Unbequem für alle

"Das Reden von Gott ist ein Totreden Gottes, wenn es folgenloses Gerede bleibt. Nur Lebensfolgen, nur darauf folgende Lebenszeichen können eine christliche Botschaft von Gott legitimieren." Das schrieb der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer vor knapp 40 Jahren in seinem Buch "Krummes Holz - aufrechter Gang". Der streitbare Professor für Systematische Theologe an den Universitäten Bonn und Berlin ging in vier politischen Epochen als unbequemer Querdenker in die Zeitgeschichte ein.
"1908 bin ich geboren. Meine Eltern – in einer ganz anderen Weise Christen, als ich es heute bin. Politisch und theologisch sehr konservativ. Beide miteinander, Vater und Mutter, waren sehr glaubwürdige Christen, d.h. sie lebten, was sie glaubten!"

Und um diese Übereinstimmung von Glauben und Leben ging es ihm zeitlebens: Dem Pfarrer, Schriftsteller und Professor für evangelische Theologie Helmut Gollwitzer. Als 75-Jährigen hatte man ihn 1983 vom Zaun des US-Atomraketen-Depots in Mutlangen weggetragen und wegen Nötigung verurteilt .Seine Mit-Demonstranten bei den Sitzblockaden und Menschenketten der Friedensbewegung nannten ihn, halb ehrfürchtig, halb spöttisch, den "APO-Opa", denn Helmut Gollwitzer hatte 1976 die Traueransprache für Terroristin Ulrike Meinhof gehalten. Und 1968 den erschossenen Studenten Benno Ohnesorg beerdigt. Studentenführer Rudi Dutschke wohnte in Gollwitzers Pfarrhaus in Berlin-Dahlem, als er in der Christmette Heiligabend 1967 von Kirchgängern zusammengeschlagen wurde. War "Golli", wie ihn die revoltierenden linken Intellektuellen nannten, politisch naiv? Ein "frömmelnder Kommunistenfreund", wie die BILD-Zeitung schrieb?

"Erstens: Gott ruft uns auf, Menschen des Friedens zu werden. Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. Zweitens: Gott liebt das Recht, deshalb müssen Christen den Rechtsstaat verteidigen, notfalls auch mit der Waffe. Drittens: Gott ist ein Gott der Vergebung, deshalb muss durch uns ein anderer Ton in das Geschrei zwischen Ost und West, in die Partei- und Wirtschaftskämpfe hineinkommen."

Als Helmut Gollwitzer dies sagte, war er gerade Professor auf dem Lehrstuhl seines Freundes und Förderers Karl Barth in Bonn geworden und - mit 43 Jahren zum ersten Mal verheiratet. Konrad Adenauer trieb die Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik voran, wogegen Gollwitzer 1955 in der Frankfurter Paulskirche heftig protestierte. Sein Buch "Und führen, wohin Du nicht willst" hatte ihn schlagartig populär gemacht : Der tagebuchartige Bericht seiner vier Jahre dauernden Gefangenschaft in einem sibirischen Arbeitslager vermied jegliches Opferpathos, beschrieb russische Soldaten weder als Untermenschen noch als Bestien und brach mit dem Tabu, über die Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht zu sprechen. Dass dieses Buch im Adenauerland der rehabilitierten Altnazis ein Bestseller wurde, erstaunte ihn selbst wohl am meisten.

Warum aber war Helmut Gollwitzer überhaupt Sanitätssoldat in Hitlers Wehrmacht geworden? Weil Dietrich Bonhoeffer ihn vor falschem Heldentum warnte.

"Ich fragte mich, ob ich, als Kriegsdienstverweigerer an die Wand gestellt, mit der ruhigen Gewissheit sterben könnte, dass dies nicht ein willkürlicher, sondern der allein mögliche Weg war? Nein! War es Feigheit? Kann ich nicht ergründen. Im Vordergrund meines Bewusstseins fühlte ich mich frei davon."

