Ungeschöntes Bild einer Zeit voller Not
Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg - das betraf vor allem Frauen. Im Bielefelder Aisthesis Verlag sind unter dem Titel "Frauen auf der Flucht" Berichte von Frauen erschienen, die Marianne Weber unmittelbar nach Kriegsende gesammelt hat.
Marianne Weber, Frauenrechtlerin und Witwe des Nationalökonomen und Soziologen Max Weber, hatte sich bereits Anfang der 50er Jahre darum bemüht, die Berichte der Frauen unter dem Titel "Schicksalssammlung" zu veröffentlichen. Ein vergebliches Unterfangen, wie die Herausgeber im Anhang dokumentieren.
Den authentischen, noch nicht vom "Leben danach" beeinflussten Erinnerungen ist das ebenfalls bereits 1951 geschriebene Vorwort Marianne Webers vorangestellt. Darin heißt es unter anderem:
"Das Verhalten der Hitlerdeutschen im Osten war derart teuflisch, dass wir die Racheakte nach unserer Kapitulation verstehen müssen. … Was die Deutschen als Sieger gesündigt haben, wurde von diesen Menschen im Osten gebüßt."
"Frauen auf der Flucht" ist ein durch und durch subjektives Buch. Es zeichnet aus der Sicht derer, in deren tägliches Leben Vergeltung und Rache ungebremst eingriffen, ein ungefiltertes, ungeschöntes Bild einer chaotischen, rechtsfreien Endkriegs- und ersten Nachkriegszeit. Vergewaltigungen, desolate Lebensbedingungen, blinde Zerstörungswut waren alltäglich. Die Lebensberichte machen betroffen, und einmal mehr wird deutlich, dass es vor allem Frauen waren, die die Verbrechen der Nationalsozialisten büßen mussten. Frauen wurden in besonderer Weise Opfer, weil sexuelle Gewalt zu einem Mittel strategischer Kriegsführung geworden war - und bis heute ist.
"Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Die Russen waren stets gefährlich, wenn sie viel getrunken hatten, aber auch vor Polen war man nicht mehr sicher. ... Verwundert waren wir aber immer wieder über die feste Überzeugung der Polen, dass sie zu diesen 'Vergeltungstaten' berechtigt waren, und dazu, uns völlig auszuplündern..."
Neben den Berichten über Gräuel, Willkür und Elend steht Alltägliches. Eindringlich beschreiben die Frauen, wie sie das Leben und Überleben unter wechselnden "Besatzungsbehörden" organisierten, wie sie die Felder bestellten, die Ernte einfuhren, Essen beschafften, Kinder und Kranke versorgten. Es waren die Familie und Freunde, manchmal auch nur Gottvertrauen, was ihnen Kraft und Halt in den Wirren von Flucht und Vertreibung gab. Allen biografischen Erfahrungen zum Trotz erleben einige der Frauen, was Mitmenschlichkeit heißt; sie beschreiben Begegnungen jenseits des Freund-Feind-Schemas: Da ist zum Beispiel der tschechische Bauer, der die Flüchtenden verbotenerweise mit Essen versorgt; ein polnischer Bürgermeister, der vor dem sowjetischen Geheimdienst NKWD warnt, und der russische Soldat, der den Flüchtenden zu trinken gibt. Einig sind sich ein von der polnischen Verwaltung eingesetzter junger Pole und eine kurz vor der Vertreibung stehende Gutsbesitzerin darin…
"…dass wir alle um die Menschlichkeit kämpfen und über Völkerhass und Vergeltung hinweg versuchen müssen, wieder aufzubauen, was herrschende und versunkene Ideologien immer wieder niederreißen."
Die Texte, überwiegend in der zweiten Hälfte der 40er Jahre verfasst, wurden weder geglättet noch kommentiert. Das dokumentiert einerseits ihre Authentizität. Andererseits hat mich manche ressentimentgeladene, an die Diktion des Dritten Reiches erinnernde Formulierung entsetzt. So zum Beispiel, wenn von "dem" slawischen Sadismus oder anderen rassistischen Vorurteilen die Rede ist. Hier wären ebenso klärende und erklärende Anmerkungen der Herausgeber wünschenswert gewesen wie ergänzende Angaben zu den Autorinnen. Dennoch ist "Frauen auf der Flucht" eine aufrüttelnde, zeitgeschichtliche Dokumentation.
