Umweltdiskussion

Pestizide – soweit die Ängste reichen

Ein Landwirt fährt mit einer Dünger- und Pestizidspritze über ein Feld mit jungem Getreide in Sieversdorf im Landkreis Oder-Spree.
Ein Landwirt fährt mit einer Dünger- und Pestizidspritze über ein Feld mit jungem Getreide in Sieversdorf im Landkreis Oder-Spree. © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Udo Pollmer  · 31.05.2014
Die Liste der Schadstoffe im Essen wächst. Man gewinnt den Eindruck, dass mit jeder erfolgreichen Schadensbegrenzung zwei neue Gifte auftauchen. Ein Ende scheint nicht in Sicht. Wir fragten unseren Lebensmittelchemiker, ob das alles nur ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für seine Kollegen ist?
Schon wieder ein neues Pestizid - diesmal im Kaffee, wo es niemand erwartet hätte. Das Mittel heißt Mepiquat. Mepiquat-Rückstände findet man sonst auf Tomaten. Dort wird es als Wachstumsregler eingesetzt, dann als Keimhemmungsmittel auf Zwiebeln und als Halmfestiger für Dinkel. Doch die fraglichen Rück-stände im Kaffee haben rein gar nichts mit Pflanzenschutz zu tun.
Mepiquat entsteht bei der Röstung - aus ganz normalen Inhaltsstoffen der Kaffeebohne. Was machen wir jetzt? Kaffee verbieten, weil er eine für Kaffee verbotene Agrochemikalie enthält - oder Augen zu und durch?
Pilzfreunden droht schon das nächste Ungemach: Pfifferlinge enthalten Diethyltuloamid. Das Mittel schützt vor Insekten - ist aber nicht für Pilze zugelassen. Dafür aber für Menschen; die schmieren sich damit am Baggersee gegen Mückenstiche ein. Der Wirkstoff wird bereitwillig über Haut und Lunge aufgenommen, damit ist die Belastung beim Baden weit größer als beim Verspeisen eines Omeletts mit Pfifferlingen. In den Pilzen steckt es, weil es nicht nur Badegäste sondern auch Pilzsammler benutzen.
Erlassen wir eine Pilzmücken-Höchstmenge?
Wollen wir wirklich den russischen Pilzsammlern den Mückenschutz verbieten? Essen wir keine Waldpilze mehr sondern nur noch heimische Zucht-Champis? Oder erlassen wir eine Pilzmücken-Höchstmenge? Aber dann jammern Umweltschützer, die Höchstmengen seien auf Wunsch einer skrupellosen Industrie "schon wieder" erhöht worden. Am Schluss wird wohl die Anwendung am Menschen verboten - um die Kinder zu schützen und damit die Mücken nicht mehr so leiden, wenn sie Krankheiten übertragen wollen.
Ein Stoff jagt den nächsten - in der Flut gehen echte Risiken unter und alles wirkt gleich beunruhigend. Unlängst hieß es, beschichtete Pfannen für die fettscheue Küche gasen Benzol aus. Die Werte veranlassten Spötter zur Behauptung, fettfreies Braten würde die Oktanzahl im Blut erhöhen. Dieses Risiko wäre im Gegensatz zum Karottensaft vermeidbar. Auch der ist belastet, enthält aber viel weniger Benzol.Das bildet sich beim Sterilisieren der Gläschen - aus natürlichen Inhaltsstoffen wie Carotin.
Wer seine Möhren selber kocht, hat kein Benzol auf dem Teller - weil es beim Kochen verdampft. Wir atmen es dann halt ein. Experten betonen, Benzol sei schon in kleinsten Spuren gefährlich und fordern eine Nulltoleranz.
Wer die Forderung ernst nimmt, braucht eine Gasmaske
Und nun? Benzol ist überall, es entsteht bei Verbrennungen - egal ob ein Wald brennt oder nur der Weihrauch. Wer die Forderung nach einer Nulltoleranz ernst nimmt, braucht in der Küche wie beim Kirchgang eine Gasmaske. Und beim Waldlauf. Zum Schutz vor Chloroform. Das Chloroform in der Umwelt ist zu 90 Prozent natürlichen Ursprungs. Meeresalgen produzieren riesige Mengen. An Land sind es neben den Termiten vor allem Bodenpilze. Das Betäubungsmittel steigt aus Reisfeldern empor und ist in der Waldluft präsent.
Der Wald ist auch sonst nicht sehr umweltbewusst. In Wildschweinen wurden unlängst Methoxychlordiphenylether gefunden - wüste Chlorchemie. Die Rückstände in den Schweinen lagen deutlich höher als die von Industriechemikalien wie den PCBs oder dem Uralt-Pestizid DDT. Verursacher sind Waldpilze, die die Tiere gern fressen.
Chlorverbindungen sind aufgrund ihrer Stabilität und Wirksamkeit in der Natur beliebt. Vor allem Meereslebewesen, denen im Salzwasser reichlich Chlor zur Verfügung steht, haben ein breites Arsenal an potenten Pestiziden entwickelt, gegen die keine Chemiefabrik anstinken kann.
Dem Meer das Wasser abgraben
Viele dieser Naturstoffe sind chlororganischen Umweltgiften verblüffend ähnlich, manche identisch. Wir finden sie im Fett der Meeressäuger ebenso wie in der Muttermilch. Wer, wie viele Umweltschützer, die Forderung nach einem pauschalen Verbot der Chlorchemie unterstützt, der kann schon mal anfangen, dem Meer das Wasser abzugraben.
Die Umweltdiskussion widmet sich immer weniger der Vermeidung von Gefahren sondern der Bewirtschaftung gesellschaftlicher Ängste. Wir brauchen neue Maßstäbe, um die Stoffe, aus denen unsere Welt besteht, angemessen zu beurteilen. Sonst verheddern wir uns in sinnlosen Regelwerken, die nur noch unser Geld auffressen. Mahlzeit!
Literatur
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Greenpees e.V.: Legale Pestizidmengen auf Obst können Kinder gefährden. Pressemitteilung vom 30.8.2013
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