Unbekannter Nobelpreisträger

Ruth Kirchner im Gespräch mit Ulrike Timm · 11.10.2010
Der Friedensnobelpreisträger 2010, Liu Xiaobo, sitzt in China im Gefängnis. Die chinesische Regierung ist empört über die Preisvergabe "an einen Kriminellen" und tut alles dafür, dass niemand von der Ehrung erfährt. Das gelingt ihr auch größtenteils, berichtet ARD-Korrespondentin Ruth Kirchner aus Peking.
Ulrike Timm: Ein Krimineller als Friedensnobelpreisträger, das muss die chinesische Regierung ihren Landsleuten erst mal erklären. Tut sie aber nicht, denn Peking reagierte mit allen üblichen Reflexen: totschweigen, kaltstellen, übergehen. Im Internet meldet die bekannteste chinesische Suchmaschine, die Vergabe des Friedensnobelpreises 2010 entspreche nicht einschlägigen gesetzlichen und politischen Regelungen und werde deshalb nicht angezeigt. Festnahme einiger missliebiger Personen, nix in den Zeitungen und im Fernsehen schon gar nichts – das ganze Programm.

Traurigerweise hatten die chinesischen Medien in den letzten Tagen noch fleißig überlegt, wieso eigentlich China immer so leer ausgehe bei den Nobelpreisen. Jetzt haben Sie mit Liu Xiaobo den Friedensnobelpreisträger, aber den will man nicht.

Zugeschaltet ist uns jetzt unsere China-Korrespondentin Ruth Kirchner, Frau Kirchner, ich grüße Sie!

Ruth Kirchner: Ja, guten Tag!

Timm: Frau Kirchner, inzwischen weiß Liu Xiaobo von seiner Auszeichnung, aber seine Frau scheint festgesetzt zu sein. Was ist Ihnen derzeit dazu bekannt?

Kirchner: Nun, wir wissen, dass Liu Xia, die Frau von Liu Xiaobo, am Wochenende in Liaoning war, das ist die Provinz in Nordostchina, wo Liu Xiaobo im Gefängnis sitzt. Sie durfte dorthin fahren in Polizeibegleitung, um ihren Mann zu besuchen, und hat ihn getroffen, hat ihm dort vom Friedensnobelpreis erzählt. Den Berichten zufolge wusste er das schon entweder von den Gefängnisaufpassern oder möglicherweise auch von Mithäftlingen, die das vielleicht von ihren Angehörigen erfahren hatten.

Und er hat dann mit seiner Frau eine Stunde sprechen können, anschließend ist sie wieder zurück nach Peking gekommen und offenbar seitdem unter Hausarrest, denn es ist nicht möglich, mit ihr in Kontakt zu treten. Wir haben mehrfach versucht, sie anzurufen, ihr Mobiltelefon funktioniert nicht mehr, wir haben mit ihrem Anwalt gesprochen und auch der sagt, dass er keinen Kontakt mit seiner Mandantin hat.

Timm: Was heißt denn das, Hausarrest in China?

Kirchner: Nun, Hausarrest in China, das heißt zunächst einmal, dass der Zugang zu dem Haus, in dem man wohnt, blockiert ist, möglicherweise von zwei, drei Sicherheitsleuten, dass dort Besucher bereits abgefangen werden, und ihnen wird gesagt, man sei derzeit nicht erwünscht. Dass kann auch heißen, dass direkt vor der Wohnungstür noch jemand steht, das kann möglicherweise heißen, dass sogar Leute in der Wohnung sind und aufpassen, dass ... oder darüber bewachen, was man eigentlich tut.

Und das heißt im Falle von Liu Xia offenbar auch, dass sie eben keinen Telefonkontakt hat, dass sie offenbar auch keinen Internetkontakt mehr hat und dass man ihr gesagt hat, dass, wenn sie das Haus verlassen will, dass sie das nur in Polizeibegleitung tun kann.

Timm: Also wirklich abgeschnitten von dieser Welt gemessen an den Maßstäben des 21. Jahrhunderts. Wer in China, Frau Kirchner, weiß denn überhaupt vom Nobelpreis für Liu Xiaobo, und wer weiß nicht davon?

