Unbeabsichtigte Nebenwirkungen friedlicher Lektürestunden
Kleinere Schriften der Klassiker aus der Gruft mehrbändiger Werkausgaben bergen und ihnen mit neuen Übersetzungen ein präsentables Gewand überziehen - so ließe sich das Vorgehen auch des kleinen Zürcher Verlags Doerlemann beschreiben. Letztes Jahr legte er zwei Novellen des Russen Ivan Turgenev in der Neuübertragung von Dorothea Trottenberg als schönes Geschenkbuch vor. Nun folgen ihnen zwei Brieferzählungen unter dem Titel "Faust".
Das Goethesche Drama steht im Mittelpunkt der gleichnamigen "Erzählung in neun Briefen", in der der 37-jährige Pavel Aleksandrovič B. seinem Petersburger Freund Semjon Nikolaevič V. schreibt, er habe sich auf dem Land in die Frau eines anderen verliebt. Vor knapp 20 Jahre hatte er sie als junger Mann schon einmal begehrt, seine Leidenschaft jedoch von ihrer Ehrfurcht gebietenden Mutter ermäßigen lassen. Nun erscheint ihm die Tochter so rein wie damals.
Pavel entschließt sich, sie mit dem Gift bekannt zu machen, vor dem ihre Mutter, eingedenk der blutigen Leidenschaften in ihrer Familie, sie stets bewahrt und gewarnt hatte: mit der Literatur. Pavel liest Vera, ihrem Ehemann und einem Deutschen den "Faust" vor. Binnen weniger Wochen blickt Vera in ihr unbekannte Abgründe, entbrennt in Liebe zu Pavel, wird wahnsinnig und stirbt im Fieber.
Vor solch starken, unbeabsichtigten Nebenwirkungen friedlicher Lektürestunden haben 1856, als die Briefnovelle entstand, wohl selbst die starrsinnigsten Wahrer der sittlichen Ordnung nicht mehr zu warnen gewagt. Um daher die außerordentliche Wirkung seines eigenen Metiers auf eine reine Seele zu beglaubigen, wählte Turgenjev die vor Intimität und Intensität bebende Briefform.
Es gelingt ihm auch, den Leser zu überzeugen, zumal nicht nur Goethes Drama, auch manch andere seiner Zeilen, aus dem "Werther" etwa das Bild von Lotte als Mutter und Ehefrau, hineinspielt in die Liebesintrige. Am Ende zieht Pavel die Lehre: "Das Leben ist kein Scherz und keine Spielerei, das Leben ist nicht einmal ein Vergnügen ... Das Leben ist schwere Arbeit. Entsagung, ständige Entsagung ... "
Das ist die Desillusion des romantisch überschwänglichen Liebesideals, wie sie damals viele Romane und Erzählungen ausdrückten. Aber etwas mehr Gewissensbisse und etwas weniger Egozentrismus hätte man von einem Mann, der eine Frau auf dem Gewissen hat, schon erwartet.
So spricht einiges für die biografische Deutung in Dorothea Trottenbergs Nachwort, der 1818 geborene Russe, bekannt als Autor von differenzierten Gesellschaftspanoramen wie "Väter und Söhne", resümiere in der Briefnovelle die unglückliche Liebe zur verheirateten Marja Tolstaja, der Schwester von Lev Tolstoj: Sie mit der Feder umzubringen und dann über das eigene schwere Los zu sinnieren, war der psychischen Hygiene sicher recht dienlich.
Einen ähnlichen biographischen Hintergrund hat die zweite Brieferzählung, in der Aleksej Petrovič per Brief an eine Jahre zurückliegende Bekanntschaft mit Marja Aleksandrovna anknüpft, große Hoffnungen bei ihr weckt und plötzlich verstummt. "Nicht Glück, sondern menschliche Würde ist das Hauptziel im Leben", gab Aleksej kurz vor seinem Verschwinden Marja mit auf den fortan einsamen Weg.
