Ungarn

Hier rockt der Mainstream rechts

Der ungarische Ministerpräsident Orban steht auf einem Podium vor dem Parlament in Budapest und hält eine Rede anlässlich des Volksaufstandes von 1956.
Ansprache des ungarischen Regierungschefs Orban zum Gedenken an den Volksaufstand von 1956. © dpa / picture alliance / Szilard Koszticsak
András Nun im Gespräch mit Timo Grampes · 06.02.2017
Die nationale Rockmusik sei von rechten Parteien in Ungarn entdeckt und für ihre eigenen Ziele missbraucht worden, sagt András Nun, Chef der Stiftung Autonomia Foundation. Während der Konzerte mancher nationalistischer Bands herrsche "eine Art Kriegszustand".
Timo Grampes: In Ungarn rockt der Mainstream rechts. Nationalistische Rockbands sind gerade in den Provinzen sehr präsent, dabei wird es bleiben und die Subkultur hat da vergleichsweise schlechte Karten. Das alles hat András Nun beschrieben, mit ihm haben wir vor dieser Sendung gesprochen. András Nun organisiert in Ungarn ein alternatives Musikfestival und er ist Chef der seit 27 Jahren bestehenden Autonomia Foundation. Tag, Herr Nun!
András Nun: Hallo!
Grampes: Kurz zur Einordnung: Was tut die Autonomia Foundation und was tun Sie dort?
Nun: Also, die Autonomia-Stiftung gibt es seit 27 Jahren in Ungarn und ist die größte Stiftung, die sich mit der Integration der Roma in Ungarn befasst. Und dann haben wir auch noch eine zweite Funktion, dass wir in der Zivilgesellschaft gewisse Funktionen ausfüllen und da auch gewisse Gruppen unterstützen. Und ich bin dort seit vier Jahren sozusagen der Leiter dieser Stiftung, der Chef.
Grampes: Und was tut der Chef?
Nun: Als Leiter dieser Stiftung koordiniere ich natürlich unsere verschiedensten Programme, bin unter anderem dafür zuständig, was außerhalb Budapests, also was auf dem Land geschieht mit der Integration der Roma, aber natürlich all unsere Programme, die was mit der Zivilgesellschaft zu tun haben, die koordiniere ich auch. Also, ich bin ein Koordinator auch in erster Linie.
Grampes: Wie verlaufen denn die Konfliktlinien mit dem Ministerpräsidenten und seiner Regierung in Ihrer Arbeit?
Nun: Nun ja, Sie müssen verstehen, die Situation in Ungarn ist die, dass es keine wirkliche politische Opposition gibt, jedenfalls keine nennenswerte, die der Regierung irgendwas entgegensetzen kann. Und es ist die Rolle der Stiftungen, der NGOs in Ungarn, Kritik auszuüben und all das Dysfunktionale in Ungarn anzusprechen, was dort geschieht. Und das führt natürlich dazu, dass uns die Regierung dann wie eine politische Partei betrachtet, wie eine ihr oppositionell eingestellte politische Partei. Und wenn es zum Beispiel um Fragen der Integration der Roma geht, wo wir eine andere Einstellung haben, aber auch wenn es darum geht, überhaupt andere Meinungen zu artikulieren für die Zivilgesellschaft, die Programme, die von der Regierung kommen, dann drängt man uns eben in diese Oppositionsrolle. Und alles, was wir tun, ist natürlich politisch. Also, so sehen sie das zumindest und sie sehen eben unsere Arbeit sehr kritisch, weil wir für sie die pure Opposition darstellen.
Grampes: Man könnte also sagen: Ihr Schaffen beißt sich deutlich mit dem des Ministerpräsidenten und seiner Regierung. Über Orbáns Kulturpolitik ist ja schon viel gesprochen worden, lassen Sie uns über Ihre Diagnose sprechen, dass der musikalische Mainstream in Ungarn rechts rockt! Woran machen Sie das fest?
Nun: Vielleicht sollte man vorausschicken, dass diese Entwicklung – und das halte ich für wichtig, das zu erwähnen – nicht etwas ist, was von der Regierung sozusagen propagiert wird, sondern da handelt es sich um eine gewisse ungarische Tradition. Also, vor 1989, als Ungarn offiziell sozialistisch oder kommunistisch war, haben Fragen wie "Was ist das ungarische Volk" oder "Was ist ungarische Geschichte" und alle Probleme, die damit verbunden waren, offiziell keine Rolle gespielt, weil der Begriff des Volkes eigentlich in der kommunistischen Ideologie keine Rolle spielte. Und als dann der Kommunismus sozusagen untergegangen ist, dann fiel Ungarn erst mal in so ein Vakuum. Die Leute waren auf der Suche nach einer Identität und da bot sich natürlich die Rückbesinnung auf das Ungarische, auf ungarische Wurzeln an.
