UNHCR rechnet mit weiteren syrischen Flüchtlingen im Nordirak

Moderation: Christopher Ricke · 28.08.2013
"Sie haben hauptsächlich einfach nur die Sorge, dass sie eben ein Zelt bekommen, Wasser und Essen", sagt Friederike Adlung vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Die Helfer versorgten gerade im Nordirak rund 200.000 syrische Flüchtlinge. Die Gastfreundschaft der Einheimischen sei groß.
Christopher Ricke: Und wir sind wieder beim Thema Syrien, jetzt aber nicht bei den bevorstehenden Luftschlägen, die allgemein erwartet werden, sondern bei der Lage der Flüchtlinge. Die Verzweiflung ist groß, nicht nur in Syrien, im Libanon und in Jordanien, sondern immer mehr Flüchtlinge zieht es auch schon seit geraumer Zeit in den Irak. Das Welternährungsprogramm und das UN-Flüchtlingshilfswerk sind unter anderem im nordirakischen Erbil engagiert, Tausende neue syrische Flüchtlinge sind da in den letzten Tagen gekommen, Zehntausende, darunter sehr viele Mütter mit ihren Kindern. Ich spreche mit Friederike Adlung vom UN-Flüchtlingshilfswerk, die war gerade im Flüchtlingslager Erbil. Frau Adlung, wie viele Menschen sind denn eigentlich wie untergebracht, und wie können die versorgt werden?

Friederike Adlung: Also insgesamt haben wir im gesamten Nordirak 200.000 Flüchtlinge, davon entfallen zirka 100.000 auf Erbil, der Rest auf die Provinzen Dohuk und auf Sulaymaniyah, und von diesen 200.000 haben wir 46.000 Neuankömmlinge seit dem 15.08.

"Fokus auf Gesundheit und auf kindgerechte Ernährung"

Ricke: Es heißt, es seien sehr viele Mütter mit Kindern unter den Flüchtlingen. Was bedeutet das denn für die Organisation dieser Hilfe?

Adlung: Also es ist eigentlich immer bei sämtlichen Flüchtlingsströmungen so, dass die Mehrheit aus Frauen und Kindern besteht. Es ist eben so, dass die Männer oftmals noch zurückbleiben, und dass die Frauen und Kinder vorgeschickt werden. Das ist also für uns ein Normalzustand. Wir müssen also bei der Flüchtlingshilfe immer vor allem den Fokus auf Gesundheit und eben auf kindgerechte Ernährung und vor allem auch auf Shelter, das sind Zelte, setzen. Wir haben aber auch bei dieser Flüchtlingsbewegung einige junge Männer, Studenten zum Beispiel, oder auch Menschen, die Arbeit suchen, die einfach dort nicht mehr leben können, und die eben hoffen, Geld zurück an ihre Familien in Syrien zu schicken.

Ricke: Im Raum Erbil ist es jetzt sehr heiß, wenn ich dem Internet glaube, sind das um die 40 Grad. Sind jetzt Wasser und Schatten das Wichtigste?

Adlung: Es sind sogar 48 Grad gemessen worden. Es ist eben ein sehr harsches Klima. Wasser ist natürlich – Sie haben völlig recht, Wasser und Sanität sind immer für Flüchtlinge eigentlich die wichtigsten Dinge und auch die schwierigsten Sektoren. Und natürlich, wir nennen das Shelter, also Unterkunft. Das sind in diesem Fall Zelte, wir haben 4.600 Zelte schon an die Neuankömmlinge im Nordirak verteilt.

Ricke: Der Norden des Irak ist kurdisch geprägt, und Sie arbeiten mit der Regionalregierung zusammen. Wie ist denn überhaupt das Verhalten der Einheimischen gegenüber den Flüchtlingen?

Adlung: Also das Verhalten der Einheimischen und auch der Regierung hier ist überwältigend gastfreundlich. Es hängt vielleicht damit zusammen, dass viele auch der Menschen, die in der Regierung und in der Verwaltung tätig sind, selber einmal Flüchtlinge waren. Sehr viele waren Flüchtlinge im Iran, aber eben auch zum Teil in Deutschland und in Schweden, Dänemark, und haben es nicht vergessen, wie es ist, selber Flüchtling zu sein. Wir sind überwältigt von der Großzügigkeit, dass eben jeder Flüchtling aus Syrien jetzt Einlass bekommt, und wir sind auch sehr zufrieden mit der Zusammenarbeit.

"Die Winter sind sehr, sehr hart in Kurdistan"

Ricke: Was geschieht denn an der Grenze, wenn jeder Flüchtling Einlass bekommt? Steht da noch jemand, gibt es da gleich erste Hilfe?

