Ungarn und Polen

Wie die "antagonistische Mehrheitsdemokratie" funktioniert

Der ungarische Premierminister Viktor Orban spricht nach dem gescheiterten Referendum zur Flüchtlingspolitik auf einer Pressekonferenz in Budapest, Ungarn.
Der ungarische Premierminister Viktor Orban auf einer Pressekonferenz in Budapest © AFP
Kai-Olaf Lang im Gespräch mit Susanne Führer · 29.04.2017
Die Europäische Union steckt mal wieder in der Krise: Großbritannien tritt aus, aber Ungarn und Polen bleiben drin. Diese beiden Länder haben zurzeit kein gutes Image in der EU und auch in Deutschland. Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik analysiert die Veränderungen in beiden Ländern.
Deutschlandradio Kultur: Wir wollen heute nach Osteuropa blicken, genauer nach Ungarn und Polen. In Deutschland und in der EU wird ja die Entwicklung in diesen beiden Staaten sehr kritisch gesehen. Manch einer meint ja sogar, es sei doch zu schade, dass die gefestigte Demokratie Großbritannien aus der EU austreten wird, aber Ungarn und Polen drin bleiben wollen.
Man wirft beiden Regierungen vor - also der Regierung Ungarns wie auch der Polens -, dass sie autokratisch handeln, dass sie den Rechtsstaat und die Demokratie demontieren und Hass auf Minderheiten und alles Fremde schüren und damit eben à la longue auch die Europäische Union quasi von innen zerstören.
Ist das tatsächlich so? Gelten in Ungarn und Polen andere Werte als in Westeuropa? Und wenn ja, warum? – Auf diese Fragen erhoffe ich mir Antworten von Dr. Kai-Olaf Lang. Er ist Politikwissenschaftler und arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Erstmal herzlich willkommen hier in Tacheles.
Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik.© Marc Darchinger
Kai-Olaf Lang: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Ich habe vor ein paar Wochen ein Interview mit der deutch-ungarischen Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky gelesen. Da habe ich mich wirklich erschrocken. Denn Marsovszky sagte da über Ungarn, ich zitiere: "Begriffe wie Menschenrechte oder Demokratie sind eindeutig negativ konnotiert. Sie machen den Menschen Angst." – Warum ist das so in Ungarn, Herr Lang?
Kai-Olaf Lang: Also, ich will diese These in der Form nicht teilen. Wir müssen - ob wir jetzt Viktor Orbán, den ungarischen Ministerpräsidenten sympathisch finden oder nicht – wir müssen doch genau hinschauen. Ich glaube, was in Ungarn passiert, ist in der Tat eine Veränderung der Demokratie. Ich würde behaupten, Orbán hat die Demokratie in Ungarn keineswegs abgeschafft, aber er hat sie transformiert. Wir haben es mit einem anderen Typus von Demokratie zu tun als das, was wir gewöhnlich als traditionelles liberales Modell sehen. Was Orbán installiert, ist etwas, was ich antagonistische Mehrheitsdemokratie nenne.
Das heißt, er argumentiert sehr stark mit Mehrheitslegitimation. Wir dürfen nicht vergessen, Viktor Orbán und seine Partei Fidesz wurden zweimal hintereinander gewählt, 2010 mit mehr als der Hälfte der abgegebenen Stimmen fuhr er eine Verfassungsmehrheit ein. Vier Jahre danach erhielt er nochmal ein Mandat. Er wurde bestätigt.
Vor diesem Hintergrund sagt er: Ich habe den Auftrag, sehr grundlegende Veränderungen in Ungarn vorzunehmen, mehr als nur einen Regierungswechsel, sondern eine veritable Revolution in ganz unterschiedlichen Bereichen. Und die Wähler haben das akzeptiert.

"Man stellt den Gegner in Frage"