Wieder wird das Gefühl an der Wirklichkeit zuschanden. Doch nach "Faust" enttäuscht "Ein Briefwechsel". Mühsam erläutert in der zweiten Brieferzählung ein letzter, Jahre später datiertes Schreiben dem Leser, warum die Korrespondenz plötzlich abbrach: Aleksej hatte sich Hals über Kopf in eine Tänzerin verliebt und liegt nun im fernen Dresden im Sterben. Der Umschlag der Handlung wirkt willkürlich, und der Tod wird wie ein willfähriger Gehilfe von einem Erzähler heran gewunken, der sich die Personen ein für alle Mal vom Hals schaffen will. "Ein Briefwechsel" wäre vielleicht besser in der Gruft verblieben.
Rezensiert von Jörg Plath
Ivan Turgenev, Faust. Zwei Novellen
Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Dorothea Trottenberg.
Doerlemann, Zürich 2007, 160 Seiten, 17,80 Euro
Pavel entschließt sich, sie mit dem Gift bekannt zu machen, vor dem ihre Mutter, eingedenk der blutigen Leidenschaften in ihrer Familie, sie stets bewahrt und gewarnt hatte: mit der Literatur. Pavel liest Vera, ihrem Ehemann und einem Deutschen den "Faust" vor. Binnen weniger Wochen blickt Vera in ihr unbekannte Abgründe, entbrennt in Liebe zu Pavel, wird wahnsinnig und stirbt im Fieber.
Vor solch starken, unbeabsichtigten Nebenwirkungen friedlicher Lektürestunden haben 1856, als die Briefnovelle entstand, wohl selbst die starrsinnigsten Wahrer der sittlichen Ordnung nicht mehr zu warnen gewagt. Um daher die außerordentliche Wirkung seines eigenen Metiers auf eine reine Seele zu beglaubigen, wählte Turgenjev die vor Intimität und Intensität bebende Briefform.
Es gelingt ihm auch, den Leser zu überzeugen, zumal nicht nur Goethes Drama, auch manch andere seiner Zeilen, aus dem "Werther" etwa das Bild von Lotte als Mutter und Ehefrau, hineinspielt in die Liebesintrige. Am Ende zieht Pavel die Lehre: "Das Leben ist kein Scherz und keine Spielerei, das Leben ist nicht einmal ein Vergnügen ... Das Leben ist schwere Arbeit. Entsagung, ständige Entsagung ... "
Das ist die Desillusion des romantisch überschwänglichen Liebesideals, wie sie damals viele Romane und Erzählungen ausdrückten. Aber etwas mehr Gewissensbisse und etwas weniger Egozentrismus hätte man von einem Mann, der eine Frau auf dem Gewissen hat, schon erwartet.
So spricht einiges für die biografische Deutung in Dorothea Trottenbergs Nachwort, der 1818 geborene Russe, bekannt als Autor von differenzierten Gesellschaftspanoramen wie "Väter und Söhne", resümiere in der Briefnovelle die unglückliche Liebe zur verheirateten Marja Tolstaja, der Schwester von Lev Tolstoj: Sie mit der Feder umzubringen und dann über das eigene schwere Los zu sinnieren, war der psychischen Hygiene sicher recht dienlich.
Einen ähnlichen biographischen Hintergrund hat die zweite Brieferzählung, in der Aleksej Petrovič per Brief an eine Jahre zurückliegende Bekanntschaft mit Marja Aleksandrovna anknüpft, große Hoffnungen bei ihr weckt und plötzlich verstummt. "Nicht Glück, sondern menschliche Würde ist das Hauptziel im Leben", gab Aleksej kurz vor seinem Verschwinden Marja mit auf den fortan einsamen Weg.
Wieder wird das Gefühl an der Wirklichkeit zuschanden. Doch nach "Faust" enttäuscht "Ein Briefwechsel". Mühsam erläutert in der zweiten Brieferzählung ein letzter, Jahre später datiertes Schreiben dem Leser, warum die Korrespondenz plötzlich abbrach: Aleksej hatte sich Hals über Kopf in eine Tänzerin verliebt und liegt nun im fernen Dresden im Sterben. Der Umschlag der Handlung wirkt willkürlich, und der Tod wird wie ein willfähriger Gehilfe von einem Erzähler heran gewunken, der sich die Personen ein für alle Mal vom Hals schaffen will. "Ein Briefwechsel" wäre vielleicht besser in der Gruft verblieben.
Rezensiert von Jörg Plath
Ivan Turgenev, Faust. Zwei Novellen
Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Dorothea Trottenberg.
Doerlemann, Zürich 2007, 160 Seiten, 17,80 Euro