Umstrittene Alleskönner

Wenn über Stammzellen debattiert und gestritten wird, dann sind vor allem die embryonale Stammzellen gemeint. Der Mediziner Gerd Kempermann lenkt in seinem Buch "Neue Zellen braucht der Mensch" den Blick darauf, dass im menschlichen Körper überall Stammzellen schlummern. Zugleich liefert er einen fundierten Beitrag zur Versachlichung der aufgeregten Debatte.
Die Nutzung von Stammzellen macht den Menschen zum Rohstoff für die Biotechnologie, sagen die einen. Andere glauben, dass dank Stammzellen schon bald viele Krankheiten heilbar sind. Sie erwarten nicht weniger als eine medizinische Revolution. Dabei denken beide Seiten stets nur an embryonale Stammzellen. Sie vergessen, dass diese umstrittenen "Alleskönner" eine Sonderform der Stammzellen darstellen. Wissenschaftler gewinnen sie aus Embryonen und vermehren sie in einer künstlichen Laborumgebung.

Der Medizinprofessor Gerd Kempermann von der Universität Dresden lenkt den Blick auf eine ganz andere "Stammzellenrevolution". Und das ist berechtigt, denn die neuen Erkenntnisse über Stammzellen haben in den letzten zehn Jahren unser Bild vom menschlichen Körper revolutioniert. Dort schlummern überall Stammzellen, deren Aufgabe es ist, alte oder defekte Zellen durch neue zu ersetzen. Ein Organismus ist nie fertig. Jedes höhere Lebewesen, jeder Mensch, ensteht immer wieder aufs Neue. Nicht nur die Haut oder das Blut, auch Muskeln, Knochen und Gehirn werden immer wieder rundum erneuert. Dabei sind die Stammzellen keine Einzelkämpfer. Sie sind Teil eines Gewebes, eines komplexen Systems, das verschiedene Aufgaben zu erfüllen hat.

Anschaulich und umfassend beschreibt der Wissenschaftler Gerd Kempermann die Bedeutung der Stammzellen im Organismus. Dabei erfährt der Leser, wie sein eigener Körper nach dem neuesten Stand des Wissens funktioniert. Aber auch um eine Bewertung der umstrittenen embryonalen Stammzellen drückt sich der Autor nicht herum. Er versucht, die Aufgeregtheit der ethischen und politischen Debatte zu überwinden. In seinem Buch bietet er ein solides Wissensfundament. Statt zu begeistern oder zu verteufeln, informiert und erklärt er. Gerd Kempermann verzichtet auf übertriebene Versprechungen und fragwürdige Interpretationen von Laborergebnissen. Stattdessen liefert sein Buch einen soliden Überblick über den aktuellen Forschungsstand. Der Text wird ergänzt durch anschauliche Abbildungen. Auch Einsatzmöglichkeiten und Zukunftschancen der neuen Erkenntnisse in der Medizin beschreibt es fachkundig und zurückhaltend. Das ist aber keineswegs langweilig. Immer wieder werden die Fachinformationen aufgelockert durch Beispiele oder Karrikaturen.

Das Buch ist für interessierte Laien geeignet. Kempermann schreibt anschaulich und verständlich. Sorgfältig erklärt er zahlreiche Fachwörter. Dennoch häufen sich gegen Ende des Buches kompliziertere Formulierungen. Manche entstammen dem Wissenschaftlerjargon und kommen in der Alltagssprache nicht vor. Da ist zum Beispiel immer wieder von "generierten Zellen" oder "etablierten Protokollen" die Rede.

Dennoch ist "Neue Zellen braucht der Mensch" empfehlenswert, denn es ist das erste Buch überhaupt, das die aktuellen Ergebnisse der Stammzellenforschung allgemeinverständlich erklärt und einordnet. Es liefert einen seriösen Überblick und ein neues Verständnis von der Funktionsweise des menschlichen Körpers und ist geeignet für all jene, die sich mit den Oberflächlichkeiten der politischen Stammzellendebatte nicht abfinden wollen. Auch Politikern, Ethikern und Journalisten sei die Lektüre ans Herz gelegt, damit in Zukunft mehr Menschen als bisher wissen, worüber sie diskuttieren.

Rezensiert von Michael Lange

Gerd Kempermann: Neue Zellen braucht der Mensch. Die Stammzellforschung und die Revolution der Medizin
Piper Verlag, 2008
286 Seiten, 18 Euro