Deutschlandradio Kultur: Sie sind jetzt schon bei Orbán sofort gelandet, Herr Lang, und seiner Interpretation von Demokratie, die mich ja sehr an die des anderen ziemlich autokratischen Herrschers, nämlich Erdoğans in der Türkei, erinnert. Aber Magdalena Marsovszky meint ja so etwas festgestellt zu haben, dass es geradezu einen Widerwillen dagegen gibt, was wir in Westeuropa für das Wesen von Demokratie halten – also: Minderheitenschutz, Menschenrechte usw. Das würden Sie nicht teilen?
Kai-Olaf Lang: Deswegen sage ich "Mehrheitsdemokratie". Also, sämtliche Elemente der liberalen Demokratie, etwa Gewaltenteilung oder die Existenz von Gegenlagern, von Sperrklinken sieht man nicht sehr gerne.
Insofern: Ja, es gibt tatsächlich diese Hinwendung zur Mehrheitsdemokratie und, das ist das Antagonistische, man sieht die andere Seite, die Opposition, nicht als…
Deutschlandradio Kultur: ... Mitspieler…
Kai-Olaf Lang: … Kontrahenten, und letzten Endes hat man das gleiche Ziel. Es ist wie im Fußball: Ich habe eine andere Mannschaft, aber letzten Endes haben wir Spaß an der Freude und haben ein gemeinsames Ziel, auch wenn wir sozusagen gegeneinander auf dem Spielfeld stehen. Das ist es nicht.
Es ist antagonistisch, man stellt den Gegner infrage und es ist eher der Feind, der auf der anderen Seite steht.
Deutschlandradio Kultur: Man fragt sich ja doch, woher das kommt. Ungarn hatte ja früher in Deutschland, und zwar in Ost wie in West, also in der DDR wie in der Bundesrepublik, diesen Ruf: Gulasch-Kommunismus war so ein Begriff. Da ist das alles nicht so ernst gemeint, da ist das alles so ein bisschen menschlicher, und lockerer geht es da zu. Wir erinnern uns: 1989, Ungarn hat den Eisernen Vorhang geöffnet. Ungarn hat den Grenzzaun geöffnet, Monate bevor die Mauer gefallen ist in Berlin.
Also frage ich mich: Haben wir diese Bilder falsch interpretiert oder was ist in der Zwischenzeit passiert? Denn heute könnte man ja ein bisschen polemisch von einer Gulasch-Demokratie sprechen. Die ist auch nicht so ernst gemeint.
Kai-Olaf Lang: Oder von Gulasch-Nationalismus, wobei es eigentlich relativ wenig Gulasch gibt in diesem Modell. - Ich glaube, wir müssen ein bisschen zurückschauen. In der Tat, Ungarn war einer der Vorreiter auf dem Weg nach Europa. Aber es gab auch noch eine Phase, wo man schon begann, über den "kranken Mann an der Donau" zu schreiben, und zwar lange vor Orbán. Das Land hatte große wirtschaftliche und finanzielle Schwierigkeiten. Als die Finanzkrise ausbrach, brauchte Ungarn ein Hilfspaket von IWF und EU. Dazu kam, dass die Korruption im Lande zunahm und dass die linksliberalen Eliten sehr arrogant bis zynisch waren.
Das bereitete den Grund für den triumphalen Wahlsieg Orbáns 2010. Im Grunde war das bisherige Establishment kompromittiert. Daher konnte Orbán dann sozusagen diese satte Mehrheit einfahren. Auf dieser Grundlage kann er durchregieren. Bis heute hat sich die proeuropäische liberale Opposition nicht erholt. Und Orbáns Stärke ist immer auch die Schwäche der anderen Seite.
Also, Orbán setzte auf bestimmten Krisenerscheinungen auf, um das Land in seinem Sinne umzubauen.
Deutschlandradio Kultur: Das sehen wir ja auch in Polen, wozu wir gleich noch kommen werden. Trotzdem frage ich mich, woher dieser geradezu überschäumende Nationalismus kommt. Orbán spricht ja auch von kollektiver Freiheit. Das Land heißt jetzt Ungarn und nicht mehr Republik Ungarn. Der Wetterbericht im ungarischen Fernsehen wird gezeigt für Großungarn, also für Ungarn in den Grenzen von vor 1920. 1920 gab es den Friedensvertrag von Trianon, da hat Ungarn zwei Drittel seines Staatsgebiets verloren.
Ich habe gedacht, das wäre doch so, als wenn die Tagesschau heute eine Karte zeigen würde von Deutschland in den Grenzen von 1937, mit Ostpreußen noch dran. Das wirkt so vollkommen wahnsinnig.
Kai-Olaf Lang: Es ist letztlich die Frage danach, was Orbán antreibt, wo er hin möchte. Ich glaube, generell formuliert kann man sagen, er möchte Ungarn Stärke und Selbstbehauptungsfähigkeit zurückgeben. Das tut er, glaube ich, indem er sehr aktiv ist, indem er den Hebel ansetzt in vier ganz wichtigen Bereichen.
Erstens in der Wirtschaft: Das, was er "unorthodoxe Wirtschaftspolitik" nennt, ist so ein Mix aus etatistischen Elementen, aber auch stark marktorientierten Komponenten. Er hat beispielsweise einigermaßen erfolgreich den Haushalt saniert. Er möchte aber auch nationale Champions aufbauen, also staatlich kontrollierte große öffentliche Firmen in strategischen Bereichen.
Zweitens möchte er einen nationalen Mittelstand aufbauen. Es gibt keine wirkliche starke ungarische Mittelschicht - das ist insofern Gesellschaftspolitik - und dabei Eliten auswechseln.
Drittens: Um mal das deutsche Vokabular zu verwenden, im Grunde will er eine moralische Wende, also eine nationalkonservative Ausrichtung des Landes unter Bezugnahme – Sie haben das erwähnt – auf historische Momente, zumal auf die Grandeur Ungarns, in der Doppelmonarchie, diese aufstrebende Nation, aber auch auf die Leidensgeschichte: Trianon, den 1956er Aufstand.
Und, das ist das vierte Wichtige: Das alles hat auch eine außenpolitische Komponente. Orbán möchte sein Land in der Europäischen Union im internationalen Gefüge festigen und möchte in der EU einen extensiven Hoheitskern bewahren. Er ist insofern Souveränist.

