Unerbittliche Fülle von Details

Von Jürgen König · 23.06.2011
Die Stasi war überall, sie belauschte und ließ belauschen, nichts entging ihr. Das gilt in besonderem Maße auch für den Mauerbau 1961. Welche Rolle die Stasi dabei spielte, ist Gegenstand einer neuen Publikation von Daniela Münkel, die jetzt im Mauer-Dokumentationszentrum in Berlin vorgestellt wurde.
Versorgungsprobleme und Wohnungsnot, Mängel in der Bauwirtschaft, Streiks in der Industrie, wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung, die für den Staat langsam bedrohlich werdenden Fluchtbewegungen in Richtung Westen: für alles interessiert sich die "Zentrale Informationsgruppe" des Ministeriums für Staatssicherheit, ihre Berichte des Jahres 1961, in einer Detailfülle, die etwas Unerbittliches hat, zeigen ein Land in einer Staatskrise - wie der Historiker Klaus-Dietmar Henke, der das Buch vorstellte, hervorhob:

"Wo Sie den neuen Band auch immer aufschlagen, meine Damen und Herren, nichts klappt, alles bröckelt, die Menschen hauen ab, Fehlschläge, Fehlentwicklungen überall, wohin der Röntgenblick des MfS auch fällt."

Fehlplanungen bei der Kollektivierung oder Mängel in der Wirtschaft werden gnadenlos analysiert, selbst das Fehlverhalten von Parteifunktionären aller Hierarchieebenen wird dezidiert kritisiert, bis hinauf zum Verkehrsminister Erwin Kramer, dem die Stasi Fehlinvestitionen vorwirft und ihn für Planrückstände verantwortlich macht: solches Fehlverhalten konnte dazu führen, Hochqualifizierte aus dem Land zu drängen: das galt es zu verhindern.

Ein besonderes Problem stellte das "unmoralische Verhalten" dar, das die Stasi registrierte bei "ideologisch nicht gefestigten" Bühnen- und Filmkünstlern, bei den Medien wie auch bei mittleren und leitenden Kadern des Staatsapparates. Von "Versumpfung" ist immer wieder die Rede, die doch mit dem Standpunkt sozialistischer Moral und Ethik nicht vereinbar sei. Und: dem Volk hat die Stasi sehr genau aufs Maul geschaut, so dass ein differenziertes Bild von der Stimmung dieses Volkes entsteht. Klaus-Dietmar Henke zitiert aus dem Buch.

"'Wenn der Friedensvertrag mit der DDR abgeschlossen wird, ändert sich für uns nix. Wir sind jetzt und auch danach ein Satellitenstaat der Russen', steht da drin, oder, Zitat: 'Eine weit verbreitete Befürchtung', das muss alles das Politbüro lesen, ja?, Zitat, Volksmeinung: 'Jetzt werden bei der Behandlung der Menschen in der DDR bestimmt andere Saiten aufgezogen, weil niemand mehr die DDR verlassen kann.'"

Für den Mauerbau entscheidend werden die Fluchtbewegungen in Richtung Westen. Die Stasi listet die Namen der Flüchtlinge auf, ordnet sie nach Berufsgruppen, betreibt Fehleranalyse bei den "verschiedenen örtlichen Organen" bei der Bekämpfung der Republikflucht, entwickelt Maßnahmen und Empfehlungen zur "Eindämmung der Republikflucht". Trotzdem verlassen allein zwischen Januar und August 1961 fast 175.000 DDR-Bürger ihr Land.

"Nach vorliegenden Meldungen wurden die bewaffneten Kräfte entsprechend dem Zeitplan zum Einsatz gebracht. Sie befinden sich in Marsch, zu den lt. Plan vorgesehenen Einsatzorten. Bisher keine Vorkommnisse, Stimmung ist normal."

- heisst es in einem Bericht vom 13. August. "Aktion Rose" lautet der Deckname für den Mauerbau; detailliert berichtet die Stasi über Reaktionen an den Grenzübergangsstellen, versucht sich über die Stimmung in der Bevölkerung Klarheit zu verschaffen – und schaut mit Sorge auf mögliche Reaktionen der West-Alliierten, wie fünf Berichte zeigen, die erst jetzt in der Stasiunterlagenbehörde gefunden wurden. Daniela Münkel, Forschungsprojektleiterin der Behörde und Herausgeberin des Bandes:

"Die Berichte sind unsicher. Man hat zwar gute Quellen, aber es ist noch nicht klar, was die West-Alliierten machen werden. Allerdings im Laufe des 14. August, also nur einen Tag später, war die Staatssicherheit bereits... konnte sozusagen Entwarnung geben, weil man wusste aus gut informierten Kreisen, wie es hieß, dass die West-Alliierten eben nicht eingreifen werden, solange der Vier-Mächte-Status von Berlin nicht angegriffen wurde. Und das bedeutete in der Konsequenz, dass sie ihren Plan ohne weitere Unterbrechung von außen weiter fortführen und durchführen konnten."

Aus "gut informierten Kreisen"? Zum Teil fassen sie einfach nur die Berichte aus den Presse-Erzeugnissen zusammen, aber dann gibt es eben auch sogenannte Informanten oder Agenten, die eben sowohl in den Parteien als auch bei den West-Alliierten sitzen, und aus diesen Kreisen ist eben die DDR-Führung sehr gut und vor allem das MfS, was es dann weiterleitet, sehr gut informiert.

Schon einen Tag nach dem Mauerbau ist die Furcht vor Gegenmaßnahmen der West-Alliierten vom Tisch, und die Stasi kann sich ganz und gar darauf konzentrieren, Maßnahmen zur "Disziplinierung" von, wie es heißt, "unzuverlässigen Personen" zu ergreifen. War die Stasi vor dem Mauerbau noch auffällig schonungslos an der Behebung von Missständen im Lande interessiert, wird das MfS nach dem Beginn des Mauerbaus zum gnadenlosen Instrument der Repression – mit gewachsenem Selbstbewusstsein auftretend als Geheimpolizei der DDR, mit herausgehobener Stellung im Herrschaftsgefüge der SED.

Man liest das mit Spannung. Noch die perfidesten Diffamierungen abgefasst im Stil nüchterner Bürokraten, die es verstanden, "die krisenhafte Gegenwart der DDR mit dem Voranschreiten der kommunistischen Gesellschaftsutopie ohne weiteres zu versöhnen", wie Klaus-Dietmar Henke es formulierte. Zwei Beispiele nannte er:

"Die Beschlüsse der Partei werden im Volk auf das Lebhafteste begrüßt. Aber es bestehen noch Unklarheiten."

Oder:

"Es geht aufwärts. Wenn auch in unterschiedlichem Umfange."

Zum Bild eines Landes, das seine Probleme nicht in den Griff bekommt und seine einzige Chance darin sieht, seine Bevölkerung einzusperren, gehört auch, dass es - neben sehr vielen Angepassten - auch sehr viel Eigensinn, Protest und Widerstand in der Bevölkerung gab – bis in die Kreise der Funktionsträger hinein. Dieser Widerstand wird unterdrückt – ganz in den Griff bekommt die Stasi ihn nie, und zwischen den Zeilen meint man gelegentlich herauszulesen, dass manchen, der da schrieb, Ahnungen beschlichen haben, dass moderne Gesellschaften sich auf Dauer mit solchen Methoden nicht regieren lassen. Lehrreiche Lektüre, sehr zu empfehlen.
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