Ums eigene Leben schreiben
Mit dem Namen Jean Améry verbinden sich vor allem Essays, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts für Furore sorgten: "Jenseits von Schuld und Sühne" etwa, "Über das Altern" oder die groß angelegte Suizidsreflexion "Hand an sich legen".
Wenn nun im Rahmen der im Klett Cotta Verlag erscheinenden Werkausgabe ein bisher verschollen geglaubter Roman publiziert wird, liegt die Vermutung nahe, eine neue Facette Améryschen Schreibens stehe kurz vor ihrer Entdeckung. War es nicht schon so im Falle des Soziologen und Filmkritikers Siegfried Kracauer gewesen, dessen zwei Romane posthum größte Anerkennung fanden und danach einen gebührenden Platz im Œuvre erhielten?
Wer mit derlei Erwartungen den 1935 geschriebenen Jugendroman "Die Schiffbrüchigen" liest, könnte freilich enttäuscht werden. Was der vater- und mittelose Schulabbrecher aus der österreichischen Provinz, ein katholisch erzogener Jude, der damals noch Hans Mayer hieß, damals an ihn Bedrängenden in Romanform zu gießen versuchte, überzeugt als Genre auch dann nicht, wenn man um die wundersame Genese des Ganzen weiß: Während Mayer 1938 aus dem besetzten Österreich nach Belgien flüchtete, als Widerstandskämpfer schließlich von der Gestapo verhaftet und gefoltert wurde und nur durch geradezu irrwitzige Zufälle die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen als fortan unbestechlich Zeugnis gebender Jean Améry überlebte, überdauerte das 392-seitige Typoskript in einer gemütlich klingenden Institution namens Wiener Manuskriptvermittlung, ehe es nun nach sieben Jahrzehnten zum ersten Mal als Buch erscheint.
Erzählt wird hier die autobiographisch getönte Geschichte des jungen Eugen Althager, der im Unterschied zu seinem Freund Heinrich Hessl sein Judentum nicht widerruft, sich nicht anpasst und als Preis dafür mit der Isolation in einer verkommenen Gesellschaft zahlen muss, die spätestens nach Niederschlagung des sozialdemokratischen Februar-Aufstandes von 1934 zum austrofaschistischen "Ständestaat" geworden war. Selbst Frauengeschichten scheitern geradezu repräsentativ angesichts der Feinnervigkeit eines zum Außenseiter Gemachten, dessen junges Herz unaufhörlich revoltiert. "In Frage gestellt schien plötzlich das ganze Wertesystem, nach dem bisher Menschen und Dinge gedacht worden waren", heißt es über Eugen, dem die "seelische Assimilationsfähigkeit" seines Jugendfreundes vollkommen abgeht. Spätestes hier aber ahnt man: Das ist Essay-Sprache, ist der Duktus präzisen Beschreibens, wohl aber kaum der Ton des Erzählens und Fabulierens. Was im Roman jedoch symbolisch überfrachtet wirkt, ist zuerst im erlittenen Leben und später in den reflektierenden Essays Garantie dafür, dass der Blick auf das Wesentliche gerichtet bleibt, auf die Leiden und die Größe des Individuums. Und wie früh angelegt bereits die Abscheu vor links-rechten Relativierungs-Mechanismen, etwa wenn der universell gegen Unrecht aufbegehrende Eugen mit dem opportunistischen Zufriedenheitsspießer Heinrich debattiert: "Klar ist, dass Deutschland eine Hölle der Barbarei sanktioniert, die... Ach, unterbrach Heinrich, immer dieses Argument. Das ist das Ressentiment, bedingt durch unser Judentum. Warum reden wir nicht mehr von der russischen Barbarei der Revolutionsjahre? Ich glaube nicht, sagte Eugen, dass das mit unserem Judentum zusammenhängt. Wahrscheinlich wären wir auch in Russland nach dem Umsturz glühende Konterrevolutionäre geworden."
Wer mit Jean Amerýs bisherigem Werk nicht vertraut war und "Die Schiffbrüchigen" vielleicht eher ratlos zur Seite legt, wird dennoch nicht umhin können, die unerhörte Kraftanstrengung zu bewundern, mit der hier Beobachtungen artikuliert und Sätze gemeißelt werden. Doch auch wer meinte, Amerý einigermaßen zu kennen, wird vermutlich wie unter Magnetwirkung noch einmal zu den vermeintlich ausgelesenen Essays zurückkehren. Was ist das für ein Autor, bei dem bereits als jungem Mann alles "da" war – vor dem Exil, vor der Gestapo, vor der Folter? Dieses geradezu Hiobsche Entsetzen über Unrecht und die Trägheit des menschlichen Herzens, über große und kleine Schuftigkeiten, ein metaphysisches Revoltieren, das Linderung durch die gängige Phrase verschmäht und dann in den Nachkriegs-Essays bis heute aktuell geblieben ist: Der Einspruch etwa gegen das allzu bequeme bundesrepublikanische Historisieren des Holocaust in "Jenseits von Schuld und Sühne" oder gegen die unfassbare Kälte der westlichen Linken angesichts des bis zur Stunde mit Vernichtung bedrohten Israel in "Der ehrbare Antisemitismus". Im Oktober 1978 schied der KZ-Überlebende Jean Améry aus dem Leben – "freiwillig", wie die gedankenlose Floskel dafür lautet. ("Der kleinen tode wegen, die zu sterben vor dem tod/ er müde war/ Der vielen kleinen mörder wegen", schrieb damals Reiner Kunze dem väterlichen Freund voll ungetrösteter Trauer hinterher.)