Nur eine knappe Mehrheit unterstützt Orbán

Das alles wird natürlich eingepackt in eine patriotische nationalistische Rhetorik, die man auch, glaube ich, dazu verwendet, um zu mobilisieren. Ich denke, Ungarn ist natürlich auch, das werden wir auch im polnischen Fall sehen, ein gespaltenes Land. Es gibt eine Mehrheit, die Orbán unterstützt, aber das ist eine knappe Mehrheit. Er muss immer wieder kämpfen, um die Leute hinter sich zu versammeln.
Deutschlandradio Kultur: Und wird deswegen von Orbán so stark der Rassismus geschürt? Er redet rassistisch und er handelt rassistisch. Ungarn war das erste Land, das den Grenzzaun geöffnet hat. Die waren jetzt auch die ersten, die wieder einen Zaun errichtet haben gegen die Flüchtlinge.
Kai-Olaf Lang: Ich weiß nicht, ob wir das Rassismus nennen können. Es gibt diese Begleitmusik. Es gibt auch diese Milieus in Ungarn und auch im Umfeld und in Teilen der Regierung ..
Deutschlandradio Kultur: Na ja, er sagt: Wenn wir hier die Flüchtlinge aufnähmen, dann würde das Tod des ungarischen Volkes zur Folge haben.
Kai-Olaf Lang: Ja, aber das ist sozusagen eine Bedrohungswahrnehmung. Und er arbeitet natürlich auch mit diesen Ängsten. Kurz vor Ausbruch der Flüchtlingskrise kam die Regierungspartei Fidesz zum ersten Mal in den Umfragen ziemlich in Bedrängnis. Der Grund waren Korruptionsskandale. Und dann war Orbán in gewisser Weise daran interessiert, die Situation zunächst hoch eskalieren zu lassen. Also, ein ungarischer Politologe hat mal gesagt: Orbán braucht permanent die Unberechenbarkeit. – Und es gab ein Chaos in Ungarn in der Anfangsphase. Wie kann es sein, dass bei einem Law-and-Order-Politiker wie Orbán Tausende über die Autobahn marschieren? Und dann war er derjenige, der Ordnung geschaffen hat. Das ist zum einen das Element der Ordnung.
Zum anderen, und da kommt der Zaun ins Spiel, Orbán hat gesagt: Wir haben die Grenze 1989 geöffnet, den Zaun abgebaut, damit wir unsere Souveränität zurückerlangen können. Und jetzt haben wir einen Zaun gebaut, damit wir unsere Souveränität verteidigen. – Damit kann er punkten.
Deutschlandradio Kultur: Osteuropa tickt anders. Das ist unser Thema heute in Tacheles. Herr Lang, wir haben jetzt über Ungarn gesprochen, wir machen jetzt mal einen Schwenk nach Polen. Das Gefühl der Bedrohung und die Abwehr von Auswärtigen und seien sie dazu noch Muslime bietet da leider eine sehr gute Überleitung. Auch da hetzt ja der zumindest inoffiziell erste Mann im Staat, offiziell ist er es ja nicht, also Jarosław Kaczynski, gegen Flüchtlinge, gegen Muslime, gegen Ausländer überhaupt. Parasiten, Typhus und noch Schlimmeres bringen die alles ins Land. Das ist ja insgesamt leider Gottes jetzt nichts Besonderes heute, man kann jetzt nicht sagen, dass solche Reden auf Ungarn und Polen beschränkt wären. Aber im Fall von Polen wundert es mich dann doch auch wieder, weil das Land ja selbst eines der auswanderungsfreudigsten ist. Insofern würde man doch eigentlich etwas mehr Weltoffenheit erwarten.