Durch den Liederdichter und Pfarrer Jochen Klepper hatte Helmut Gollwitzer im Januar 1941 Eva Bildt kennengelernt, die Tochter des Filmschauspielers Paul Bildt. Die beiden verlobten sich und schrieben sich im Laufe von Krieg und Gefangenschaft rund 750 Briefe.

"Wenn ich Deine lieben Briefe lese, dann muss ich mich rütteln, dass ich noch lebe und Du noch da bist. Und dass es außer der Frage, wie und wann man sterben darf, es ja doch noch unser Leben und unseren Weg gibt. Das ist meine ärgste Gefahr, der ich jetzt wieder zu erliegen drohe: Dass es mir leichter ist, mich im schnellen, totalen Verzicht einzurichten, als um etwas zu hoffen und zu kämpfen und für Dich zu leben."

Eva Bildt, als halbjüdisch klassifiziert, durfte nicht Schauspielerin sein, war Zwangsarbeiterin bei Siemens und nahm sich am 27. April 1945 das Leben. Einen Tag nach dem Einmarsch der Roten Armee, Erst ein Jahr später erfuhr Helmut Gollwitzer davon, zusammen mit der Nachricht von der Ermordung Dietrich Bonhoeffers.

"Ich lief heulend in den Wald. Seither stehen mir die Bilder der beiden mit besonderer Intensität vor Augen. Wenn mein Blick auf Evas Fotos fällt, ist es wieder wie in jenem Jahr im Lager, wo ich noch nichts wusste und in stündlichem Sprechen mit ihr war."

Obwohl Helmut Gollwitzer offiziell kein zweites Staatsexamen der theologischen Fakultät Erlangen bekam, wurde er der de-facto-Nachfolger des Pfarrers Martin Niemöller in Berlin-Dahlem, als dieser am 1. Juli 1937 verhaftet und ins KZ deportiert wurde. Damit stand der junge Theologe Gollwitzer Sonntag für Sonntag vor einem Sammelbecken widerständiger oder innerlich emigrierter, immer aber existentiell bedrohter Gegner der Nazi-Diktatur.
Was hatte ihn zur Bekennenden Kirche gebracht?

"Einmal: Wir hatten auf ein Mal eine Kirche, mit der wir Jungen uns identifizieren konnten. Und zweitens: Wir entdeckten die politische Dimension des Christentums und wie viel Widerstandsgeist und –kraft man aus dem Glauben bekommen konnte. Es waren ja immer auch Gestapo-Spitzel da. Du konntest keinen Satz sagen, ohne dass Du wissen musstest: Du musst dafür die Hand ins Feuer legen, Du musst bereit sein, dafür ins KZ zu gehen. Andrerseits aber auch keinen Satz, wo ich sozusagen vor Gottes Gericht stand und mich fragen musste: Sagst Du jetzt aus Feigheit weniger, als Du sagen musst? Das waren die zwei Feuer: Die Gestapo und Gottes Gericht."

So viel Mut zur Übereinstimmung von Glaube und Leben, Haltung und Praxis war ihm, bei aller Wertschätzung seiner frommen Eltern, nicht an der Wiege gesungen worden, als er am 29. Dezember 1908 im fränkischen Pappenheim bei Weißenburg geboren wurde. Helmut Gollwitzer starb, knapp 85-jährig, am 17. Oktober 1993. Eine seiner Theologiestudentinnen war die spätere Bundestagspräsidentin Antje Vollmer. Sie schreibt:

"Wenn 'Golli' predigte, standen die Kirchenbesucher bis hinaus auf die Straße. Seine Texte lebten von einer ungewöhnlichen Sprachkraft, einer fast pietistischen Frömmigkeit und einer großen Liebe zu allen Menschen. Helmut Gollwitzer war entschlossen, aber nicht radikal. Mutig, aber nicht zum Märtyrertum neigend, konservativ verwurzelt, aber mit größtem Freimut. Solche Prediger sind selten geworden im heutigen Protestantismus."