Kirchner: Das ist eine interessante Frage, weil auf der einen Seite wissen es ganz, ganz viele, vor allen Dingen kritische Intellektuelle, Leute, die sich mit der politischen Situation des Landes auseinandersetzen, und vor allem Leute, die wissen, wie man die wahnsinnig strenge Internetzensur in diesem Land umgehen kann. Die Intellektuellen, mit denen ich heute gesprochen hab, die waren alle sehr ermutigt von der Preisvergabe an Liu Xiaobo, eine Umweltaktivistin hat zu mir gesagt, der Preis wäre eigentlich gar nicht nur an Liu Xiaobo gegangen, sondern eigentlich stellvertretend an alle chinesischen Dissidenten.

Wenn Sie auf der Straße in Peking die Leute fragen, dann ernten Sie erstauntes Kopfschütteln, die Leute wissen überhaupt nicht, wer Liu Xiaobo ist. Denn wer sich eben nicht für diese Themen interessiert, der hat auch keine Chance, darüber überhaupt zu erfahren, denn Liu Xiaobo wird schon seit Jahren in China totgeschwiegen. Sein Name taucht nicht in den Zeitungen auf, taucht nicht im Fernsehen auf und ist daher der breiten Masse der Bevölkerung überhaupt nicht bekannt.

Timm: Zugleich muss sich die chinesische Regierung vorab ja unheimlich sicher gewesen sein, dass die ziemlich unverblümten Drohungen nach Oslo ihre Wirkung tun, denn im chinesischen Internet wurde die Bekanntgabe pikanterweise noch live übertragen. Erst danach liefen die Zensoren ihrer Arbeit hinterher. Eigentlich sagt das alles: Muss sich China jetzt nicht doch langsam öffnen?

Kirchner: Nun, die kritischen Intellektuellen hier im Land sagen, kurzfristig wird die Preisvergabe an Liu Xiaobo möglicherweise eine Art Backlash befördern, alsodass eben kritische Geister, Aktivisten zunächst vielleicht mit noch mehr Kontrolle und mit noch mehr Überwachung rechnen müssen. Aber mittel- und langfristig, sagen alle, geht an Reformen eigentlich kein Weg mehr vorbei.

Nur muss man sich natürlich fragen, wer denn in der derzeitigen Führung diese Reformen auf den Weg bringen soll? Man hat ja nicht den Eindruck, dass Hu Jintao oder Wen Jiabao tatsächlich Interesse hätten an einer Öffnung, einer politischen Öffnung dieses Landes, die ja immer auch bedeuten könnte, dass die Kommunistische Partei, die allein regierende Kommunistische Partei in China ihren Machtanspruch und ihren Alleinherrschaftsanspruch verlieren könnte.

Timm: Und mit Internet und twitter kennen die Herren sich da nicht aus, denn über Twitter haben ja chinesische Intellektuelle Liu Xiaobo gratuliert! Da ist offenbar eine echte Leerstelle in der chinesischen Regierung?

Kirchner: Das glaube ich ehrlich gesagt nicht, denn Twitter ist blockiert in China wie auch Facebook oder YouTube und unzählige andere Webseiten. Über Twitter verständigt man sich, ich sag mal, kritischen Intellektuellenkreisen, in Dissidentenkreisen, weil man natürlich dort auch weiß, wie man die Internetzensur umgehen kann, indem man über Server im Ausland geht. Und auf die Art und Weise kann man sich dann natürlich auch untereinander verständigen.

Die breite Masse der Chinesen hat keinen Zugang zu twitter und hat auch eben keinen Zugang zu kritischen Webseiten, und das weiß natürlich auch die Regierung sehr genau. Und so ist es ja nicht erstaunlich, dass in den staatlich kontrollierten Medien ja sowieso fast so gut wie gar nicht über die Friedensnobelpreisvergabe an Liu Xiaobo berichtet wurde, aber dass eben auch auf dem Internet und den Seiten, die in China zugänglich sind, ausgesprochen wenig Kommentare zu finden sind. Und das liegt natürlich auch daran, dass diese Kommentare dann von der Zensur gelöscht werden oder sofort blockiert werden.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", unsere China-Korrespondentin Ruth Kirchner informiert uns, wie Peking mit der Auszeichnung des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo umgeht, ein mittlerweile weltberühmter Mann, nur nicht in China. Frau Kirchner, was weiß man denn jenseits der Bezeichnung Dissident eigentlich über den Menschen Liu Xiaobo, wie hält er das durch?