Kai-Olaf Lang: Es gibt eine interessante Situation in Polen. Man hat in Polen geschätzt – mindestens eine Million Zuwanderer aus der Ukraine, keine Flüchtlinge, sondern Zuwanderer, die teilweise illegal in Polen sich aufhalten und dort arbeiten. Es gibt eigentlich kaum, mir wäre es nicht bekannt, Übergriffe gegen diese Leute. Offensichtlich ist da eine gewisse kulturelle Nähe da und das funktioniert irgendwie.
Das große Thema ist die Zuwanderung von kulturell Fremden. Das ist, glaube ich, das, worauf der Fokus geht. Und Polen und Ungarn sind ja nicht die einzigen in diesem Teil Europas und in anderen Teilen Europas, die restriktiv sind. Wenn wir uns das Baltikum anschauen, wenn wir in die Tschechische Republik schauen, das sind Regierungen, die nicht nationalpopulistisch sind. In der Flüchtlingsfrage verhalten die sich ziemlich ähnlich, weil sie den Erwartungen des Großteils ihrer Gesellschaften in dieser Frage entsprechen.
Deutschlandradio Kultur: Wir hatten vorhin diesen Imagewandel von Ungarn, vom Gulasch-Kommunismus heute zum Buhmann Europas. Polen hat ja so einen ähnlichen Imagewandel durchgemacht. Man denke an das Jahr 1980, an die Streikbewegung, an die Gewerkschaft Solidarność. Die ganze Welt hat ja voller Bewunderung auf die mutigen und freiheitsliebenden Polen geschaut.
Und heute hat man den Eindruck, Kaczynski wolle noch vor diese Zeit zurück mit einem erzkatholischen Familienrecht, mit einem absoluten Abtreibungsverbot und mit einer klaren Trennung der Welt in Gut und Böse. – Welche Ziele verfolgt Kaczynski und mit ihm seine Partei, die PiS, die Partei für Recht und Gerechtigkeit?
Kai-Olaf Lang: Es gibt so einen Begriff, den Kaczynski und seine Gefolgsleute immer wieder verwenden. Das ist der der naprawa państwa, der Reparatur des Staates. Man ist der Auffassung, dass in Polen der Übergang 1989, die verhandelte Revolution am Runden Tisch ein fauler Kompromiss gewesen sei und dass sozusagen postkommunistische Seilschaften sich der Wirtschaft, der Politik bemächtigt hätten. Und deswegen braucht man so eine nachholende Transformation. Das ist es, was er anstrebt.
Deswegen will er den Staat neu organisieren und er will auch die Wirtschaft umbauen. Wir müssten uns eines vergegenwärtigen: Kaczynskis Partei hat die Wahlen 2015 nicht deswegen gewonnen, weil man deutschlandkritisch gewesen wäre, weil man europaskeptisch gewesen wäre. Durch EU-Kritik verliert man in Polen Wahlen, man gewinnt sie nicht. Kaczynski hat die Wahlen deswegen gewonnen, weil er sagte: Wir brauchen solidarna i socjalna Polska , das solidarische und soziale Polen.