Und Rockmusik ist noch mal ein sehr populäres Medium. Und wenn man sich anschaut, welche Musikstile dann nach dem Systemwechsel aufgetaucht sind, natürlich, wie überall auch, es gab Techno, es gab andere Musikstile, die aber in einem urbanen Umfeld auch was Kosmopolitisches hatten. Damit konnte sich aber der Rest des Landes, also die ungarische Provinz überhaupt nicht identifizieren und so kam es zu diesen Gedankengängen, die einzig wahre ungarische Musik, das ist ungarische Rockmusik. Und als dann in den 90er-Jahren erste gesellschaftliche Probleme in Ungarn auftraten, als der EU-Beitritt im Raum stand und auch eine gewisse Enttäuschung in gewissen sozialen Schichten ausbrach, dass man eben doch noch nicht da war, wo zum Beispiel das Nachbarland Österreich war, dass man doch noch nicht so reich war, da kamen dann so diese Gedanken auf: Aber immerhin sind wir Ungarn und wir sind stolz darauf, Ungarn zu sein. Und in dieser nationalen Rockmusik hat sich das eben auch ganz stark ausgedrückt, und diese nationale Rockmusik ist dann von rechten Parteien missbraucht worden und auch für ihre eigenen Ziele entdeckt worden. Und gerade die Jobbiks haben das ganz stark gemacht, diese rechte Partei in Ungarn, die sehr populär geworden ist. Weil, Sie müssen sich das so vorstellen: Niemand hat sich um die Leute auf dem Land gekümmert. Da herrschte eine Art Vakuum und da kann man mit sehr einfachen Parolen in der Provinz punkten, indem man nur einfach sagt: Du liebst dein Zuhause, du bist ein guter Ungar, sei stolz, Ungar zu sein. Und das hat man dann auch musikalisch sozusagen für sich vereinnahmt, diese einfachen Slogans.
Grampes: Also, das politische Klima und die politische Entwicklung hat es befördert, dass eine nationale Musik, ein nationaler Rock zunehmend präsent ist. Wie sieht denn jetzt im heutigen Ungarn diese Präsenz genau aus, was sind da Beispiele? Welche Bands finden wir und was steckt ideologisch darin und dahinter?
Nun: Also, ich komme ja aus einer Großstadt mit einer urbanen Stadtkultur. Aber da, wo ich hauptsächlich tätig bin, da bin ich auf dem Land tätig. Und es gibt noch sehr, sehr viele Ungarn, die auf dem Land leben, und das hat streckenweise fast noch feudalistische Strukturen. Da ist noch nicht viel angekommen von der urbanen Stadtkultur. Und Sie müssen sich das einfach so vorstellen, dass da, wo auch beispielsweise die Roma leben, das sind streckenweise ziemlich arme Gegenden und auch diese Dörfer sind relativ verarmt. Und die einzige Kultur, die es dort gibt, die wird von solchen nationalistischen Rockbands ausgeübt. Die füllen dort ein Vakuum. Und die sind dort zuständig für Kultur. Das ist ein Phänomen, was ich nicht exportieren kann, weil, die singen nur auf Ungarisch, das versteht keiner, und von künstlerischer Seite ist es auch nicht sonderlich interessant, weil, die Musik, die sie machen, ist jetzt nicht besonders innovativ. Aber es ist ein nationales Phänomen.
Grampes: Greifen wir mal eine Band raus! Wen hören wir denn hier und was wird besungen?
Nun: Also, ein Text wird praktisch davon gesungen: Egal, was man uns angetan hat, wir werden niemals vergessen, wir werden uns auch rächen für das, was man uns angetan hat, und wir werden immer stolz darauf sein, dass wir Ungarn sind. Das ist so im Großen und Ganzen der Text hier.
Grampes: Kárpátia ist das?
Nun: Natürlich muss man ganz klar sagen, wo kommt denn der Name her? Kárpátia heißt ja nichts anderes als … Es wird auf die Karpaten angespielt und große Teile der Karpaten, die heute in der Ukraine liegen oder in Rumänien liegen, haben einmal zu Ungarn gehört und dort leben auch heute noch große ungarische Minderheiten. Das spielt natürlich eine ganz große Rolle.
Grampes: Im Spektrum des nationalistischen Rocks in Ungarn, wie ist diese Band da einzuordnen? Und gibt es auch noch viel radikalere Beispiele?
