Ungarn im Wandel
Zu Jahresbeginn übernimmt Ungarn EU-Ratspräsidentschaft. Zuletzt gab es viele beunruhigende Nachrichten über das neue Mediengesetz, viele sehen die ungarische Pressefreiheit in Gefahr. Vom Rechtsruck und steigender staatlicher Kontrolle war die Rede. Was ist der Hintergrund solcher Nachrichten?
Um die aktuelle Situation in Ungarn zu verstehen, muss man weit in die Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückgehen.
Peter Varga: "In Ungarn sind wir in einer Zeitverschiebung, was die Vergangenheitsarbeit betrifft, und das wirkt sich natürlich aus auf den Alltag und das Verhalten der einfachen Bürger auch"
Peter Varga ist Universitätsdozent für deutsche Literatur in Budapest. Die Frustration in Ungarn, die ab und zu wie eine Zeitbombe explodiert und die internationale Presselandschaft überflutet, speist sich aus alten Traumata.
Eine Wende ohne Vergangenheitsbewältigung, davor 40 Jahre Sozialismus und zwei verlorene Weltkriege. Das erzeugt Schutzmechanismen:
"Ungarn hat einen national geprägten Charakter, also, für einen Durchschnittsungarn ist seine Herkunft, seine Geschichte, seine nationalen Traditionen wichtig. Und das ist eine völlig andere Auffassung, was in Deutschland im Allgemeinen existiert."
Wenn die heutige Realität, aus dem historischen Kontext gelöst wird, entsteht ein verzerrtes Bild von Ungarn. Im April 2010 hat die rechtskonservative Fidesz-Partei die Parlamentswahlen mit Zweidrittelmehrheit gewonnen. Dadurch können deren Abgeordnete jetzt sogar die Verfassung ändern. Aber wie kamen sie zu dieser Mehrheit?
Der Direktor des Radnóti Theaters in Budapest, András Bálint, blickt auf die Zeit der sozialdemokratischen Regierung zwischen 2002 und 2010 zurück:
"Die letzte Regierung hat acht Jahre lang sehr viele Fehler gemacht. Nun ist die Korruption sichtbar geworden, und das hat die Leute wahnsinnig aufgeregt - zu Recht. Also, das jetzt ist eine Reaktion."
Außer der Entwicklung in den letzten acht Jahren und der historisch bedingten Traumata ist noch eine weitere Tatsache entscheidend für den derzeitigen Zustand: Die Wende, die in Ungarn ziemlich schmerzlos abgelaufen ist. Sie wird auch "Gangsterwechsel" genannt, sagt András Bálint vom Budapester Radnóti Theater:
"Wir spielen gerade ein Isaak Babel Stück, Sonnenuntergang, da gibt es einen Gangsterwechsel: Ein junger Gangster löst den alten ab. Zur Zeit der Wende mag in Ungarn viel Unrecht geschehen sein – beim Eigentum und bei der Privatisierung. Die Stasiagenten sind auch nicht enttarnt worden. Vielleicht, wenn diejenigen, die in den vergangenen Jahrzehnten schuldig waren, bestraft worden wären – das sage ich jetzt sehr vorsichtig –, vielleicht hätte jener Schmerz beim Übergang helfen können."
Ein Neuanfang fand nicht statt, viele ehemaligen Parteifunktionäre sind weiterhin politisch tätig, die ehemaligen Untersuchungsbeamte und ihre Kommandanten wurden nicht bestraft und das sorgt immer wieder für Empörung.
András Bálint: "Also, die Katharsis ist nicht geschehen. Ich bin ein Theatermensch und sehe es als ein Drama. Der Held muss seine Tragödie durchleiden, seine Schuld bekennen. Die Konfrontation ist nicht geschehen, die Dinge sind nur zugekleistert worden."
Auch deshalb konnte die jetzige ungarische Regierung die Zweidrittelmehrheit erringen und will ein verschärftes Mediengesetz einführen, wodurch Rundfunk, Presse und sogar Webseiten kontrolliert werden. Die Journalistin Emilia Krugh macht sich Sorgen:
"Wegen des Mangels an Frequenzen gelten strengere Gesetze für Radio und Fernsehen, aber dass das jetzt die gedruckte Presse und das Internet genauso betrifft, geht überhaupt nicht. Und schon gar nicht im 21. Jahrhundert, wenn alle Blogs schreiben können."