"Polen war ein Erfolgsmodell"

Die wirtschaftliche und soziale war in Polen nicht so dramatisch wie in Ungarn 2010, im Gegenteil. Polen war ja ein Erfolgsmodell. Aber es gab Leute, die nicht mitgenommen wurden – in der Peripherie, in den östlichen Landesteilen beispielsweise. Und das sind die Hochburgen der PiS-Anhängerschaft.
Deutschlandradio Kultur: Und die PiS hat ja tatsächlich auch gehandelt. Es gibt seitdem 120 Euro Kindergeld im Monat, das Renteneintrittsalter wurde gesenkt, der Mindestlohn erhöht.
Aber kommen wir nochmal zu diesem ideologischen, psychologischen Hinterland von Jarosław Kaczynski und seiner PiS zurück. Ich habe gerade einen interessanten Artikel des britischen Autors James Meek gelesen. Der hat sich auf die Spur einer Süßwarenfabrik gemacht, die in England geschlossen wurde und nach Polen verlegt worden ist, weil dort die Arbeitskräfte billiger sind. Er hat also Polen bereist in diesem Zusammenhang und hat festgestellt, dass die polnische Regierungspartei PiS dem Glauben anhängt, Polen sei dafür bestimmt zu leiden. Polen sei unter den Nationen der Jesus Christus. Und Jarosław Kaczynski pflegt ja auch diesen Hang zum Märtyrertum.
Kai-Olaf Lang: Ich glaube, wir sind eigentlich schon einen Schritt weiter. Ich glaube, die PiS ist nicht mehr eine Partei, die daran glaubt, dass Polen der Messias der Nationen ist, der zum Leiden verdammt ist, sondern Kaczynski sieht sich als derjenige, der dazu berufen ist, Polen genau daraus heraus zu führen. Man möchte nicht mehr der Spielball und das Spielfeld sein, sondern man möchte ein Spieler sein. Man möchte aus einer ungünstigen geopolitischen Sandwich-Position heraus.
Deswegen spricht Kaczynski ja auch in einer – wie ich meine – maßlosen Übertreibung, aber gleichwohl, das ist seine Wahrnehmung, von einem deutsch-russischen Kondominium. Man möchte versuchen, aus vor allem der deutschen Hegemonie herauszukommen. Europapolitisch versucht man da ganz neue Akzente zu setzen. Ich glaube, das ist wichtig nach außen.
Und wichtig nach innen ist ein Begriff, den Kaczynski mehrfach verwendet hat, ist der der middle income trap. Er sagt: Wir sind in einem wirtschaftlichen Entwicklungsstadium, wo wir Gefahr laufen, in so eine Falle hinein zu tappen, dass wir nicht mehr Billiglohnland sind, aber noch nicht ein Land der hochqualifizierten Produktion. Da müssen wir rauskommen. Und er sagte einmal in einer Rede: Wir müssen unser Land und unsere Wirtschaft stärker machen. Denn für schwache Staaten ist in unserem Teil Europas kein Platz.
Deutschlandradio Kultur: Ich finde ja auch den Gedanken interessant, von der PiS geäußert, dass Polen in den vergangenen Jahrzehnten im Grunde genommen wie eine Kolonie behandelt worden ist und sich auch wie eine Kolonie hat behandeln lassen – also in dem Sinne: Die westlichen Konzerne sind gekommen und haben nur investiert, weil es billige Arbeitskräfte gab in Polen. Und sie haben aber nie in die Hightech-Industrie, also nie in Forschung und Entwicklung investiert und haben Polen immer nur als einen Absatzmarkt gesehen.
Und die Denkfigur ist, dass man jetzt in postkolonialen Zeiten lebt und sich davon befreien will.

Innovation statt Imitation