Kirchner: Nun, Liu Xiaobo ist ja schon seit langer Zeit im Visier der Behörden, seit über 20 Jahren, um genau zu sein. Er hatte zunächst von sich reden machen 1989 bei der Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Er gehörte damals, als er noch Literaturprofessor hier in Peking war, zu Intellektuellen, die versucht hatten, die Sicherheitskräfte zu beschwichtigen. Und nach der Niederschlagung der Studentenproteste musste er dafür ins Gefängnis, das war seine erste Gefängnisstrafe. Und seitdem ist er immer wieder ins Visier der Behörden geraten, war im Arbeitslager und wurde dann eben 2008 wegen der Charta 08 verhaftet.

Er hat immer wieder und auch im Interview mit der ARD gesagt, dass er eigentlich gar nicht anders kann als sich für mehr Bürgerrechte, für mehr Meinungsfreiheit in China einzusetzen. Er wolle sich selber nicht verbiegen. Das erklärt sicherlich ein Stück weit, warum er das tut, was er getan hat, nämlich diese Charta 08 mit zu entwerfen, die ja für tiefgreifende politische Reformen in China sich einsetzt.

Er ist aber über die Jahre sicherlich ein bisschen milder geworden. Er galt 1989 als relativ auf sich selbst zentrierter junger Intellektueller, wenn Sie so wollen, und ist im Laufe der Jahre milder geworden, vielleicht etwas weniger radikal in seinen Forderungen. Aber natürlich ist auch die Forderung nach einer Öffnung, einer politischen Öffnung Chinas in den Augen der chinesischen Regierung immer noch radikal genug, um ihn als Kriminellen abzustempeln und ihn wegen dieses Vorwurfes der Untergrabung der Staatsgewalt – das ist ja so ein Gummiparagraph in China – zu einer elfjährigen Haftstrafe zu verurteilen.

Timm: Die Ehrung in Oslo ist im Dezember. Da ist ja noch ein bisschen Zeit sich zu überlegen, wer den Preis entgegennimmt. Welche Szenarien sind denn da denkbar?

Kirchner: Also das Szenario, dass Liu Xiaobo selbst nach Oslo reisen wird, ist glaube ich das Unrealistischste. Dass Liu Xia, seine Ehefrau fährt, könnte man sich vorstellen, wenn sie denn ausreisen darf. Unter den gegenwärtigen Umständen ist auch das relativ schwer vorstellbar. Und dann müsste man natürlich sehen, ob es jemand anderen gibt, der vielleicht stellvertretend für Liu Xiaobo und für Liu Xia den Preis entgegennehmen könnte.

Derzeit hat man den Eindruck, was die Reaktion der chinesischen Regierung angeht, dass man sehr hart reagiert. Es ist ja nicht nur Liu Xia unter Hausarrest, es ist eine Reihe von kritischen Geistern in Peking in den letzten Tagen schikaniert worden, wurden angerufen, wurden gewarnt, an irgendwelchen Treffen von Intellektuellen oder von Aktivisten teilzunehmen. Also man hat den Eindruck, dass die chinesische Regierung in dieser Beziehung im Moment total dicht macht.

Timm: Und mit dem Preis ist ja auch ein Geldpreis verbunden. Liu Xiaobo hat den Preis den Opfern auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewidmet, war hier über Agenturmeldungen zu erfahren, also letztlich der Freiheitsbewegung in China, und die hat bestimmt kein Konto?

Kirchner: Nun, die hat sicherlich kein Konto. Er hat gesagt, er wolle den Preis den toten Seelen des 4. Juni widmen. Das ist sicherlich zunächst mal mehr ein symbolisches Widmen den Opfern der Niederschlagung der Demokratiebewegung. Was er oder seine Frau oder das Ehepaar tatsächlich mit diesem Geld machen wollen, das wissen wir bislang nicht, das muss man zunächst noch mal abwarten.

Timm: Wie schweigt man einen weltberühmten Menschen tot? Unsere Korrespondentin Ruth Kirchner über den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der in China im Gefängnis sitzt. Vielen Dank für das Gespräch!

Kirchner: Und vielen Dank nach Berlin!