Nun: Also, Kárpátia ist da eher noch eine romantische Band, die einfach so ein gutes Gefühl vermitteln möchte, wo es sehr selten zu Gewalt kommt und die mit dieser Art von Musik versuchen, ihr Publikum zu erobern. Und da ist eher so die Message: Wir lieben uns alle, wir sind Ungarn, wir sind vielleicht das beste Volk der Welt, und wenn nicht, sind wir immer noch ein ganz großartiges Volk. Aber es gibt sehr viel radikalere und sehr viel militantere Gruppen, die auch in ihrem Auftreten und auch in ihrer Ästhetik ganz anders funktionieren, die auf Konflikt wirklich aus sind und wo auch praktisch eine Art Kriegszustand während der Konzerte herrscht und wo natürlich auch ihr Publikum sehr viel militanter und sehr viel gewaltbereiter ist. Aber nur um einem gewissen Missverständnis vorzubeugen: Die seit 2010 in Ungarn an der Regierung sich befindende Orbán-Regierung hat jetzt nicht direkt etwas mit diesen doch sehr, sehr rechten Gruppen zu tun, die eindeutig am rechten Rand stehen und eher die Jobbik als politische Partei vertreten.
Und es gibt eben auch richtige Aktivisten unter den Leuten, die Musik machen, und auch denen, die in diese Konzerte gehen, die dann auch paramilitärischen, rechtsradikalen Organisationen angehören, aber jetzt nicht unbedingt das Programm der Regierungspartei vertreten, die natürlich nicht so weit rechts ist. Wenn man sich zum Beispiel Jugendliche anschaut oder Leute, die mit T-Shirts rumlaufen, die Musikbands zum Beispiel drauf haben: In diesen Kleinstädten – und ich bin da relativ oft wegen meiner Arbeit –, dann tragen die Leute jetzt nicht T-Shirts mit Nirvana oder so, sondern die tragen eben die T-Shirts mit diesen Bands.
Grampes: Also, ich habe jetzt bisher mitgenommen aus diesem Gespräch: Es gibt einen nationalistisch gefärbten Rock in Ungarn aus Tradition heraus, es gibt einen Zusammenhang zur politischen Entwicklung, man kann aber nicht sagen, die Regierung steckt dahinter oder die Regierung fördert das jetzt direkt. Was ist denn mit der anderen Seite? Schauen wir doch mal in die entgegengesetzte Richtung, was tut sich denn in der musikalischen Subkultur, die sich politisch anders verortet?
Nun: Vielleicht ist es ganz wichtig, dass ich einfach noch mal vorausschicke für all die, die vielleicht noch nie in Ungarn waren oder sich mit Ungarn nicht so auskennen: Ungarn ist ein zweigeteiltes Land. Auf der einen Seite haben wir die große Metropole Budapest und dann haben wir eigentlich nur noch Provinz im Großen und Ganzen. Mit Ausnahme vielleicht von einigen Universitätsstädten, wo natürlich auch Studenten sind, die sich eine andere Musik anhören, die jetzt nicht so auf diese ultranationale Musik abfahren, sondern durchaus auch in einer anderen, subkulturellen Musik verhaftet sind. Und außerhalb Budapests gibt es vielleicht noch drei, vier Städte in Ungarn mit etwa 200.000 Einwohnern, wo es eine Art Clubkultur gibt, wo es auch eine Art Gegenkultur gibt, so schon die Leute, die auch gerade sehr jung sind, streckenweise eben Studenten, nichts mit denen anfangen können, die in eher ländlichen Gebieten wohnen, die für sie auch irgendwelche Ufos sind.
Also, das sind wirklich zwei ganz unterschiedliche Welten. Nun muss man wissen, dass in Ungarn doch eine große Armut herrscht, gerade in den ländlichen Gebieten, und dass dort etwa nur fünf Prozent wirklich über ein Bankkonto verfügen, wo auch wirklich was drauf ist. Und deswegen braucht man eine gewisse stabile Grundexistenz, um sich überhaupt für Kultur zu interessieren und auch für eine Art Gegenkultur zu interessieren, und das ist dann natürlich eine sehr kleine Gruppe, die sich überhaupt für solche alternativen Musikformen und Kulturformen interessiert. Und alle, die jetzt nicht dieses nationalistische Gedankengut haben, die jetzt nicht an die Größe Ungarns glauben und an diese Rockmusik, die ich bereits beschrieben habe, die dann auf elektronische Musik stehen oder die im Off-Theater-Bereich oder im künstlerischen Tanzbereich tätig sind, all die bleiben schon sozusagen ein bisschen außen vor. Die sind nicht Teil des Systems. Weil, es geht der Regierung immer um die Größe Ungarns. Und jeder, der irgendetwas in Ungarn kritisiert, wird dann auch, auch wenn er Künstler ist, sofort der Subkultur zugerechnet und auch sofort der Opposition. Der größte Slogan, die die Regierungspartei zurzeit überall immer propagiert, ist: Ungarn macht es besser! Und wer diesem Slogan sozusagen sich nicht total verschreibt, der ist schon Oppositioneller.