Zugespitzt könnte man deshalb vielleicht sogar fragen: Und was ist, wenn der junge Hans Mayer damals in den "Schiffbrüchigen" nicht etwa an der Romanform gescheitert wäre – sondern stattdessen die Struktur des Romans an den geradezu verzweifelt existentiellen Themen des Jean Améry?
Rezensiert von Marko Martin
Jean Améry: Die Schiffbrüchigen
Roman
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007
329 Seiten, 22 Euro
Wer mit derlei Erwartungen den 1935 geschriebenen Jugendroman "Die Schiffbrüchigen" liest, könnte freilich enttäuscht werden. Was der vater- und mittelose Schulabbrecher aus der österreichischen Provinz, ein katholisch erzogener Jude, der damals noch Hans Mayer hieß, damals an ihn Bedrängenden in Romanform zu gießen versuchte, überzeugt als Genre auch dann nicht, wenn man um die wundersame Genese des Ganzen weiß: Während Mayer 1938 aus dem besetzten Österreich nach Belgien flüchtete, als Widerstandskämpfer schließlich von der Gestapo verhaftet und gefoltert wurde und nur durch geradezu irrwitzige Zufälle die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen als fortan unbestechlich Zeugnis gebender Jean Améry überlebte, überdauerte das 392-seitige Typoskript in einer gemütlich klingenden Institution namens Wiener Manuskriptvermittlung, ehe es nun nach sieben Jahrzehnten zum ersten Mal als Buch erscheint.
Erzählt wird hier die autobiographisch getönte Geschichte des jungen Eugen Althager, der im Unterschied zu seinem Freund Heinrich Hessl sein Judentum nicht widerruft, sich nicht anpasst und als Preis dafür mit der Isolation in einer verkommenen Gesellschaft zahlen muss, die spätestens nach Niederschlagung des sozialdemokratischen Februar-Aufstandes von 1934 zum austrofaschistischen "Ständestaat" geworden war. Selbst Frauengeschichten scheitern geradezu repräsentativ angesichts der Feinnervigkeit eines zum Außenseiter Gemachten, dessen junges Herz unaufhörlich revoltiert. "In Frage gestellt schien plötzlich das ganze Wertesystem, nach dem bisher Menschen und Dinge gedacht worden waren", heißt es über Eugen, dem die "seelische Assimilationsfähigkeit" seines Jugendfreundes vollkommen abgeht. Spätestes hier aber ahnt man: Das ist Essay-Sprache, ist der Duktus präzisen Beschreibens, wohl aber kaum der Ton des Erzählens und Fabulierens. Was im Roman jedoch symbolisch überfrachtet wirkt, ist zuerst im erlittenen Leben und später in den reflektierenden Essays Garantie dafür, dass der Blick auf das Wesentliche gerichtet bleibt, auf die Leiden und die Größe des Individuums. Und wie früh angelegt bereits die Abscheu vor links-rechten Relativierungs-Mechanismen, etwa wenn der universell gegen Unrecht aufbegehrende Eugen mit dem opportunistischen Zufriedenheitsspießer Heinrich debattiert: "Klar ist, dass Deutschland eine Hölle der Barbarei sanktioniert, die... Ach, unterbrach Heinrich, immer dieses Argument. Das ist das Ressentiment, bedingt durch unser Judentum. Warum reden wir nicht mehr von der russischen Barbarei der Revolutionsjahre? Ich glaube nicht, sagte Eugen, dass das mit unserem Judentum zusammenhängt. Wahrscheinlich wären wir auch in Russland nach dem Umsturz glühende Konterrevolutionäre geworden."
Wer mit Jean Amerýs bisherigem Werk nicht vertraut war und "Die Schiffbrüchigen" vielleicht eher ratlos zur Seite legt, wird dennoch nicht umhin können, die unerhörte Kraftanstrengung zu bewundern, mit der hier Beobachtungen artikuliert und Sätze gemeißelt werden. Doch auch wer meinte, Amerý einigermaßen zu kennen, wird vermutlich wie unter Magnetwirkung noch einmal zu den vermeintlich ausgelesenen Essays zurückkehren. Was ist das für ein Autor, bei dem bereits als jungem Mann alles "da" war – vor dem Exil, vor der Gestapo, vor der Folter? Dieses geradezu Hiobsche Entsetzen über Unrecht und die Trägheit des menschlichen Herzens, über große und kleine Schuftigkeiten, ein metaphysisches Revoltieren, das Linderung durch die gängige Phrase verschmäht und dann in den Nachkriegs-Essays bis heute aktuell geblieben ist: Der Einspruch etwa gegen das allzu bequeme bundesrepublikanische Historisieren des Holocaust in "Jenseits von Schuld und Sühne" oder gegen die unfassbare Kälte der westlichen Linken angesichts des bis zur Stunde mit Vernichtung bedrohten Israel in "Der ehrbare Antisemitismus". Im Oktober 1978 schied der KZ-Überlebende Jean Améry aus dem Leben – "freiwillig", wie die gedankenlose Floskel dafür lautet. ("Der kleinen tode wegen, die zu sterben vor dem tod/ er müde war/ Der vielen kleinen mörder wegen", schrieb damals Reiner Kunze dem väterlichen Freund voll ungetrösteter Trauer hinterher.)
Zugespitzt könnte man deshalb vielleicht sogar fragen: Und was ist, wenn der junge Hans Mayer damals in den "Schiffbrüchigen" nicht etwa an der Romanform gescheitert wäre – sondern stattdessen die Struktur des Romans an den geradezu verzweifelt existentiellen Themen des Jean Améry?
Rezensiert von Marko Martin
Jean Améry: Die Schiffbrüchigen
Roman
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007
329 Seiten, 22 Euro