Es ist unklar, was als strafbar gilt. Das erzeugt Unruhe und führt zu Protesten im Land; viele fürchten eine Selbstzensur. Auch das linksliberale Magazin, für das Emilia Krugh schreibt, würde eine Strafe finanziell nicht überleben:
"Meiner Meinung nach wollen die meisten Journalisten, dass die Gesetzeslücken gefüllt werden, und nicht, dass die Aufgaben des Gerichts von einer Medienbehörde übernommen werden, die aus Fidesz-Parteileuten besteht."
Katalin Kondor war vier Jahre lang Hörfunkintendantin und berichtet über Missstände im derzeitigen Hörfunkkuratorium. Sie findet es richtig, dass es ein neues Mediengesetz geben wird:
"Wir Journalisten sind auch gespannt, wie das neue Gesetz funktionieren wird. In den Vereinigten Staaten ist nicht einmal ein Zehntel dessen erlaubt, was in Ungarn in den kommerziellen Sendern an Schmutz gesendet werden darf. Ich sage allen, sie sollen abwarten, was mit dem Mediengesetz passiert, denn eigentlich ist es keine Tragödie."
Dem Theaterdirektor András Bálint gefällt es nicht, er ist trotzdem hoffnungsvoll:
"Ich denke, das ungarische Volk ist sehr talentiert. Vor 20 Jahren waren wir das progressivste osteuropäische Land. Ein solches Volk wird sich, wie Baron Münchhausen, an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Wenn wir den erwünschten mittleren Weg, die bürgerliche Mitte finden."
Ob Ungarn den goldenen Mittelweg findet, ist eine Frage der Zukunft. Es bleibt zu hoffen, dass dieses vielseitige Land Europa demnächst tatsächlich positiv überrascht.
Mehr zum Thema auf dradio.de:
Modernisierung oder Sündenfall? - Die Debatte um mögliche Medienzensur sorgt für einen schlechten Start von Ungarns EU-Ratspräsidentschaft, Aktuell (Deutschlandradio)
Peter Varga: "In Ungarn sind wir in einer Zeitverschiebung, was die Vergangenheitsarbeit betrifft, und das wirkt sich natürlich aus auf den Alltag und das Verhalten der einfachen Bürger auch"
Peter Varga ist Universitätsdozent für deutsche Literatur in Budapest. Die Frustration in Ungarn, die ab und zu wie eine Zeitbombe explodiert und die internationale Presselandschaft überflutet, speist sich aus alten Traumata.
Eine Wende ohne Vergangenheitsbewältigung, davor 40 Jahre Sozialismus und zwei verlorene Weltkriege. Das erzeugt Schutzmechanismen:
"Ungarn hat einen national geprägten Charakter, also, für einen Durchschnittsungarn ist seine Herkunft, seine Geschichte, seine nationalen Traditionen wichtig. Und das ist eine völlig andere Auffassung, was in Deutschland im Allgemeinen existiert."
Wenn die heutige Realität, aus dem historischen Kontext gelöst wird, entsteht ein verzerrtes Bild von Ungarn. Im April 2010 hat die rechtskonservative Fidesz-Partei die Parlamentswahlen mit Zweidrittelmehrheit gewonnen. Dadurch können deren Abgeordnete jetzt sogar die Verfassung ändern. Aber wie kamen sie zu dieser Mehrheit?
Der Direktor des Radnóti Theaters in Budapest, András Bálint, blickt auf die Zeit der sozialdemokratischen Regierung zwischen 2002 und 2010 zurück:
"Die letzte Regierung hat acht Jahre lang sehr viele Fehler gemacht. Nun ist die Korruption sichtbar geworden, und das hat die Leute wahnsinnig aufgeregt - zu Recht. Also, das jetzt ist eine Reaktion."
