit und einmal wird es sehr bald geschehen. Und Gott hat sich entschieden, sie zweimal zu bestrafen. Das jüdische Volk – die Israelis. Und die, die ihnen folgen.“
Bischof Munib Younan kennt die Stimmungslage vieler Moslems in Jerusalems. Er selbst versucht, die Befürchtungen sachlich zu entkräften:
„Aufgrund dessen, was ich über die jüdische Theologie und das jüdische Religionsgesetz weiß, glaube ich nicht, dass das wahre Judentum den Dritten Tempel errichten will. Denn der Dritte Tempel wird nicht von Menschenhand errichtet, sondern wenn der Messias kommt. Natürlich gibt es trotzdem Ängste auf der muslimischen Seite. Manchmal kann diese Angst auf Fakten beruhen, manchmal auf Halbfakten und Halbwahrheiten. In jedem Fall muss die jüdische Gemeinschaft die Moslems beruhigen und ihnen Sicherheit geben, und die israelische Regierung muss beweisen, dass sie nicht unter dem Heiligtum gräbt.“
Eine schwierige Aufgabe, wenn die selbe Regierung gewaltbereite jüdische Siedler gewähren und durch Soldaten schützen lässt. Doch viele Menschen, die in Jerusalem leben, ignorieren die alltäglichen Spannungen, so gut es geht. Inmitten der „Heiligen Stadt“, die Israel als seine ewige Hauptstadt und die Palästinenser als zukünftige Hauptstadt eines eigenen Staates beanspruchen, versuchen die Menschen wie überall auf der Welt, ein möglichst ruhiges, alltägliches Leben zu führen. Trotz Häuserzerstörungen, trotz der Enge und der hohen Mieten in der Stadt: Palästinenser, die außerhalb der Trennmauer leben, versuchen derzeit verstärkt, sich wieder im von Israel besetzten Ost-Jerusalem anzusiedeln.
Im Westteil gibt es einen anderen Trend. Während die Bevölkerung der ultraorthodoxen Juden ständig wächst, fühlen sich Säkulare zunehmend in der Minderheit. Die Fotografin Marsha Weinstein, die vor einiger Zeit aus der Stadt weggezogen ist, spricht für viele.
„Ich habe es sehr genossen, in Jerusalem zu leben, und bis heute spüre ich eine starke seelische Verbindung zu dieser Stadt. Aber als im Jahr 2000 die zweite Intifada ausbrach, haben sich die Dinge geändert. Ich war es gewöhnt, in Ost-Jerusalem und in West-Jerusalem unterwegs zu sein, oft mit der Kamera in der Hand, und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass ich mich an vielen Orten nicht mehr bewegen konnte. In der Altstadt, wo ich viele arabische Freunde gehabt hatte, wurde die Stimmung feindselig. Mehr und mehr meiner jüdischen Freunde haben Jerusalem verlassen und sind nach Tel Aviv umgezogen, oder in die Vororte, wenn sie Kinder und Familie hatten. Als ledige, säkulare und nicht mehr ganz so junge Jüdin hatte ich kaum noch Gesellschaft. Und eines Tages bin ich am Schabat aufgewacht und habe neben meinem Haus ultraorthodoxe Juden gesehen, mit langem schwarzem Mantel und Pelzmütze, und mir wurde klar, was das bedeutet: Sie wohnen in der Nähe! Denn mit dem Auto würden sie am Schabat nicht fahren. Und da hatte ich das Gefühl, dass es für mich in Jerusalem keinen Platz mehr geben würde.“
Traditionell teilte sich die Bevölkerung Jerusalems in drei Drittel: ultraorthodoxe Juden, Palästinenser, und schließlich der „dritte Sektor“: säkulare und sogenannte nationalreligiöse Juden. Die meisten von ihnen tragen gehäkelte Kippot und gehen zur Armee – im Gegensatz zu den Ultras. Doch die Gleichgewichte in der Stadt verschieben sich – langsam, aber stetig. Seit 2003 wird Jerusalem von Uri Lupolianski regiert, einem ultraorthodoxen Politiker mit zwölf Kindern. Doch nicht nur orthodoxe Juden haben ihn gewählt. Sondern auch weltliche Israelis wie der Ökonom Yaron Schroter, der im Handelsministerium arbeitet. Yaron, Ende 30, hat seit Lupolianskis Amtsantritt keine Verschlechterung für die Säkularen bemerkt. Im Gegenteil, sagt er, das Kulturleben in der Stadt blüht. Yaron bereut es keineswegs, Lupolianski seine Stimme gegeben zu haben.