Grampes: Wie verhält sich denn die überschaubare ungarische Subkultur, auch die musikalische Subkultur zur Regierung? Welche Form des Protestes gibt es, und ist da auch so was wie Humor vorgesehen?
Nun: Natürlich gibt es Theateraufführungen, wo das mal ein bisschen subtiler, auch mal ein bisschen direkter gemacht wird, wo man natürlich auch mit humorvollen Mitteln arbeitet. Aber man muss einfach die staatliche Kulturpolitik verstehen. Es gibt schon Gelder in Ungarn für Kultur, aber die haben sich auf die Fahne geschrieben: Es kriegen diejenigen Geld, die die Größe Ungarns ins rechte Licht rücken und die sich eben für die schönen Künste interessieren. Und alle, die irgendwas zeigen, was nicht schön ist, okay, die können noch Kultur machen, die lassen wir machen, aber die kriegen kein Geld. Also, zum Beispiel mal ein paar Beispiele: Es gibt zum Beispiel Theatergruppen, die sich darüber lustig machen, was dann in solchen Gremien ihnen gesagt wird, wenn sie sich um Gelder beispielsweise bewerben. Also, um mal zu sagen, was mit Humor auch gemacht wird. Dann gibt es eine Bewegung, die nennt sich "Mehr Techno im Parlament". Und das ist eine Bewegung, die von der Straßenmusik herkommt, da kommen dann auch mal auf ihre Konzerte so 1.000 bis 2.000 Leute und die haben so ein Zehn-Punkte-Programm: Wie man mehr Techno ins Parlament bringen kann!
Grampes: Also, das heißt, es ist durchaus Raum für Humor und auch für Meinungsäußerung. Allerdings, Sie waren ja so bemüht, das auch differenziert wiederzugeben, es gibt keinen direkten Bezug jetzt zwischen diesem Rechtsrock und dass der durch die Regierung befördert wird. Aber es wird ja anscheinend doch entschieden hier ganz klar, wer kriegt die Gelder und wer kriegt sie nicht. Also, da gibt es dann doch einen direkten Zusammenhang. Kurz zum Schluss noch: Es gibt ja das Sziget, das größte ungarische Musikfestival, und da sind die Musiker nun eher auch nicht im nationalistischen Sektor zu verordnen. Und Sie organisieren ein alternatives Musikfestival, das Ultrahang-Festival. Wie funktioniert dieses Festival und vor allem wie funktioniert es in diesem politischen Kontext?
Nun: Also, wir sind wirklich ein kleines Festival. Wir versuchen, Musiker auf die Bühne zu holen, die man sonst nie in Ungarn sieht, die man bestenfalls mal im Internet gesehen hat. Und unser Publikum bewegt sich, ja, das sind … Wir haben Hunderte von Leuten, die sich für uns interessieren, das kann man mit Sziget nicht vergleichen, wo ja mehrere Zehntausend pro Tag kommen. Und man darf nicht vergessen, Sziget ist mittlerweile ein Imperium geworden, die ja auch andere große Sommerfestivals starten, und die spielen eine ganz andere Rolle als wir. Also, wir sind ein kleines Festival, was an sieben, acht Orten in Budapest stattfindet, wo die Orte, die uns beherbergen, uns unterstützen, aber wir leben auch von EU-Geldern. Und wir sind wirklich ein vollkommen unabhängiges Festival, weil wir auch nicht mit Sponsoren arbeiten beispielsweise.
Und wir wollen uns ganz bewusst nicht offen politisch äußern, aber mit all dem, was wir tun, die Rolle, die wir der Solidarität oder der Meinungsfreiheit geben, das spricht natürlich für sich. Wir sind keine Marke, wir sind keine kommerzielle Marke und unser Plakat ist auch visuell ganz anders als beispielsweise die großen Plakate für die großen Sommerfestivals. Bei uns ist es eine Fotomontage, die das Budapester Stadtwäldchen zeigt, eine Demonstration für die Erhaltung der Bäume dort und wie die Polizei das niedergeknüppelt hat und wie die Polizei dagegen vorgegangen ist. Und das war sozusagen unser Slogan. Also, wir sprechen einfach auch Konflikte an. Wir sind nicht Leute, die sozusagen auf die Bühne gehen und dort versuchen zu predigen, aber wir zeigen eben alleine mit unserem Motiv für unser Festival, was uns wichtig ist und dass wir nicht in so einer heilen Welt leben.
Grampes: Also, ein bisschen subversiv geht doch noch! András Nun, Organisator des alternativen Ultrahang-Festivals in Ungarn war das über Subkultur und rechts rockenden Mainstream dort. Besten Dank fürs Gespräch, auch an Übersetzer Jörg Taszman!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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