Ungeschönte Sicht auf die Wirklichkeit

Von Anette Schneider · 13.10.2010
Courbet gilt gemeinhin als Realist, doch in Frankfurt wird ein "anderen" Courbet präsentiert: Die versammelten Bilder sollen einen Maler der Innenschau vorstellen. Aber anders als es die Ausstellungsmacher versuchen, lässt sich Courbet nicht auf einen Träumer und formalen Neuerer reduzieren.
Scheinbar am Rande eines Nervenzusammenbruchs rauft sich Courbet seine Haare, starrt mit aufgerissenen Augen aus dem Bild - und blickt doch, so Kurator Klaus Herding, in sich hinein, erzählt von innerer Zerrissenheit. Mit dem 1845 entstandenen "Selbstbildnis als verzweifelter Künstler" eröffnet die Ausstellung, die einen neuen Courbet vorstellen möchte.

"Die Ausstellung versucht, die über den Realismus hinausgehenden Seiten Courbets hervorzuheben. Und deswegen bin ich immer stärker auf die emotionalen Qualitäten Courbets gekommen, auf das Nach-Innen-Schauen, auf das Beiseitestehen, auf das Verträumtsein. All diese Dinge, die eine starke Versenkung in die Bilder erfordern. Ich glaube, diese andere Seite eröffnet uns wirklich Qualitäten, die vorher übersehen wurden."

Bei den Selbstporträts überzeugt das nicht: Als der 25-jährige Courbet den verzweifelten Künstler gab, galt er als Bürgerschreck. So lässt sich das Bild auch als Provokation lesen: Theatralisch spielt Courbet der bürgerlichen Gesellschaft das Klischee vom Künstlergenie vor.
Bei den Porträts von Freunden wiederum scheint eine Innenschau nicht wirklich überraschend, ist sie doch vornehmste Aufgabe des Genres. Die grob thematisch gehängte Ausstellung umfasst viele berühmte Bilder, darunter Mädchenakte, großformatige Bauern- und Bettlerbildnisse, Felsen- und Wellenbilder, sowie Landschaften und Stillleben. Arbeiten, die vor allem den radikalen Neuerer Courbet bewusst machen, der bis zu seinem Tod 1877 gegen eine reaktionäre Bourgeoisie und deren Vorliebe für akademische Feinmalerei neue Inhalte und Formen entwickelte - eine realistische Malerei.

"Realismus ist zunächst einmal der Gegenbegriff zu Idealismus. Und insofern enthält Realismus immer eine kritische Komponente. Dann will realistische Malerei Gegenwart verändern. Das kann man eben tun, indem man alle möglichen Verbrämungen, Beschönigungen abstreift, und eben die Wirklichkeit krass, manchmal so unschön malt."

Courbets Zeitgenossen reagierten darauf empört. Und bis heute haben die Arbeiten nichts von ihrer inhaltlichen und malerischen Wucht verloren. Um dennoch einen introspektiven Courbet behaupten zu können, werden in Frankfurt zum Beispiel die berühmten, im Gras liegenden "Mädchen an der Seine" kurzerhand zu "tagträumenden, nach Liebe verlangenden Frauen" erklärt. Allerdings sind die beiden Prostituierte, sodass fraglich ist, ob sie wirklich träumen, oder nicht vielmehr ihrer Arbeit nachgehen: Die halbnackte Vordere jedenfalls blickt derart lasziv aus dem Bild, als sei sie auf Kundenfang. Doch all dies interessiert die Ausstellung nicht.

"Wir wollen ja sehen, was ist heute aktuell an Courbet? Was wirkt darüber hinaus? Auflösung der Farbe und Form, Farbschichten, das Spachteln, ... die Ausbreitung der Farbfläche. Oder das Neuergründen, das Holzschnittartig einfache Porträtieren von Personen in einem verfremdeten Kontext, wie es Neo Rauch oder Pieter Doig interessieren, das sind Dinge die heute dran sind."

Nur: Wie - und warum - will man bei Courbet Form und Inhalt trennen? Während Rauch und Doig wirklichkeitsferne Rätselwelten entwerfen, erneuerte Courbet die Malerei eben nicht um des Experimentierens Willen, sondern weil seine neue, ungeschönte Sicht auf Wirklichkeit neue Formen erforderte: So sieht man Bauern und Bettler auf über zwei Meter hohen Leinwänden, gemalt mit grobem Pinselduktus, und in abstrakt anmutende Nicht-Landschaften gestellt. Sich selbst präsentiert Courbet als gesellschaftliche Avantgarde in gleißend heller Landschaft. Auch hier erzählt die unfertig anmutende Malweise von der Veränderbarkeit der Verhältnisse.

"Also Realismus in diesem Sinn heißt: Über die gegenwärtige Gegenwart hinauszugehen. Etwas zu träumen. Sich zu ersehnen, etwas aufzubauen, was noch nicht wirklich existiert - und das mit den modernsten Mitteln zu tun. Also auch mit Mitteln, die über die herkömmliche Malerei hinausgehen. Deshalb ist er da ganz hell, oder abstrahierend, oder stellt sich da in den Mittelpunkt."

Zeitlebens ging es Courbet um die Erneuerung der Malerei und der Gesellschaft. Dafür saß er 1871, nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Commune, im Kerker. Dafür rang er ein Leben lang in seiner Arbeit. So auch in den selten gezeigten Winterlandschaften, pastos auf die Leinwand gebracht, die von eisiger, politischer Reaktion erzählen.

Und so verdeutlicht die Ausstellung vor allem eines: Anders als es die Ausstellungsmacher versuchen, lässt sich Courbet nicht auf einen Träumer und formalen Neuerer reduzieren. Stillleben, Badende, die Bildnisse von Bauern oder Bettlerinnen zeigen: Die Trennung von Inhalt und Form funktioniert bei Courbet nicht. Und genau das macht seine Qualität aus: Die moderne Malweise, mit der er die akademische Malerei des 19. Jahrhunderts zertrümmerte, ist von ihren Inhalten nicht zu trennen.

Mit beidem richtete sich Courbet immer auch gegen die herrschende soziale Ungleichheit der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Probleme ausgerechnet heute zu ignorieren, und - wie Ausstellung und Katalog es machen - für erledigt zu erklären, zeugt angesichts des Realisten Courbet von einiger Realitätsferne.

Link zur Ausstellung