Unfreiwillige Nichtwähler im Bundesdance

Von Carmen-Francesca Banciu |
Soviel Spott und soviel Lust am Wahlkampf hatte es schon lange nicht gegeben. Und um mich kocht und brodelt es. Ich schaue dem Ganzen gelassen zu. Ich muss mich nicht entscheiden. Ich darf nicht wählen. Ich lebe seit 15 Jahren in Deutschland und warte auf die Zustimmung zu meiner Einbürgerung.
Es kocht und brodelt um mich herum, und alle Welt ist in Bewegung. Nur ich lehne mich zurück und schaue diesem Wirrwarr machtlos zu.

Der Geschlechterwahlkampf tobt in Deutschland. Mit unfeinen Mitteln. Wer hätte das gedacht in einem Land, das sich militärisch eingesetzt hat für die Gleichberechtigung der Frauen in Afghanistan. Was in vielen Ländern selbstverständlich ist, wurde hier - im Land der Aufklärer und Achtundsechziger - zum großen Ereignis.

Deutschland ist gespalten. Die politische Bühne in Aufruhr geraten wegen der Kandidatur einer Frau. Einer Frau aus dem Osten. In Wirklichkeit wollen sie viele nicht. Wohl nicht einmal die CDU würde sie wollen, wenn sie auch anders an die Macht kommen könnte. Merkel verkörpert für sie das notwendige Übel. Wie anders kann man sich schlechte Beratung, und andere sabotageähnliche Haltungen und Ausrutscher von Berufspolitikern aus den eigenen Reihen erklären. Herrn Stoiber kann man Mangel an Professionalität kaum unterstellen. Wohl aber, was die Franzosen als acte manque bezeichnen. In seinen Alpträumen wird Angela Merkel Kanzlerin.

Viele Männer in Deutschland haben heute Alpträume. Viele Frauen aber auch. Denn obwohl sie gerne am Blut der Macht mitlecken möchten, fürchten sie doch, bei einem Machtwechsel nicht zum Hofe der schwarzen Parteilöwin zugelassen zu werden. Manche jedoch wollen Angie ungeachtet ihres Wahlprogramms aus Weibersolidarität.

Viele Menschen in Deutschland blicken düster in die Zukunft. Sie fürchten um ihre Rente, haben Angst vor einer Katastrophe, einer Verwicklung in unnötige Kriege, vor verheerenden Folgen der Steuergesetze. Oder sie fürchten einen EU-Beitritt der Türkei, sind skeptisch gegenüber zu vielen Migranten.

Ich darf mich nicht einmischen. Dafür darf ich zusehen. Keiner kann es mir nehmen, mir die politische Bühne anzuschauen. Ihr Anblick erinnert mich an Quecksilberteilchen. An die Bilder eines Kaleidoskops, dessen Teile sich willkürlich trennen oder zusammenfügen, sobald man es dreht. Ah, vielleicht ist es gar nicht so. Und die Teilchen werden gesteuert. Manipuliert. Nach dem Prinzip: Divide et impera. Aber wer ist der Dirigent dieser Partitur?

Und wer soll demnächst regieren? Denn alle Fronten und alle Interessengemeinschaften sind durcheinander geraten. Die Grünen streiten unter sich. Nichts Neues übrigens. Die SPD klafft auseinander. Der DGB rügt die SPD. Liebäugelt mit Links von Links und mit Rechts. Die CSU sabotiert die CDU. Und die CDU verspricht, nicht mit den Grünen zu koalieren. Oder vielleicht doch? Denn eigentlich weiß man nicht mehr, wer wessen Gegner oder Freund ist. Man kann aber Gift darauf nehmen, dass man sich noch auf den Hass seiner Feinde verlassen kann.
Es ist Zeit für einen Wechsel, sagen viele Stimmen im Lande. Und angesichts der Lust der Deutschen am Machtwechsel ging der Dax nach oben.

Aber nicht nur der Dax stieg, sondern auch die Zahl der neu gegründeten Parteien, der Humor und die Spottlust. Einladung zum Bundesdance bei der "Süddeutschen Zeitung". Belustigung über die Politiker bei den Schandmännchen (die Satireseite im Internet). Provokation bei "Die Partei".
Soviel Spott und soviel Lust am Wahlkampf hatte es schon lange nicht gegeben. Darf das Kanzler werden? Fragt sich missachtend eine "Spottpartei". Und die SPD in ihrem Wahlkampfspot stellt die Kompetenz der Kandidatin in Frage. Kan- di- dat? Die Kompetenz des Kanzlers ist selbstverständlich. Der Kanz. Oder auch nicht.

Sind Frauen die Musen für solch lustvolles Verhalten? Und wer lacht wen da aus? Vielleicht die Politik sich selbst.

Vermutlich zeugt der Ausbruch von Humor und Provokation nicht nur von wachsender Ohnmacht und von einer allgemeinen Desorientierung der Politik. Sondern auch vom gesunden Überlebenswillen des Volkes, von der Mobilisierung seiner Energien. Von der Anregung seiner Kreativität. Kreativität könnte Deutschland retten. So kann man Regierungskrisen etwas Gutes abgewinnen.

Um mich kocht und brodelt es. Ich schaue dem Ganzen gelassen zu. Ich muss mich nicht entscheiden. Ich darf nicht wählen. Ich lebe seit 15 Jahren in Deutschland und warte auf die Zustimmung zu meiner Einbürgerung. Seit vier Jahren. Ich habe keine Stimme. Im Bundestagswahlratgeber (der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung) finde ich den Begriff des "Unfreiwilligen Nichtwählers". Leider trifft er auf mich nicht zu. Meine Kategorie wird dort nicht erwähnt. Schade. Braucht denn keiner meine Stimme?


Carmen-Francesca Banciu, 1955 im rumänischen Lipova geboren, studierte Kirchenmalerei und Außenhandel in Bukarest. Die Verleihung des Internationalen Kurzgeschichtenpreises der Stadt Arnsberg hatte für sie 1985 ein Publikationsverbot in Rumänien zur Folge. Seit November 1990 lebt sie als freie Autorin in Berlin, schreibt Beiträge für Rundfunkanstalten und leitet Seminare für Kreatives Schreiben. Bisher erschienen u. a. die Prosabände "Fenster in Flammen" ( 1992 ), "Filuteks Handbuch" ( 1995 ), "Vaterflucht" ( 1998 ) und "Ein Land voller Helden" ( 2000 ). Gerade bei Ullstein herausgekommen ist "Berlin ist mein Paris. Geschichten aus der Hauptstadt".