Kai-Olaf Lang: Im Grunde handelt es sich nicht nur in Polen, aber eben auch dort, um einen Streit über die Modernisierung. Das eine Lager, das war das, das in den 90er Jahren dominierte, sagte: Wir sind Peripherie, wir sind sozusagen der schlechtere Westen. Und Rückkehr nach Europa bedeutet, dass wir uns wirtschaftlich, politisch, institutionell, aber auch kulturell und was die Werte angeht, annähern an dieses Modell. – Das ist die Konvergenztheorie dieses Lagers.
Das andere Lager sagt: Genau das war der Fehler. Ihr seid in die Transformation gestartet mit einem Minderwertigkeitskomplex und ihr habt copy and paste gemacht. Wir brauchen keine Imitation, wir brauchen Innovation. Im Grunde habt ihr so eine Art Selbstkolonialisierung - das ist der Begriff eines bulgarischen Denkers - betrieben. Und es ist unsere Aufgabe, jetzt einen ganz besonderen Weg zu beschreiben.
Was meiner Auffassung nach Kaczynski und auch Orbàn in Ungarn wollen, das ist neotraditionalistische Modernisierung. Sie wollen ihre Länder modernisieren – technisch, was die Infrastruktur angeht - dafür braucht man auch die EU. Aber das alles geschieht rückgebunden an klassische traditionelle Werte, christliche Werte, Nation und ähnliches mehr.
Deutschlandradio Kultur: Für mich zeigt es an die Verschiedenheit der Wahrnehmung, wenn die PiS jetzt davon spricht, dass wir in postkolonialen Zeiten leben oder dass die Polen in postkolonialen Zeiten leben. Das ist ja ein Begriff, den man von den afrikanischen Befreiungsbewegungen eher kennt. Aus deutscher Warte denkt man ja, Polen ist auf dem Weg in den autoritären Staat. Und aus Kaczynskis Warte ist Polen auf dem Weg in die Freiheit!
Kai-Olaf Lang: Ja, er würde wahrscheinlich sagen: Die innere Festigung und das Brechen, wie es einer seiner Berater mal nannte , externer Stabilisatoren, der Zusammenschluss unserer - da hat man den Begriff der nationalen Gemeinschaft verwendet, das hat in Deutschland eine andere Konnotation als in Polen. Aber diese Kohäsion ist die Voraussetzung dafür, dass wir – polnisch sagt wir podmiotowość haben – also Subjekt im Geschehen nach außen werden.
Deutschlandradio Kultur: Dann blicken wir jetzt mal auf diese beiden Staaten, Herr Lang, auf Ungarn und auf Polen, und die Rolle, die sie in der Europäischen Union spielen oder die auch die Europäische Union für Ungarn und Polen spielt. Sie haben das schon angedeutet. Rein ökonomisch betrachtet sind beide Staaten eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Beide bekommen sehr, sehr viel Geld von der EU. Polen ist der größte Empfänger in absoluten Zahlen, Ungarn bekommt am meisten Geld pro Kopf.
Ist denn Geld das Einzige, was diese beiden Staaten in der EU hält? Denn es wird ihnen ja immer vorgeworfen: Ihr könnt nicht nur die Kohle nehmen und unsere Werte verletzten, was die ja angeblich am laufenden Meter tun.
Kai-Olaf Lang: Das Leitmotiv der politischen Entwicklung nach 1989 in diesen Ländern war natürlich in der Tat die Rückkehr nach Europa. Man sagte, die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft, in der EU ist die Korrektur einer historischen Anomalie. Wir sind nämlich nicht Bestandteil des Ostens. Sie haben in Ihrer Anmoderation davon gesprochen, dass diese Länder in Osteuropa sind, was wahrscheinlich diese Länder sehr weit von sich weisen würden, weil sie sagen, wir sind in Mitteleuropa, dem östlichen Mitteleuropa.

