Unfallforschung

Risiko im Straßenverkehr

Von Michael Engel  · 30.11.2013
Wenn in der Region Hannover ein Unfall mit Verletzten passiert, dann sind häufig auch die Unfallforscher der Medizinischen Hochschule Hannover mit dabei. Seit 1973 gibt es diese Einrichtung, die in den vergangenen 40 Jahren maßgeblich zur Sicherheit der Automobiltechnik beigetragen hat.
"Einen wunderschönen guten Morgen. Verkehrsunfallforschung. Wir fahren bis 12.00 Uhr wieder mit. Dankeschön."
Domenika Cholewinski ist heute für den Funkdienst zuständig. Sie hört den Funkverkehr verschiedener Rettungsdienste - darunter die Feuerwehr und natürlich auch Polizeifunk:
"Sobald dann ein Einsatz kommt, rufe ich bei der Polizei in Hannover an und melde uns an, dass wir da mit rausfahren zu dem Unfall. Das ist ganz wichtig, dass die das auch wissen, damit die mit uns planen können so ein bisschen."
Rund 30.000 Unfälle mit 56.000 beteiligten Fahrzeugen und 40.000 verletzten Personen haben die Unfallforscher in den vergangenen 40 Jahren dokumentiert, analysiert und verglichen. 1973 - als die Unfallforscher der Medizinischen Hochschule Hannover ihre Arbeit aufnahmen - starben noch mehr als 20.000 Menschen pro Jahr im Straßenverkehr, erinnert sich Prof. Dietmar Otte, Leiter der Unfallforschung:
"Da gibt es die allgemeine Statistik, das heißt, die Polizei erfasst bei Verkehrsunfällen nicht nur für die Beweissicherung, sondern auch für die Unfallstatistik Daten. Die geben uns einen Überblick: Wo passieren die Unfälle, wie schwer sind sie, welche Verkehrsteilnehmer sind beteiligt? Aber wir wissen immer noch nicht, wodurch werden die Personen verletzt und warum sind sie nachher getötet? Und um Maßnahmen dagegen einzuleiten, müssen wir erst mal die Verletzungsursachen und Verletzungsquellen kennen."
"Reingekommen ist jetzt gerade ein Verkehrsunfall über den Feuerwehrmelder. Rettungswagen ist unterwegs genauso wie die Polizei. Und der hat sich ereignet in Hannover in der Windmühlenstraße Nummer zwei."
Und diesmal ist auch die Unfallforschung mit dabei. Zwei Techniker sind sofort gestartet, um Bremsspuren zu vermessen, 3-D-Fotos von dem Szenario zu erstellen. Holger Reinecke folgt in einem weiteren Fahrzeug:
"Vor Ort werden wir dann versuchen, die Daten von den Beteiligten zu bekommen. Und die Beteiligten aus dem Fahrzeug befragen, wie es dazu gekommen ist."
Die Zukunft steckt voller Herausforderungen
Die Unfallforscher aus Hannover haben wesentlich dazu beigetragen, dass der Straßenverkehr sicherer geworden ist. Beispiel Lenksäule. Bei Auffahrunfällen prallten früher viele Fahrer auf das Lenkrad und wurden von der damals starren Lenksäule regelrecht aufgespießt und getötet. Benzintanks lagen häufig vorne und explodierten beim Crash. Sicherheitsgurte fehlten, es gab keinen Airbag, keine Knautschzone. Steife Strukturen an der Karosserie wurden zur tödlichen Falle für Fußgänger oder Radfahrer. Und die Zukunft? Auch sie steckt voller Herausforderungen, sagt Professor Dietmar Otte:
"Da haben wir im Augenblick Entwicklungen besonders im Fahrradbereich. Wir haben die eBikes, die plötzlich in den Verkehr kommen und die Frage ist, welche Situation wird das bringen? Wir können das eigentlich nur aus dem Unfallgeschehen sehen. Es wäre nicht richtig, wenn man vorher schon sagt, oh, da könnte ja eine gewisse Gefahr entstehen. Sondern man sollte ja einer Technik auch offen gegenüberstehen und erst mal sagen, dann müssen wir mal schauen. Nur wir müssen sie mit gewissen Augen beobachten. Und das ist im Augenblick der Fall. Und werden dann zu gegebener Zeit aus unserer Sicht dazu noch mal Stellung nehmen, bis man Ergebnisse hat."
Polizistin: "Die Kratzer hier sehen nicht so frisch aus."
Die Polizei war Erster am Unfallort. Eine Beamtin diskutiert mit den beiden Technikern der Unfallforschung über die Spuren. Ein Taxi hatte beim Rückwärtsfahren in der Fußgängerzone eine Rentnerin mit Rollator touchiert. Die 80-Jährige fiel dabei auf die Straße. Sie wurde mit dem Rettungswagen sofort in die Klinik gebracht. Unfallforscher Holger Reinecke greift zum Fragebogen, wendet sich an den Taxifahrer:
"Ja, ich habe Fahrgäste gehabt, die wollte ich da rauslassen. Aber die sagten, Nein, wir wollen genau vor dem Laden aussteigen. Dann wollte ich rückwärtsfahren, habe diese Dame aber überhaupt nicht gesehen. Gott sei Dank bin ich langsam gefahren, also wenn schnell, dann wäre es schlechter."
