Umlandgemeinde Velten

Die Stadt bei Berlin, die keine Pendler will

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Velten im Landkreis Oberhavel, Bundesland Brandenburg: Vor dem Bahnhof verläuft einen Straße, im Vordergrund parkt ein schwarzes Auto.
Der Bahnhof in Velten. Kommt die Regionalexpress- und die S-Bahn-Anbindung? © imago / Jürgen Ritter
Von Wolf-Sören Treusch · 23.04.2020
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Immer mehr Städter ziehen ins Umland von Metropolen, so auch im Berliner Speckgürtel. Manche Gemeinde wirbt sogar um sie. Anders ist es in Velten: Dort hat man den Bau von 50 Wohnungen gestoppt und sich gegen die S-Bahn-Anbindung an Berlin gewandt.
Akkurat beschnittene Bäume, ein Rathaus, das pünktlich um 1 Uhr mittags abgeschlossen wird: Die brandenburgische Kleinstadt Velten, wenige Kilometer hinter der nördlichen Stadtgrenze Berlins, wirkt aufgeräumt. Eine trügerische Ruhe, denn die Stadtverordnetenversammlung beschloss im Februar, vorerst keine Bauvorhaben von mehr als 50 Wohneinheiten mehr zu genehmigen. In der Antragsbegründung heißt es: "Unsere Heimatstadt darf nicht zur Berliner Vorstadt werden".
Markus Schütte, seit drei Jahren Pfarrer in Velten, ist darüber beunruhigt, "dass grundsätzlich ein Wachstum der Stadt, das Zuziehen von Menschen von außerhalb, vorrangig aus Berlin, abgelehnt wird. Zum Beispiel haben AfD-Vertreter sehr deutlich gesagt, bei dem hohen Migrationsanteil, den angeblich die Berliner Bevölkerung hat, könne man sich ja ausrechnen, wie viele Migranten dann hier nach Velten ziehen würden – da wird ja die inhaltliche Ausrichtung dieses Beschlusses und anderer Beschlüsse sehr deutlich."

Eindeutige Botschaft

Die Botschaft ist eindeutig: Velten schottet sich ab. Dabei liegt die Einwohnerzahl seit 1990 konstant zwischen zehn- und zwölftausend. In fast allen anderen Gemeinden im Berliner Speckgürtel ist die Bevölkerungszahl dagegen gestiegen.
Das geplante Neubaugebiet am Veltener Bahnhof für bis zu eintausend Wohnungen: Zukunft ungewiss. Bürgermeisterin Ines Hübner, SPD, findet den Beschluss des Kommunalparlaments deshalb falsch. "Wir haben eine Vollvermietung momentan in der Stadt. Das bedeutet natürlich, dass wir Wohnraum benötigen, und unter 50 Wohneinheiten ist aus meiner Sicht sozialer Wohnraum wirtschaftlich nicht darstellbar."
Ines Hübner (SPD), Bürgermeisterin von Velten, sitzt an einem Schreibtisch. Im Vordergrund die Rückansicht eines Bilderrahmens, im Hintergrund Aktenordner und ein Bild des Rathauses der Stadt.
Ines Hübner (SPD), Bürgermeisterin von Velten.© Susanne Zamecki
Hübner fährt fort: "Da wurde ja von Überfremdung und Entfremdung gesprochen in der Beschlussbegründung – kann ich persönlich gar nicht nachvollziehen, weil Velten seit Jahren moderat wächst, wir viele Menschen haben, die zu uns kommen – nicht nur aus Berlin, auch aus Hennigsdorf, aus dem Norden unseres Landes – und die unsere Stadt natürlich auch in Vereinen, im Kulturgeschehen auch außerordentlich bereichern."

Die Frage nach Identität

Marcel Siegert, Mitglied von Pro Velten, einer konservativen Wählervereinigung, die die stärkste Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung stellt, entgegnet: "Es ändert aber an der Tatsache immer noch nichts daran, dass wir erst überlegen müssen, wo wollen wir denn mit unserer Stadt hin? Wie wollen wir es forcieren? Wo soll soziale Infrastruktur entstehen?"
Behutsam solle die Stadt entwickelt werden, meint Siegert, der auch Vorsitzender des Kommunalparlaments ist. Er hatte die Beschlussvorlage zum befristeten Baustopp eingebracht. Unter anderem hat er sie begründet mit Begriffen wie "Identitätsverlust" und "Entfremdung der Einwohner".
"Da hat man das Wort 'Entfremdung' aus einem Zusammenhang gerissen", sagt Siegert, "weil eine Entfremdung nicht darauf abzielte, irgendwelche Personengruppen auszugrenzen, sondern weil es darum ging, dass meine Erfahrung in den 40 Jahren in dieser Stadt ist, dass sich die Bewohner insgesamt wie auch die gesamte Gesellschaft immer mehr entfremdet."