Adlung: Ja, also an der Grenze stehen natürlich die kurdischen Sicherheitsorgane, also das Militär, die Armee, und dann eben auch UNHCR, Ärzte ohne Grenzen, also MSF. Die Neuankömmlinge, Flüchtlinge werden schnell von der Grenze weggebracht, und zwar in diese Flüchtlingslager in Erbil oder auch in Sulaymaniyah, aber das Ziel ist immer, dass man Flüchtlinge schnell von der Grenze wegbringt.

Ricke: Flüchtlinge werden sich auf eine gewisse Zeit in diesen Lagern einrichten müssen. Auf welchen Zeitraum richten Sie sich denn ein? Ist das etwas, was möglicherweise auch irgendwann mal winterfest gemacht werden muss?

Adlung: Die Winter sind sehr, sehr hart hier in Kurdistan. Und wir haben schon letztes Jahr, als wir eben auch schon Flüchtlinge aus dem Syrienkonflikt hier hatten, haben wir eine sogenannte Winterisierung betrieben, das bedeutet, dass man eben zusätzlich Decken verteilt und auch eben Heizgeräte, und das ist natürlich in Erwägung zu ziehen. Wir planen generell immer im Jahresrhythmus, also wir stellen uns in diesem Jahr darauf ein, dass wir noch mehr Flüchtlinge bekommen, und wie lange sie bleiben, hängt natürlich von dem Konflikt ab. Viele Flüchtlinge würden gerne zurückkehren, aber es muss erst mal dann eine Konfliktlösung geben in der Region, und wirtschaftlich muss es besser sein in Syrien.

Ricke: Die Menschen, die die syrisch-irakische Grenze erreicht haben, werden versorgt, werden aufgenommen, bekommen ein Dach über dem Kopf. Was erzählen die über ihre Odyssee? Wie lange hat es gedauert, diese Grenze zu erreichen, und was ist ihnen passiert?

Adlung: Viele dieser Gespräche, die wir mit den Flüchtlingen führen, sind natürlich auch unter dem Eindruck zu bewerten, dass die Leute gerade erst angekommen sind. Also sie haben hauptsächlich einfach nur die Sorge, dass sie eben ein Zelt bekommen, Wasser und Essen. Und was auch noch interessant ist, fast alle von den Flüchtlingen sind eben Kurden. Sie gehen also als Kurden eigentlich in die erste autonome kurdische Region, das ist der Nordirak. Und die Gründe für die Flucht sind mannigfaltig, sie sind generell eine Kombination aus Sicherheitsproblemen, auch aus schlechter wirtschaftlicher Lage in Syrien, und auch eben aus dem Zusammenbrechen der sogenannten sozialen Netzwerke beziehungsweise Krankenhäuser, medizinischer Versorgung. Was die im Einzelnen erzählen, ist eben, dass sie keine Zukunft zurzeit mehr sehen, aber sehr gerne zurückkehren wollen.

"Die gemeinsame Bürde gemeinsam getragen"

Ricke: Es läuft ja gerade die Diskussion über ein militärisches Eingreifen des Westens in Syrien, das würde eventuell neue starke Flüchtlingsströme auslösen. Wie schaut man denn beim UNHCR auf diese Debatte?

Adlung: Wir planen natürlich immer in unserer Bestellung von Zelten, in unseren sogenannten Fundraising, also wenn wir Staaten eben auch informiert halten über die Situation hier, deswegen gebe ich auch das Interview. Wir sehen immer dazu, dass wir eben vorwärts schauen und nicht reagieren. Also wir rechnen damit, dass noch viel mehr kommen – persönlich hoffe ich natürlich, dass es zu keinem weiteren Blutvergießen kommt, aber wir sind vorbereitet darauf, dass noch mehr syrische Flüchtlinge in den Nordirak kommen.

Ricke: Frau Adlung, Sie haben die Gastfreundschaft der kurdischen Bevölkerung im Irak beschrieben. Was kann das UNHCR dazu tun, dass diese Gastfreundschaft lange anhält?

Adlung: Was wir dazu tun können, ist natürlich ein sogenanntes Burden Sharing, also dass wir der Regierung und der Gesellschaft helfen, dass die gemeinsame Bürde gemeinsam getragen wird. Wir kümmern uns auch eben darum, dass wir wie gesagt eng mit der Regierung jetzt in den Lagern zusammenarbeiten, wir liefern die Zelte, die Zelte werden aufgebaut, oftmals vom Militär, wir übernehmen eben die Sektoren zusammen mit UNICEF von Education, Wasser und Sanitär, und wir betreiben eine ganz massive eben auch Öffentlichkeitsarbeit. Wir werden auch Projekte in Angriff nehmen, die sich um die vor allem städtische Flüchtlingsversorgung kümmern. Das sind sogenannte Kleinprojekte im Zeitraum von drei Monaten, und wir hoffen eben dadurch, dass auch langfristig die Gastfreundschaft erhalten bleibt.

Ricke: Friederike Adlung vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Vielen Dank, Frau Adlung!

Adlung: Ja, bitte schön!


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