Umgehen mit historischer Schuld

Wenn "Völkermord" zur politischen Waffe wird

04:25 Minuten
Nordrhein-Westfalen, Köln: Ein Mahnmal, das an den Völkermord an den Armenieren erinnert, steht unweit des Domes.
Die Frage, ob die Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern vor etwa 100 Jahren als Völkermord einzustufen sei, führt nach wie vor zu politischem Streit. Auch in Köln, wo ein nicht genehmigtes Mahnmal von der Stadt entfernt wurde. © picture alliance / Oliver Berg/dpa
Ein Standpunkt von Matthias Buth · 16.01.2020
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Viele Staaten haben sich in ihrer Geschichte des Völkermordes schuldig gemacht. Doch nur wenige bekennen sich zu dieser Schuld. Stattdessen wird die Geschichte zum Spielball politischer Interessen der Gegenwart, kritisiert Matthias Buth.
Ein Volk, das innerhalb eines anerkannten Gebietes lebt und eine Regierung, die nach innen und außen staatliche Gewalt ausübt – diese Dreielemente-Lehre von Georg Jellinek gilt im Staats- und Völkerrecht. Für Max Weber hingegen machte ein auf Legitimität gestütztes Herrschaftssystem von Menschen über Menschen den modernen Staat aus.
Und diese Legitimität gründet sich nicht nur auf Recht und Gesetz, sondern auf Geschichte und auf Mythen. Beides wird immer politisiert, das heißt hingebogen, verfälscht oder zur staatlichen Selbstrechtfertigung geleugnet. Der sich zum türkischen Kalifen aufschwingende Präsident Erdogan fühlt sich persönlich beleidigt, wenn andere Staaten die Vernichtung von etwa 1,5 Millionen Armeniern durch das Osmanische Reich während des Ersten Weltkrieges 1915/16 als "Völkermord" betrachten.

Die Nation als heilige Größe

Das hielt ein halbes Dutzend Parlamente in Europa, das EU-Parlament sowie Ende 2019 die beiden Kammern der USA nicht davon ab, genau dies in Resolutionen festzustellen. Als im Juni 2016 der Deutsche Bundestag das "Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916" beschloss, nahmen Bundeskanzlerin Merkel, ihr Außenminister Steinmeier und Vizekanzler Gabriel leichtfüßig an der Debatte und Abstimmung nicht teil, wussten sie doch, dass Erdogans Türkei toben würde.
Denn sie nimmt diese Geschichtsdeutung nicht an, sie will sich als Nachfolgerin des Osmanischen Reiches nicht auf Völkermord gründen. Wer das so äußert, beleidige das "Türkentum". Und das wird bestraft. So erging es auch Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der wegen "Beleidigung der türkischen Nation" strafrechtlich belangt wurde. Dass die Türkei eine solche Strafnorm für unverzichtbar hält, zeigt, dass man dort die Nation für eine heilige Größe hält. Wohin das führt, wissen wir Deutsche aus unserer Geschichte.
Als im Dezember 2019 die USA den Völkermord an den Armeniern ebenfalls anerkannten, holte Erdogan zum geschichtspolitischen Gegenschlag aus und erklärte: "Unser Parlament kann auch den Genozid an den Indianern anerkennen… Das ist die dunkle Seite Amerikas." Und recht hat er. Das profunde Sachbuch "Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses" des US-Historikers Dee Brown beschreibt das Ende des Völkermords an den indianischen Völkern und Stämmen. Das war 1890 im Ort Wounded Knee.

Auch an den Indianern wurde ein Genozid verübt

Schon vor Gründung der USA vertrieben und mordeten die Neusiedler aus Britannien, Frankreich, den Niederlanden und auch aus Deutschland. Aber systematisch wurde der Kampf gegen die Indianer erst seit 1830 durch den "Indian Removal Act" von Präsident Andrew Jackson. Er forderte die Vertreibung auf dem "Pfad der Tränen" und nahm damit den Tod der Ureinwohner Amerikas in Kauf.
Als 1492 Christoph Kolumbus Nordamerika erreichte, lebten dort etwa 18 Millionen Menschen. Im Jahre 1890 hatten von den mehreren hundert Indianerstämmen nur noch 250.000 Menschen überlebt. Der staatlichen Maxime des US-Oberkommandierenden Phil Sheridan "Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer" wurde in den USA lange nicht widersprochen. Erst das Buch von Dee Brown leitete einen Wandel ein und auch der Film von 2013 "The lone Ranger" mit Johnny Depp, einem Urenkel eines Cherokee-Indianers.

Die eigenen Lebenslügen erforschen

Allzu bald wird es keine Parlamentserklärung geben, welche die Vernichtung der Indianer als Völkermord anerkennt. "Erst durch die Geschichte wird ein Volk seiner selbst vollständig bewusst", erkannte der Staatsphilosoph Arthur Schopenhauer. Wir Deutsche haben in die Abgründe unserer Geschichte geschaut. Seitdem ist der Kampf gegen Antisemitismus Staatsräson und begründet der Holocaust unsere besonderen Beziehungen zu Israel.
Aber wollen die US-Amerikaner ihre eigenen Lebenslügen endlich erforschen oder sich weiter als "Land of hope und glory" besingen? Von Donald Trump - er hat familiäre Wurzeln in Deutschland – ist dies nicht zu erwarten, "America first" heißt "Trump first". Die Völkermorde an den Indianern und an den Armeniern stehen für die Herrschaft der alten weißen Männer. Immer noch. Erdogan und Trump ignorieren beide die geschichtlichen Fakten der eigenen Nationalgeschichte. Aber Geschichte lässt sich nicht skalpieren, sie bleibt und fordert die Staaten.

Der Jurist Matthias Buth wurde 1951 in Wuppertal-Elberfeld geboren und lebt in Nähe von Köln. Bis Ende 2016 war er Justiziar im Kanzleramt bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Seit 1974 hat Matthias Buth zahlreiche Gedicht- und Prosabände veröffentlicht. Gerade ist von ihm der Lyrik-Band "Weiß ist das Leopardenfell des Himmels" erschienen.

© Quelle: privat
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