Pendeln und Ehrenamt

Gerade die Zuzügler aus Berlin seien entfremdet, so seine Argumentation, weil kaum in die Stadtgesellschaft von Velten integriert. Nur wenige würden sich zum Beispiel ehrenamtlich in Vereinen engagieren, sagt Siegert. "Weil man ja acht Stunden, mindestens acht Stunden, zuzüglich An- und Abfahrt sich außerhalb seiner vermeintlichen Heimatstadt befindet, dann hat man natürlich wenig Zeit, sich zu integrieren."
Neben dem Baumoratorium sprach sich das Kommunalparlament zudem gegen den seit Jahrzehnten geplanten S-Bahn-Anschluss nach Berlin aus. Dabei ist der Aufstieg Veltens vom Bauerndorf zur industriellen Kleinstadt untrennbar mit dem großen Nachbarn verbunden. Um 1900 herum entstanden in Velten 40 Ofenfabriken. Die produzierten vor allem für die Hauptstadt. "Velten wärmte Berlin", heißt es im lokalen Ofenmuseum.
Der Beschluss gegen die S-Bahn-Anbindung sei das falsche Signal, sagt Bürgermeisterin Ines Hübner. In Sachen Verkehrsinfrastruktur – dazu gehört auch der Regionalexpress, der durch Velten fährt – setzt sie nun auf Unterstützung von der Landesregierung. "Es gibt eine ganz klare Position des Landes Brandenburg: Der RE 6 wird verlängert im 30-Minuten-Takt. Das konnten wir uns vor Jahren noch gar nicht vorstellen, und die Wiederherstellung des S-Bahn-Anschlusses wird realisiert."

Regionalbahn- und S-Bahn?

Eine direkte Zugverbindung sei viel wichtiger als der S-Bahn-Anschluss, kontert Marcel Siegert von Pro Velten. Es gehe darum, Prioritäten zu setzen. "Wer aber irgendwann davon ausgeht, dass wir beide hier auf diesem Veltener Bahnhof stehen und uns entscheiden können, ob wir links mit der Regionalbahn zum Gesundbrunnen fahren oder mit der S-Bahn zum Gesundbrunnen fahren, das ist mir so illusorisch, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass beide Projekte parallel gebaut werden, weil das für mich völlig unwahrscheinlich ist."
Marcus Siegert, Stadtverordneter von Velten für die Wählervereinigung Pro Velten, steht vor einem abgezäunten Bahngleis.
Marcus Siegert, Stadtverordneter für Pro Velten.© Deutschlandradio / Wolf-Sören Treusch
Schlagzeilen produzierten die Beschlüsse des Veltener Kommunalparlaments auch wegen der Art und Weise, wie die Mehrheit für sie zustande kam. Neben Pro Velten stimmten die Vertreter von NPD, AfD und CDU für die Beschlüsse – während parallel ganz Deutschland über den Politskandal von Thüringen debattierte, wo sich ein FDP-Mann mit Hilfe der AfD und der CDU kurzfristig zum Ministerpräsidenten hatte machen lassen.
Velten ein zweites Erfurt? Pfarrer Markus Schütte meint ja, und das nicht zum ersten Mal: "Es gab im ganzen letzten Jahr schon mehrere Beschlüsse, die mit genau diesen Stimmen zustande kamen. Und wenn mit der AfD und der NPD, die entweder erklärtermaßen oder doch in wesentlichen Teilen rassistische und rechtsextremistische Positionen vertreten, dauerhaft zusammengearbeitet wird und mit ihrer Hilfe programmatische Beschlüsse gefasst werden, und zwar unter Einbeziehung von Parteien wie der CDU oder auch unserer Wählergemeinschaft Pro Velten, dann halte ich das sowohl vom christlichen Inhalt als auch vom demokratischen Verhältnis für inakzeptabel."
"Ist doch Quatsch", sagt Siegert. "Also Entschuldigung, wenn ich das so deutlich sagen muss, weil: Es ist Velten, es ist ein Kommunalparlament, es sind alles Veltener Einwohner, die dort entscheiden, und ich glaube, für die geht es vorrangig um die Beschlüsse, die wir in Velten zu fassen haben und nicht um bundespolitische Angelegenheiten."
Die Stadtverordneten der CDU wollten sich zu dem Vorgang öffentlich nicht äußern.

Der Pfarrer ist optimistisch

Klar ist: Die Beschlüsse aus dem Februar blockieren die weitere Entwicklung Veltens. Fördergelder für das Neubaugebiet am Bahnhof könnten gestrichen, die bessere Anbindung an Berlin auf der Schiene erneut in Frage gestellt werden.
Die Situation ist verfahren, Veltens Image als aufstrebende Kleinstadt beschädigt. Trotzdem bleibt einer optimistisch: Pfarrer Markus Schütte. "Ich glaube schon, dass sich auch Beschlusslagen nochmal ändern können, dass die Diskussion in der Stadt auch weitergehen wird und dass am Ende Vernunft und Mut und Zuversicht für die Zukunftsgestaltung siegen werden."
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