"Flexible Solidarität"

Deutschlandradio Kultur: Das ist wie mit dem Balkan. Es sind immer die Anderen.
Kai-Olaf Lang: Das ist aber die zweite Komponente. Also, Europa ist sicherlich so ein Modernisierungsvehikel – finanziell, infrastrukturell usw. Aber es ist auch Bestandteil der Identität. Man versteht sich ja als Europäer. Und Viktor Orbán sagt ja auch nicht, er möchte die EU verlassen. Er sagt: Eine illiberale Demokratie muss in der EU möglich sein. Er möchte sozusagen die EU verändern. Die Frage, die sich stellt, ist: In welches Europa ist man zurückgekehrt.
Ich glaube, das dritte, was man will, ist Schutz und Solidarität und Sicherheit. Man versteht die EU natürlich auch als Solidargemeinschaft. Da sind wir natürlich auf dünnem Eis, weil wir ja nun im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise, aber nicht nur, eine Neuinterpretation dessen haben.
Die Visegrád-Länder - diese vier Länder Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn - haben den Begriff der "flexiblen Solidarität" in die Debatte gebracht, um ihre Position bei der Verteilung von Flüchtlingen zu rechtfertigen.
Also, ich würde sagen: Neben Finanzen ist es Identität, Schutz und Sicherheit, die man möchte.
Deutschlandradio Kultur: Aber keine Vorschriften, wie man seine Staaten im Inland zu gestalten hat. Und das ist ja so ein grundlegender Konflikt, dass eben die Länder, die sich zu Westeuropa zählen, den Ländern, die diese westeuropäischen Länder zu Osteuropa zählen, sagen: Ihr haltet euch nicht an den Geist und auch nicht mal an den Buchstaben der Verträge.
Orbán war ja in dieser Woche in Brüssel, hat vor dem Europäischen Parlament gesprochen, was ja durchaus auch nicht selbstverständlich ist für einen Regierungschef. Er ist sehr selbstbewusst aufgetreten und hat, weil Sie das gerade sagten, die illiberale Demokratie muss möglich sein, die Abgeordneten aufgefordert, sie sollten mal ihre ganzen Vorurteile ablegen und mal wirklich zuhören. Dann könnten sie frisches und innovatives politisches Denken finden – nämlich bei ihm oder in Ungarn.
So eine ähnliche Denkfigur kommt ja auch aus Polen, die sagt: Der Westen fordert Vielfalt? Könnt ihr haben! Dann müsst ihr aber bitte auch unser national-konservatives katholisches Modell akzeptieren. – Haben die da einen Punkt?
Kai-Olaf Lang: Natürlich geht der Konflikt auch darum, wie die Werte, auf denen die Europäische Union gebaut ist, im Einzelnen zu interpretieren sind. Sie hatten es ja gesagt. Freiheit, zentraler Wert in der EU, da würden die Polen und Ungarn sagen, jawohl, also, auch das Regierungslager, ganz wichtig, aber uns geht es weniger um die individuellen Freiheiten, sondern um die nationale, die kollektive Freiheit, sprich: Souveränität.
Es gibt einen Begriff im EU-Jargon, der heißt Verfassungsidentität. Die EU ist sozusagen zum einen eine Gemeinschaft und es gibt eine Pflicht zur Gemeinschaftstreue. Aber es gibt eben auch einen Bereich der Domäne des Nationalstaates , des Mitgliedstaates: Verfassungsidentität. Was gehört im Einzelnen da hinein?
Deswegen ist diese Frage Migration, Flüchtlinge so brisant und so sensitiv. Diese Länder, und nicht nur diese übrigens, argumentieren: Da hat uns Brüssel überhaupt nichts reinzureden. Das ist Kernbereich unserer nationalstaatlichen Hoheit. Das ist ein Prozess, wo wir ständig in einer Dauerdiskussion sind.
Noch komplizierter wird es eigentlich, wenn es um Demokratie geht. Wo hört der Spaß sozusagen auf?
Deutschlandradio Kultur: Ja. Nochmal zu dem ersten Punkt, den Sie gerade genannt haben. Wenn ich richtig informiert bin, dann hat ja Orbán - nicht Orbán alleine, aber mit seiner Partei - die Verfassung dahingehend ändern lassen, dass der Schutz der Nation vor den einzelnen Bürger- und Menschenrechten steht.
Kai-Olaf Lang: Was heißt das letzten Endes?
Deutschlandradio Kultur: Ich meine nur, in Deutschland beginnt das Grundgesetz mit dem Artikel "Die Würde des Menschen ist unantastbar" und nicht: D ie Würde der deutschen Nation ist unantastbar.
Kai-Olaf Lang: Das heißt, dass sozusagen durch de facto diejenigen, die die Regierungsgewalt innehaben, ein definiertes Gemeinwohl an erster Stelle steht. Das ist tatsächlich das Problem und die Herausforderung.
Aber im Grunde geht es doch darum: Wenn ein Land sich auf Abwege begibt in punkto Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das Teil dieser sogenannten Werte- und Rechtsgemeinschaft EU ist - was macht man damit? Wollen wir von außen intervenieren? Es gibt ja nun erste Schritte seit einiger Zeit. Bringt das was? Oder ist es kontraproduktiv? Oder sagen wir im Grunde, na ja, das ist nun deren Verfassungsidentität und wir sitzen es aus? Wir gehen sozusagen durch den ungarischen Winter hindurch. Es könnte aber sein, dass das relativ lange dauert, weil Viktor Orbán gute Chancen hat, im nächsten Jahr nochmal auf vier Jahre gewählt zu werden.

