Unerhörtes Begehren

03.02.2011
Nach erfolgreicher Herzoperation verstrickt sich eine Frau in erotische Fantasien, ihren Chirurgen betreffend - "der Katheter wird zum Amorspfeil der eigenen Art". Julya Rabinowich beschreibt, was zwischen den Linien des EKG's steht.
"Ich möchte eine gefühlvolle Chirurgin sein", sagt die Autorin in einem Interview – und erweist sich in ihrem neuen Buch tatsächlich als eine solche, gleichwohl mit Potential zum Arztroman in Heftchenform. Es geht um einen Eingriff am Herzen ihrer Protagonistin, dessen überraschende Konsequenzen sie mit großem Feingefühl schildert. Er bewirkt eine Veränderung im Leben der Ich-Erzählerin. Von Krankheit und erzwungener Passivität befreit, stellt sie ihre bisherige Existenz infrage.

Anders als im ersten Roman, wo es um die autobiografische Erfahrung der Auswanderung und Entwurzelung geht, wo die Autorin durch die Wahl der Schauplätze Petersburg, Wien und New York die Welt ihrer Hauptfigur ausdehnt, zieht sie sie in der "Herznovelle" zusammen. Hier nun entsteht ein Trauma nicht durch die Begegnung mit äußerer Weite, sondern durch die Konfrontation mit dem Innersten. Mit unausgelebten Wünschen und Sehnsüchten, für die symbolisch wie auch konkret das Herz steht.

Eine namenlose Frau wird im Krankenhaus erfolgreich am Herzen operiert. Nach Hause zurückgekehrt mit Workaholic-Ehemann im bürgerlichen Heim und esoterisch-depressiver Freundin, verändern sich ihre Wahrnehmungen. Das alte Leben scheint nicht mehr weiter lebbar. Ein silbernes Fischmesser auf dem Esstisch verursacht ihr Unruhe und Schweißausbrüche, der Rotwein erinnert sie an Blut. Nachts glaubt sie wach zu sein, obwohl ihr durchaus fürsorglicher Mann behauptet, sie schliefe fest. Sie träumt heftig und durchlebt dabei immer wieder die Operation als "sich ereignete unerhörte Begebenheit" - in existentieller und auch erotischer Hinsicht.
Beim Kontrolltermin in der Klinik geht der Arzt sachlich und unpersönlich mit der Patientin um, für ihn eine von vielen. Sie fühlt sich von ihm im Stich gelassen. Und spürt das Anschwellen ihrer Schamlippen - ein unabwendbares Verlangen, sich mit diesem Mann, der ihr so nah gekommen ist, der ihr Herz in Händen hielt, zu verbinden. Der Katheter, den er durch ihren Körper gewunden hatte, erscheint ihr als "ein Amorspfeil der anderen Art".
Die OP wird so nachträglich zum mystisch-sexuellen Erweckungserlebnis stilisiert, Rabinowichs Protagonistin zur Stalkerin. Sie erfindet Vorwände, um in die Klinik zu gelangen, geht gar auf den Ärzteball, um dem Chirurgen zu begegnen. Ihre Träume werden immer sinnlicher, die Vereinigung mit dem Mann, der ihr "Herz gesehen hat", wird darin vollzogen. Doch lässt sie nicht davon ab, ihm auch in der Realität nachzusteigen.

Julya Rabinowich zeigt eine Frau, von der man nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sie sich am Rande des Wahnsinns bewegt oder, mit neu gewonnenem Bewusstsein, bei äußerst klarem Verstand – und ihr bisheriges Leben endlich in seiner Bedeutungslosigkeit erfasst. Der Text, immer wieder graphisch durch die Linie eines EKGs unterbrochen, unterscheidet nicht zwischen Realität und Traum, beides fließt ineinander. Typographisch abgehoben sind lyrische Einschübe der Ich-Erzählerin, die das Thema der erhofften und behaupteten Nähe, das Trauma der Operation und das Spiel mit der Metapher des Herzens variieren.

Besprochen von Carsten Hueck

Julya Rabinowich, Herznovelle
Deuticke Verlag, Wien 2011
157 Seiten, 15,90 Euro