Marianne Weber: Frauen auf der Flucht
Aisthesis Verlag, Bielefeld, 2005
378 Seiten
24,80 Euro
Den authentischen, noch nicht vom "Leben danach" beeinflussten Erinnerungen ist das ebenfalls bereits 1951 geschriebene Vorwort Marianne Webers vorangestellt. Darin heißt es unter anderem:
"Das Verhalten der Hitlerdeutschen im Osten war derart teuflisch, dass wir die Racheakte nach unserer Kapitulation verstehen müssen. … Was die Deutschen als Sieger gesündigt haben, wurde von diesen Menschen im Osten gebüßt."
"Frauen auf der Flucht" ist ein durch und durch subjektives Buch. Es zeichnet aus der Sicht derer, in deren tägliches Leben Vergeltung und Rache ungebremst eingriffen, ein ungefiltertes, ungeschöntes Bild einer chaotischen, rechtsfreien Endkriegs- und ersten Nachkriegszeit. Vergewaltigungen, desolate Lebensbedingungen, blinde Zerstörungswut waren alltäglich. Die Lebensberichte machen betroffen, und einmal mehr wird deutlich, dass es vor allem Frauen waren, die die Verbrechen der Nationalsozialisten büßen mussten. Frauen wurden in besonderer Weise Opfer, weil sexuelle Gewalt zu einem Mittel strategischer Kriegsführung geworden war - und bis heute ist.
"Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Die Russen waren stets gefährlich, wenn sie viel getrunken hatten, aber auch vor Polen war man nicht mehr sicher. ... Verwundert waren wir aber immer wieder über die feste Überzeugung der Polen, dass sie zu diesen 'Vergeltungstaten' berechtigt waren, und dazu, uns völlig auszuplündern..."
Neben den Berichten über Gräuel, Willkür und Elend steht Alltägliches. Eindringlich beschreiben die Frauen, wie sie das Leben und Überleben unter wechselnden "Besatzungsbehörden" organisierten, wie sie die Felder bestellten, die Ernte einfuhren, Essen beschafften, Kinder und Kranke versorgten. Es waren die Familie und Freunde, manchmal auch nur Gottvertrauen, was ihnen Kraft und Halt in den Wirren von Flucht und Vertreibung gab. Allen biografischen Erfahrungen zum Trotz erleben einige der Frauen, was Mitmenschlichkeit heißt; sie beschreiben Begegnungen jenseits des Freund-Feind-Schemas: Da ist zum Beispiel der tschechische Bauer, der die Flüchtenden verbotenerweise mit Essen versorgt; ein polnischer Bürgermeister, der vor dem sowjetischen Geheimdienst NKWD warnt, und der russische Soldat, der den Flüchtenden zu trinken gibt. Einig sind sich ein von der polnischen Verwaltung eingesetzter junger Pole und eine kurz vor der Vertreibung stehende Gutsbesitzerin darin…
"…dass wir alle um die Menschlichkeit kämpfen und über Völkerhass und Vergeltung hinweg versuchen müssen, wieder aufzubauen, was herrschende und versunkene Ideologien immer wieder niederreißen."
Die Texte, überwiegend in der zweiten Hälfte der 40er Jahre verfasst, wurden weder geglättet noch kommentiert. Das dokumentiert einerseits ihre Authentizität. Andererseits hat mich manche ressentimentgeladene, an die Diktion des Dritten Reiches erinnernde Formulierung entsetzt. So zum Beispiel, wenn von "dem" slawischen Sadismus oder anderen rassistischen Vorurteilen die Rede ist. Hier wären ebenso klärende und erklärende Anmerkungen der Herausgeber wünschenswert gewesen wie ergänzende Angaben zu den Autorinnen. Dennoch ist "Frauen auf der Flucht" eine aufrüttelnde, zeitgeschichtliche Dokumentation.
Marianne Weber: Frauen auf der Flucht
Aisthesis Verlag, Bielefeld, 2005
378 Seiten
24,80 Euro