Außer der Entwicklung in den letzten acht Jahren und der historisch bedingten Traumata ist noch eine weitere Tatsache entscheidend für den derzeitigen Zustand: Die Wende, die in Ungarn ziemlich schmerzlos abgelaufen ist. Sie wird auch "Gangsterwechsel" genannt, sagt András Bálint vom Budapester Radnóti Theater:
"Wir spielen gerade ein Isaak Babel Stück, Sonnenuntergang, da gibt es einen Gangsterwechsel: Ein junger Gangster löst den alten ab. Zur Zeit der Wende mag in Ungarn viel Unrecht geschehen sein – beim Eigentum und bei der Privatisierung. Die Stasiagenten sind auch nicht enttarnt worden. Vielleicht, wenn diejenigen, die in den vergangenen Jahrzehnten schuldig waren, bestraft worden wären – das sage ich jetzt sehr vorsichtig –, vielleicht hätte jener Schmerz beim Übergang helfen können."
Ein Neuanfang fand nicht statt, viele ehemaligen Parteifunktionäre sind weiterhin politisch tätig, die ehemaligen Untersuchungsbeamte und ihre Kommandanten wurden nicht bestraft und das sorgt immer wieder für Empörung.
András Bálint: "Also, die Katharsis ist nicht geschehen. Ich bin ein Theatermensch und sehe es als ein Drama. Der Held muss seine Tragödie durchleiden, seine Schuld bekennen. Die Konfrontation ist nicht geschehen, die Dinge sind nur zugekleistert worden."
Auch deshalb konnte die jetzige ungarische Regierung die Zweidrittelmehrheit erringen und will ein verschärftes Mediengesetz einführen, wodurch Rundfunk, Presse und sogar Webseiten kontrolliert werden. Die Journalistin Emilia Krugh macht sich Sorgen:
"Wegen des Mangels an Frequenzen gelten strengere Gesetze für Radio und Fernsehen, aber dass das jetzt die gedruckte Presse und das Internet genauso betrifft, geht überhaupt nicht. Und schon gar nicht im 21. Jahrhundert, wenn alle Blogs schreiben können."
Es ist unklar, was als strafbar gilt. Das erzeugt Unruhe und führt zu Protesten im Land; viele fürchten eine Selbstzensur. Auch das linksliberale Magazin, für das Emilia Krugh schreibt, würde eine Strafe finanziell nicht überleben:
"Meiner Meinung nach wollen die meisten Journalisten, dass die Gesetzeslücken gefüllt werden, und nicht, dass die Aufgaben des Gerichts von einer Medienbehörde übernommen werden, die aus Fidesz-Parteileuten besteht."
Katalin Kondor war vier Jahre lang Hörfunkintendantin und berichtet über Missstände im derzeitigen Hörfunkkuratorium. Sie findet es richtig, dass es ein neues Mediengesetz geben wird:
"Wir Journalisten sind auch gespannt, wie das neue Gesetz funktionieren wird. In den Vereinigten Staaten ist nicht einmal ein Zehntel dessen erlaubt, was in Ungarn in den kommerziellen Sendern an Schmutz gesendet werden darf. Ich sage allen, sie sollen abwarten, was mit dem Mediengesetz passiert, denn eigentlich ist es keine Tragödie."
Dem Theaterdirektor András Bálint gefällt es nicht, er ist trotzdem hoffnungsvoll:
"Ich denke, das ungarische Volk ist sehr talentiert. Vor 20 Jahren waren wir das progressivste osteuropäische Land. Ein solches Volk wird sich, wie Baron Münchhausen, an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Wenn wir den erwünschten mittleren Weg, die bürgerliche Mitte finden."
Ob Ungarn den goldenen Mittelweg findet, ist eine Frage der Zukunft. Es bleibt zu hoffen, dass dieses vielseitige Land Europa demnächst tatsächlich positiv überrascht.
Mehr zum Thema auf dradio.de:
Modernisierung oder Sündenfall? - Die Debatte um mögliche Medienzensur sorgt für einen schlechten Start von Ungarns EU-Ratspräsidentschaft, Aktuell (Deutschlandradio)