Unglück der Kleinstadtidylle

Rezensiert von Roland Krüger |
In der amerikanischen Kleinstadt Totten Crossing herrschen gutbürgerliches Glück, manierlicher Wohlstand und aufgesetzte Zufriedenheit. Der Leser lernt drei Familien kennen: Zunächst die Hagels, bestehend aus dem Immobilienmakler Drew, seiner zweiten Frau Ronnie, einer Psychotherapeutin, und seiner grüblerischen Tochter Shannon.
Dazu Familie Manning mit dem risikofreudige Finanzmakler Quint als Familienoberhaupt, seiner Frau Carrie, die davon träumt, Kinobesitzerin zu werden, und Sohn Jamie, der einige Zeit mit Shannon Hagel zusammen war.

Außerdem gibt es noch den siebzehnjährigen Ian, der mit seinem Onkel David zusammenlebt, der gleichzeitig sein Bewährungshelfer ist. Ian war durch Drogenkonsum mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Er ist Shannons derzeitiger Freund und bei Ronnie, die davon nichts weiß, in Therapie.

Zunächst leben alle ihr eigenes Leben mit Sehnsüchten und Enttäuschungen, die durchaus alltäglich sind. Allmählich erfahren wir aber, wie sehr in der kleinen amerikanischen Stadt, nicht weit von New York, alles mit allem zusammenhängt. Drews Immobiliengeschäfte laufen schlecht, also riskiert er sein ganzes Vermögen im Fonds von Quint Manning. Der muss aber gerade zur Kenntnis nehmen, dass diese Geldanlage herbe Verluste macht, so dass er das für seine Frau Carrie gekaufte Kino wieder verkaufen muss, bevor der erste Film gelaufen ist. Carrie ihrerseits sucht Trost bei einem anderen Kinofreund, mit dem sie eine Nacht verbringt, und wird dabei von ihrem Sohn Jamie erwischt, ohne es selbst zu bemerken.

Jamie betrinkt sich fürchterlich und ruft seine ehemalige Freundin Shannon zu Hilfe, die ihn nach Hause fährt. Unglücklicherweise fährt Ian trotz seiner Bewährungsauflagen das Auto des Betrunkenen nach Hause und streift dabei einen Fahrradfahrer, der schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wird. Da es keine Zeugen für den Unfall gibt, fällt der Besitzer des Autos, Jamie Manning, unter Verdacht, streitet aber wahrheitsgemäß alles ab.

Das Unglück nimmt seinen Lauf, und nach und nach bezichtigen die Akteure sich gegenseitig, suchen ihre eigenen Vorteile und schrecken nicht einmal vor Erpressung zurück. Die bürgerliche Fassade aus Lügen, Scheinheiligkeit, Täuschung und falscher Moral fällt in sich zusammen.

Als Leser fühlt man mit jeder der Hauptfiguren mit. Des einen Freud ist des anderen Leid. Kein Mensch ist ganz unschuldig, das ist der Gedanke, an den man sich als Leser am liebsten klammern möchte, denn alle Akteure begehen Fehler. Und gerade wenn man zum Beispiel Drew Hagel absolut nicht verzeihen mag, dass er sein ganzes Vermögen - und das seiner Frau dazu - leichtfertig in einen Risiko-Fonds gesteckt hat, nimmt einen der Autor regelrecht gefangen, indem er genau das Thema aus der Sicht Drew Hagels zeigt.

Es gibt viele solcher Beispiele, bei denen einen das Buch richtig packt. Das Abstreiten des Unfalls beispielsweise mag man zunächst gar nicht ertragen, dann sieht man das Geschehen aus der Sicht eines 17-jährigen, labilen Menschen, dessen Bewährungsfrist fast abgelaufen ist und denkt noch einmal ganz anders darüber nach.

Das leistet der Roman an mehreren Stellen: Obwohl man es sich zunächst nicht vorstellen kann, ist man gezwungen, alles auch von einer zweiten oder von einer dritten Seite zu betrachten.

Die Sprache des Romans ist griffig, plastisch, konkret und auch poetisch. Die Übersetzung ist sehr gelungen, man hat - sprachlich gesehen - einen typisch amerikanischen Roman vor sich: knappe Sätze, kraftvolle Ausdrücke, keinerlei unnötige Abschweifungen, treffende Kommentare. Hemingway hätte es nicht dichter schreiben können.

Der einzige Schwachpunkt dieses ansonsten rundum gelungenen Romans ist das Ende. Es ist allzu seifig geraten. Und zu allem Überfluss spendiert Amidon noch einen Epilog, der all das, was im Roman so realistisch durcheinander geht, wieder gerade bügeln möchte. Das tut dem Buch nicht gut. Man kann den Epilog aber auch ganz einfach weglassen. Und hat dann mit "Der Sündenfall" hervorragende, gesellschaftskritische amerikanische Literatur vor sich, die in bester amerikanischer Tradition steht.

Stephen Amidon lebte fünfzehn Jahre in London, wo er als Journalist, Herausgeber und Kritiker tätig war. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten entstand "Traumstadt", sein hoch gelobter Roman, mit dem er sich einen Platz in der ersten Reihe der jüngeren amerikanischen Autorengeneration erschrieb. Amidon lebt heute mit seiner Familie in Massachusetts.


Stephen Amidon: "Der Sündenfall"
Roman, aus dem Englischen von Rainer Schmidt
Goldmann Verlag, München
479 Seiten, Preis: 21,95 €