Mehr als 3000 Details nehmen die Unfallforscher ins Visier. Neben den Interviews mit Beteiligten sind es auch medizinische Daten wie zum Beispiel Röntgenbilder von den Verletzten und Arztberichte, aber auch technische Fragestellungen. An welcher Stelle am Fahrzeug prallte das Unfallopfer auf? Warum konnte es überhaupt zu dem Unfall kommen? Am Ende, nach der Aufnahme aller Daten, rekonstruiert Thorsten Facius den Unfall. Auf seinem Rechner entstehen dabei sogar Filme, die den Unfallhergang maßstabsgetreu aus allen Perspektiven und in Zeitlupe zeigen:
In den letzten zwanzig Jahren hat sich viel geändert
"Die Automobilindustrie ist ja quasi unser Kunde. Also alle namhaften deutschen Hersteller sind Kunden von uns. Und die bekommen unsere gesamten Daten. Und die schauen dann natürlich auch, ja, OK, an dieser Stelle vielleicht sind immer ganz viele Verletzungen eingetreten, am Armaturenbrett. Da gibt es ja jetzt auch in manchen Fahrzeugen den Knie-Airbag. Die Frontstruktur von den Fahrzeugen, die war früher recht hart und hatte auch ich sag‘ mal in Anführungsstrichen 'scharfe Kanten'. Und das hat sich jetzt geändert in den letzten zehn, zwanzig Jahren, dass das Fußgänger freundliche Konturen geworden sind, dass die nicht mehr so schwer verletzt werden, wenn die angefahren werden."
Holger Reinecke: "Wir fahren jetzt erst mal ins Krankenhaus, wo die Beteiligte hingekommen ist. Versuchen herauszufinden, was sie für Verletzungen hat. Wir werden dort wahrscheinlich noch auch die Polizei treffen, die vor uns da schon hingefahren ist, um halt auch mit ihr den Sachverhalt zu klären."
Notaufnahme im Henriettenstift. Ein paar Schritte noch, dann ist Unfallforscher Holger Reinecke am Bett der alten Dame, die eine Stunde zuvor von dem Taxi angefahren wurde. Sie hält sich noch einen Verband auf die Nase.
Reinecke: "Was haben Sie sich denn jetzt überall verletzt?
Frau: "Hauptsächlich die Nase, nehme ich an. Gut, ich habe noch am Knie eine Beule, wie es scheint."
Möglichst viele Daten zu erheben, das ist eine wesentliche Strategie der Unfallforschung. Denn oft ergeben sich viele Fragestellungen erst im Nachhinein, wenn die Unfälle längst passiert sind. Dann werden die umfangreichen Datensätze entsprechend gefiltert, neu gelistet und - entsprechend der Frage - statistisch ausgewertet. Joachim Nehmzow ist für die mathematische Analyse der Unfälle zuständig:
Wie sicher ist ein Fahrradhelm?
"Wir wissen ja im Vorhinein nicht, wenn wir Daten erheben, welche Fragestellungen auf uns zukommen. Insofern ist unser Gesamt-Datenpool sehr groß und sehr umfangreich, um möglichst im Nachhinein auch Fragen, die dann neu kommen, beantworten zu können. Das fängt ganz trivial an mit dem Unfalldatum, Unfallzeit, Fahrzeughersteller, Fahrzeugtyp. Wir haben im Moment knapp 3000 einzelne Variablen, die wir erheben und haben damit einen Pool, aus dem wir so ziemlich alle Fragestellungen, die relevant sein können, beantworten können."
Wie sicher ist zum Beispiel ein Fahrradhelm beim Radfahren? Für Joachim Nehmzow sind es nur wenige Mausklicks, um diese Frage zu beantworten. Er filtert die Daten von allen verletzten Fahrradfahrern aus der Unfallstatistik und unterteilt die Gruppe dann in Helm- und Nichthelmträger.
Joachim Nehmzow: "In diesem Fall, der Nutzen des Radhelms, die Möglichkeiten der Verletzungsreduktion beim Tragen des Radhelmes, sodass wir sagen, bestimmte Verletzungen - zum Beispiel Schädelfrakturen - kann ich um 75 Prozent reduzieren. Gerade schwere Hirnverletzungen um 60 bis 80 Prozent reduzieren. Und bei den Weichteilverletzungen ist die Reduktion nur 30 Prozent, aber da ist es auch nicht so entscheidend."
Die Unfallforschung hat durch die kombinierte medizinische und technische Analyse risikoreiche und oft auch tödliche Verletzungsmechanismen aufgedeckt und dafür gesorgt, dass Abhilfe geschaffen werden konnte. Sicherheitsgurt, Airbag, Protektoren für Motorradfahrer, um nur einige der Maßnahmen zu nennen. Der Erfolg kann sich sehen lassen: Vergangenes Jahr starben nur 3.600 Menschen auf den Straßen hierzulande - so wenig wie nie zuvor.
Der passive Schutz ist nun allerdings weitgehend ausgereizt, sagen die Unfallforscher zu dieser Entwicklung. In den nächsten Jahren wird es vor allem darum gehen, die aktiv eingreifenden Fahrer- und Fahrzeugassistenzsysteme zu perfektionieren, um die Unfallzahlen weiter zu senken. Unfälle komplett zu vermeiden, wird aber wohl auch damit kaum zu erreichen sein, meint Professor Dietmar Otte:
"Also es gibt die Vision "null", wenngleich es wahrscheinlich von der statistischen Möglichkeit her diese Zahl nie geben wird. Wir sind im Augenblick in einem sehr guten Trend, das heißt, wir beseitigen die Unfallschwere, wie wir sagen, die Verletzungsschwere. Und wenn wir noch mit zukünftiger Technik in den Fahrzeugen auch dem Fahrer helfen können, damit er Unfälle vermeiden kann, dann sind wir auch auf der guten Seite."
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