„Einfach deshalb, weil er einen besseren Eindruck gemacht hat als die anderen Kandidaten. Er wird hier nicht als Vertreter der Ultraorthodoxen angesehen, die die Stadt erobern wollen. Sondern als Mensch, der zufällig orthodox ist. In Jerusalem zu leben ist immer eine Herausforderung, und es gibt vieles, was hier nicht einfach ist, aber das hat nichts mit dem jetzigen Bürgermeister zu tun. Wirklich nicht.“
Uri Lupolianski hat fünf Stellvertreter. Igal Amedi vom Likud-Block ist der Einzige von ihnen, der nicht orthodox ist. Dennoch haben der Bürgermeister und sein Stellvertreter dasselbe Anliegen: säkulare Juden in der Stadt zu halten – und mehr Wohnmöglichkeiten für alle zu schaffen. Das eigentliche Ziel der Stadtverwaltung: In 20 bis 30 Jahren soll Jerusalem eine Million Einwohner haben. Heute sind es etwa 700.000 Menschen. Igal Amedi präsentiert seine Stadt in bestem Licht:
„Es gibt zwar eine ‚negative Abwanderung‘ aus Jerusalem. Aber Sie sind sicher überrascht zu hören, dass mehr orthodoxe als säkulare Juden die Stadt verlassen. Es gibt vor allem zwei Gründe, aus Jerusalem wegzugehen: Erstens sind die Wohnungen hier sehr teuer und zweitens gibt es hier ein Problem am Arbeitsmarkt. Und weil die Orthodoxen normalerweise große Familien haben, haben sie auch ein Problem, hier Wohnungen für alle Familienangehörigen zu kaufen, und deswegen suchen sie lieber Wohnungen in der Nähe Jerusalems, in der Peripherie.“
Im israelischen Vergleich ist Jerusalem eine arme Stadt – eine Stadt der Beamten, der Tora-Schüler und der Ministerien. Die Gehälter sind im Schnitt niedriger als anderswo. Der stellvertretende Bürgermeister über Gegenmaßnahmen:
„Die Stadtverwaltung zahlt, zusammen mit der Regierung, Prämien an jeden High-Tech-Mitarbeiter und jede Firma, die sich in Jerusalem ansiedeln. Wir ändern das Gesicht der Stadt auch in Hinblick auf die Bevölkerung: Wir ermutigen heute junge Studenten, sich im Stadtzentrum niederzulassen. Also, ich hoffe, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass in einigen Jahren das Gefühl der Säkularen ganz anders sein wird.“
Doch nicht bei allen kommt diese Botschaft an. Die Erziehungswissenschaftlerin Tal Kligman arbeitet beim Jerusalemer interkulturellen Zentrum in der Nähe des Zionstors in der Altstadt. Zusammen mit der Jerusalem-Foundation setzt sich die Organisation für den Dialog zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Jerusalem ein. Dennoch beobachtet sie bei vielen Säkularen, sagt Tal Kligman, ein Gefühl der Resignation.
„Es gibt hier sehr viel Verzweiflung. In 20 Jahren wird es, allein aufgrund der natürlichen Wachstumsrate, nur noch orthodoxe Juden und Palästinenser geben. Ich will wirklich nichts Böses über Orthodoxe oder über Palästinenser sagen, ich arbeite mit beiden Gemeinschaften zusammen und schätze die Menschen, aber der dritte Sektor von Nationalreligiösen und vor allem von säkularen Juden hat einfach das Gefühl, dass diese Stadt nicht mehr die ihre ist.“
Dennoch: Die meisten Straßen sind am Schabat immer noch offen für den Verkehr. Und auch im Stadtzentrum gibt es genügend unkoschere Cafes, deren Besitzer sich nicht an die Schabatruhe halten.
Es gibt sie und es wird sie immer geben, die Orte, an denen säkulare Menschen sich wohlfühlen – sagen die Jerusalemer, die bleiben wollen.
„Klar, woanders wäre es leichter für mich, es gäbe mehr Gesellschaft von Menschen, die so sind wie ich. Meine Miete wäre woanders billiger und es gäbe mehr Cafes. Aber Jerusalem ist meine Stadt. Und es ist mir wichtig, es weiterhin zu versuchen und Möglichkeiten für junge Menschen zu schaffen, und überhaupt, ein weiterer junger Mensch zu sein, der in dieser Stadt sein. Trotz allem gibt es in dieser Stadt etwas Großartiges. Hier gibt es Menschen, die denken. Hier gibt es weniger Materialismus als anderswo. In Jerusalem geht es nicht nur um Image und Geld.“
Juden, Christen und Moslems, Israelis und Palästinenser, Gläubige und Ungläubige – Tal Kligman und ihre Kollegen versuchen Tag für Tag, Brücken zu schlagen und Gräben zu schließen in Jeruschlajim – auf hebräisch die „Stadt des Friedens“. Doch nach Frieden sieht es derzeit nicht aus im Heiligen Land. Tal Kligman, die junge, engagierte Frau, erwartet vom Friedensprozess in Nahost nicht mehr viel – jedenfalls nicht für ihre eigene Zukunft:
„Ich glaube nicht, dass ich lange genug leben werde, um den Frieden zu sehen. Ja, auch der Hundertjährige Krieg ist irgendwann zu Ende gegangen. Eines Tages wird der Frieden kommen. Aber nicht sehr bald. Nicht in den nächsten 40, 50 Jahren.“