Ungleichheit als Normalität

Von Bruno Preisendörfer · 25.11.2006
In meiner Neuköllner Nachbarschaft wohnt Gerlinde. Sie ist alleinerziehend und lebt von Hartz IV. Außerdem schneidet sie für wenig Geld anderen Leuten in der Nachbarschaft die Haare. Manche mögen das Schwarzarbeit nennen und für illegal halten. Für solche bescheuerten Einwände hat Gerlinde aber keine Zeit.
Auch sonst hat sie wenig Zeit. Trotzdem kommen wir manchmal ins Gespräch, beim Bäcker, oder bei Aldi in der Schlange, obwohl ich, ehrlich gesagt, nur sehr, sehr selten zu Aldi gehe. Ich fühle mich da nicht wohl, fühle mich direkt ungleich, oder wie einer dieser journalistischen Schlauschreiber, die zwar von Aldi-Kultur schwadronieren, aber ihr Zeug dann doch lieber im KaDeWe kaufen, statt mit dem Volk in der Schlange zu stehen. Mir geht es im Neuköllner Aldi so, wie es den anderen im Neuköllner Aldi wahrscheinlich im KaDeWe gehen würde, man fühlt sich irgendwie unnormal. Der Unterschied besteht nur darin, dass ich mein Zeug trotzdem bei Aldi kaufen kann, wenn ich unbedingt will, während die meisten in der Schlange meines Neuköllner Aldi ihr Zeug eher nicht im KaDeWe kaufen können, auch wenn sie unbedingt wollen.

Gerlinde hätte gar keine Zeit, für Einkäufe zum Ku’damm zu fahren, selbst wenn sie das Geld hätte. Sie ist voll beschäftigt mit dem, was die Amis, die es ja alle irgendwann vom Tellerwäscher zum Millionär bringen, den "struggle for life" nennen, den Lebenskampf. So ein tagtäglicher Lebenskampf ist kräfteraubend und führt in der Regel nirgendwo hin. Es ist schon gut, wenn man auf der Stelle strampeln kann und nicht noch weiter abrutscht. Es muss ja nur irgendwas Unvorhergesehenes passieren, schon ist die Kacke am Dampfen - sagt Gerlinde. Sie sagt auch: "Aber det is nu mal so: Et jibt oben und et jibt unten. Det is so, det war so und det wird ooch immer so bleibn."

Eine recht einfache Weltanschauung, werden Sie jetzt vielleicht denken, zu einfach, irgendwie ’unterschichtig’. Bei Hans-Ulrich ist das ganz anders. Er ist ein kluger älterer Herr, der viele Bücher gelesen und sogar selbst welche geschrieben hat. In einem seiner Bücher steht: "Es ist eine anthropologische Konstante, dass es immer Herrschende und Beherrschte gegeben hat und geben wird." Hans-Ulrich heißt mit Nachnamen Wehler und ist ein bedeutender Historiker. Er sagt genau das Gleiche wie Gerlinde, aber ganz genau, nur benutzt er andere Worte. Seine Variante ist sozusagen die KaDeWe-Fassung des Sachverhaltes. Und Sie halten diese Weltsicht jetzt vermutlich auch nicht mehr für ‚unterschichtig’. Tja, wenn zwei Leute das Gleiche sagen ist es noch lange nicht Dasselbe.

Nehmen wir zum Beispiel Graham. Der konnte Sachen sagen wie: "Eine gewisse Apartheid wird es immer geben - zwischen Armen und Reichen." Graham hieß mit Nachnamen Greene, war ein katholischer Schriftsteller und hat wunderbare Romane geschrieben. Oder nehmen wir Judith. Sie war eine berühmte Philosophin und hieß mit Nachnamen Shklar. Zwei Jahre vor ihrem Tod 1992 veröffentlichte sie ein Buch über Ungerechtigkeit: "In jeder historisch bekannten Gesellschaft", schrieb sie, "herrschen die Reichen mit deren unseliger Zustimmung über die Armen, da diese ihr Schicksal um des Friedens willen hinnehmen."

Ich weiß nicht, was Gerlinde dazu sagen würde. Aber ich weiß, dass sich in den anderthalb Jahrzehnten, die seit Shklars Veröffentlichung vergangen sind, in den europäischen Gesellschaften die Anzeichen dafür häuften, dass die Armen eines Tages nicht mehr bereit sein könnten, ihr Schicksal um des Friedens willen hinzunehmen. Dass sie anfangen könnten, die Gewöhnung an die tagtägliche Ungleichheit abzuschütteln. Stellen Sie sich vor: All diese fehlernährten, bildungsfernen Unterschichtler drücken eines Tages den Aus-Knopf am Fernseher und lesen nach, was in den bildungsnahen Zeitungen über sie geschrieben wird.

Es könnte sein, dass die ‚anthropologische Konstante’ dann eine Zeit lang nicht mehr ganz so konstant ist, oder im Stil Gerlindes ausgedrückt: dass es mächtig Rabatz gibt. Man hat schon Pferde kotzen sehen - sagt Gerlinde. Hans-Ulrich würde vielleicht sagen: Man hat schon gesehen, wie Königen die Köpfe abgeschlagen wurden. Und Judith meint: "Welche Entscheidungen wir auch immer treffen, sie werden so lange ungerecht sein, wie wir der Ansicht des Opfers nicht uneingeschränkt Rechnung tragen und seiner Stimme volles Gewicht verleihen. Weniger zu tun ist nicht nur unfair, sondern politisch gefährlich."


Bruno Preisendörfer, Jahrgang 1957, lebt als Publizist und Schriftsteller in Berlin. In diesem Jahr sind der Erzählungsband "Die Beleidigungen des Glücks" und der Roman "Die letzte Zigarette" erschienen.