Der Wagenburg-Effekt

Deutschlandradio Kultur: Sie haben jetzt die ersten Schritte genannt. Es gibt zahllose Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen. Gegen Ungarn ist in der vergangenen Woche ein weiteres eingeleitet worden wegen des Hochschulgesetzes. Das ist aber alles nichts Besonderes. Es gibt gegen alle Staaten, auch gegen Deutschland, zahllose Vertragsverletzungsverfahren, die dann meistens irgendwie im Sande verlaufen.
Einzig gegen Polen läuft tatsächlich ein Rechtsstaatsverfahren. Und an dessen Ende könnte stehen der Entzug des Stimmrechtes. – Wird es aber nicht, weil sich ja eben Ungarn und Polen in diesem Punkt garantiert beistehen werden in der Europäischen Union.
Insofern ist die Frage, die Sie gerade gestellt haben, ja fast theoretischer Natur, weil es nie dazu kommen wird, dass Ungarn gegen Polen und Polen gegen Ungarn stimmen wird, in einer so entscheidenden Frage, bei der Wahl von Donald Tusk war es etwas anderes.
Kai-Olaf Lang: Meine These wäre: Es gibt sehr oft, wenn die EU aktiv wird, den Wagenburg-Effekt. Viktor Orbán ist von seinem Naturell her jemand, der sehr gerne nach Brüssel oder Straßburg geht in die Höhle des Löwen. Es war in der Vergangenheit oftmals so, dass dann der Schlagabtausch mit den Verhofstadts, mit den Liberalen, den Grünen und den Sozialdemokraten ihm innenpolitisch genutzt hat und seine Popularität hoch ging: Wir, das kleine Ungarn, bieten der großen EU die Stirn.
Insofern muss man da, glaube ich, vorsichtig sein. Die EU macht das, glaube ich, eher aus Gründen der politischen Hygiene für sich selbst. Man kann aber, glaube ich, auf anderem Wege ein bisschen was erreichen, indem wichtige Mitgliedsstaaten sich diese Leute mal zur Brust nehmen. Deutschland ist ein wichtiger Mitgliedsstaat. Ich glaube, das ist wesentlich, es geht hier nicht um ein öffentliches Abwatschen, sondern um ein…
Deutschlandradio Kultur: Deutschland soll sich Polen zur Brust nehmen? Und Sie meinen, das führt zu Erfolgen? Das würde mich aber jetzt doch wundern.
Kai-Olaf Lang: Es kommt drauf an, über wen wir sprechen. Viktor Orbán ist jemand, der sich meiner Auffassung nach sehr stark auf Deutschland bezieht. Ich glaube, Deutschland ist eigentlich sein Modell. Und er ist sehr gut vernetzt nach Deutschland. Seine Partei Fidesz gehört der Europäischen Volkspartei an. CDU und CSU sind Schwesterparteien.
Deutschlandradio Kultur: Das wurde in dieser Woche auch wieder sehr kritisch diskutiert.
Kai-Olaf Lang: Da haben wir eine ganze Reihe von Kanälen.
Mit Polen ist es schwieriger, weil wir halt diese ganze Frage der Geschichte haben. Es ist aus wohl verstandenem Grunde so, dass die Bundesregierung sich zurückhält. Sehr wohl gibt es natürlich auf dem weiten Spielfeld europäischer Politik viele sogenannte issues, Themen, Klimapolitik, Energiepolitik, wo Polen was möchte, wo Polen ein demandeur ist. Und da kann man denen sagen: Moment, vielleicht kriegt ihr hier und da ein bisschen weniger, wenn ihr sozusagen innenpolitisch über die Stränge schlagt.

"Polen möchte ein echter Player sein"

Deutschlandradio Kultur: Jarosław Kaczynski hat ja vor einigen Wochen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Interview gegeben. Da hat er den Vertrag von Lissabon als einen schweren Fehler bezeichnet und gesagt: Wenn er könnte wie er wollte, er würde die EU-Verträge ändern: "mehr Souveränität für die Nationalstaaten, weniger Kompetenzen für die Union".
Ich habe so den Eindruck, dadurch, dass das jetzt so festgefahren ist, also auch dieses Rechtsstaatsverfahren zu keinem Ergebnis führen wird, ziemlich sicher, er eigentlich seinem Ziel ziemlich nahe kommt. Man kann es ja auch so sehen: Polen und Ungarn machen im Grunde genommen, was sie wollen. Und die Europäische Union ist machtlos. Damit wird ja vielleicht auch langfristig die Autorität tatsächlich der Europäischen Union untergraben.
Kai-Olaf Lang: Orbán will relativ wenig von Brüssel. Das ist bei Polen anders. Polen möchte ein echter Player sein, möchte die EU mitgestalten, möchte eigentlich auf gleicher Augenhöhe wie Frankreich und Deutschland die EU mit formen. Polen braucht die EU in vielerlei Hinsicht. Wir denken an die Energiepolitik, denken an Russland, denken wir an die Ukraine. Es sind essenzielle Fragen. Insofern ist es für Polen ein viel größeres Problem, wenn man sozusagen marginalisiert wird.
Eines müssen wir uns vergegenwärtigen: Weder Orbán, noch Kaczynski sind Antieuropäer. Sie wollen, wie gesagt, nicht austreten, sondern sie wollen die EU in ihrem Sinne umbauen in ein Europa der Vaterländer.
Ich habe mal Kaczynski bezeichnet als einen "Polono-Gaullisten" . Das ist sozusagen das Europa der Vaterländer mit einer Rückführung von Kompetenzen, die alten europäischen Gemeinschaften sozusagen, aber nicht das, was die britischen Konservativen wollten, also die, die nicht für einen Brexit waren, die sagen: Wir bleiben drin, aber es muss verwässert werden. Das will Kaczynski auch nicht. Er will ja, dass in einigen Bereichen zumindest Europa funktioniert. Und das ist eine Gefahr für ihn und sein Land.
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht kann man sagen, wir leben in sehr normalen Zeiten, wenn wir nämlich der ungarischen Philosophin Agnes Heller folgen, die sagt, die Krise sei der Normalzustand. – Herr Lang, ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben.
Kai-Olaf Lang: Gerne.
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