Umgang mit der eigenen Sterblichkeit

Vorgestellt von Andreas Platthaus |
Kann es so etwas wie eine Ästhetik des Todes geben? Eine, die sich nicht auf die Kunst, als guter Mensch zu sterben, bezöge – wie es die meisten Religionen tun? Und eine, die ihren Gegenstand auch nicht in dem fände, was wir unseren Verstorbenen als Erinnerungsstätten errichten – Grabmäler oder Museen? Eine Ästhetik des Todes also, die sich mit der paradoxen Aufgabe abmühte, das Schöne im Sterben selbst zu sehen, obwohl doch mit dem Tod jeder Begriff des Irdischen und damit auch die gängigen Kategorien dessen, was wir schön oder gut oder wahr nennen, enden muss?
Der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Harrison hat sich daran versucht. In seinem Buch „Die Herrschaft des Todes“ betrachtet er den Umgang des Menschen mit dessen eigener Sterblichkeit im Spiegel des Todes seiner Nächsten, und er entdeckt in Begräbnisriten, Memorialbauten, Trauerfristen einen Weg, gerade diese Erkenntnis zu überführen in ein emphatisches Bekenntnis zum Leben. Denn Harrison deutet die biblische Lehre, dass wir mitten im Leben vom Tode umfangen sind, in die Beschreibung eines Todes um, eines Todes, der vom Leben umfangen ist. In der Bewahrung des Andenkens an unsere Toten verschaffen wir ihnen ein Nachleben, das überhaupt erst die Voraussetzung für Kultur ist.

Ohne Kultur aber gibt es für Harrison nichts, was den Namen Menschlichkeit verdiente. Deshalb beginnt er seine Ausführungen mit der altbekannten Scheidung zwischen Lebewesen, die um den Tod wissen, und solchen, denen dieses Wissen fehlt. Doch werden hier nicht verschiedene Spezies nach biologischen Kriterien beschrieben: Die Menschheit, wie sie Harrison bestimmt, ist vielmehr gekennzeichnet durch eine Art und Weise, sterblich zu sein und dabei in Beziehung zu den Toten zu stehen. Er stellt also weniger auf die von uns zu bewältigende Tatsache der eigenen Vergänglichkeit ab, als auf die Leistung, den Tod anderer zu verarbeiten. Denn die vor uns Gestorbenen haben das geschaffen, was uns nicht als Gattung, sondern eben als Menschen definiert:

„Als Homo sapiens sind wir Kinder unserer biologischen Eltern. Als Menschen sind wir Kinder der Toten – des regionalen Bodens, den sie besetzt halten, der Sprachen, die sie bewohnten, der Welten, die sie ins Leben riefen, der zahlreichen institutionellen, juristischen, kulturellen und psychologischen Vermächtnisse, die sie, durch uns vermittelt, mit den Ungeborenen verbinden.“

Das ist nicht weniger als eine Unsterblichkeitsbehauptung, die den aktuell lebenden Menschen als vergänglichen Träger einer immerwährenden humanen Botschaft versteht, die jedoch im Laufe ihrer Übermittlung permanent erweitert wird. Mit der Botschaft des christlichen Glaubens oder anderer religiöser Bekenntnisse hat das nichts zu tun, denn diese behaupten eine Offenbarung, die sich menschlichem Einfluss gerade entzieht. Und es ist denn auch für Harrison nicht Gott, der sich der Toten annimmt, sondern es sind deren eigene Kinder. Wobei es sich dabei nicht notwendig auch um die leiblichen Nachkommen handeln muss.

„In Wirklichkeit kann man nie wissen, wer schließlich die eigenen Nachfahren sein werden, sobald man tot ist, denn tot zu sein heißt, dass man sich der Möglichkeit einer Adoption als Vorfahr aussetzt.“

Harrison entwickelt derart eine geistesgeschichtliche Evolutionstheorie, die wie ihr biologisches Äquivalent auf den Zufall setzt. Es gibt kein Endziel, sondern nur eine Entwicklungslinie. So können wir mit dem unbegreiflichen Faktum versöhnt werden, dass da etwas in der Welt ist, was sich unserer Erkenntnis entzieht. Denn wissen, dass es den Tod gibt, heißt ja nicht auch, ihn zu verstehen. Es war Elias Canetti, der diese Unbegreiflichkeit des Todes zur Grundlage seines Widerstands gegen das Sterben machte – aus Unverständlichkeit resultierte Unverständnis.

Solcher Furor gegen die Furie des Todes, über deren Wirkung wir doch bestenfalls spekulieren können, weil es noch niemanden gegeben hat, der den Tod erlebt hat, ist Harrisons Sache nicht. Ihm ist jede Todesfeindschaft fremd, weil er in ihm die Bedingung unseres Daseins sieht. Und deshalb ist der eigentliche Gegenstand von seinem Buch denn auch das, worüber wir aus eigener Erfahrung sprechen können: das Leben.

Dazu zieht der Autor ethnologische Beschreibungen, etwa über die Trauerriten auf Sardinien, oder Heideggers philosophische Konzeption des Behaustseins heran: Ausweise des schier unerschöpflichen Reichtums von Harrisons Lektüren. Doch deren schönste Früchte verdanken sich nicht theoretischen Erörterungen. Zur wichtigsten Quelle seiner Ästhetik des Todes wird vielmehr die Dichtung.

In jedem der neun Kapitel sind es nämlich literarische Texte, die Harrison zu seinen eindrucksvollsten Passagen bewegen. Man darf wohl von einem Literaturwissenschaftler erwarten, belesen zu sein, doch hier bekommen wir vorgeführt, was es darüber hinaus bedeutet, beseelt zu sein von Literatur. Es ist einfach nur meisterhaft zu nennen, wie hier die gewiss naheliegendste Passage im Werk von James Joyce, nämlich das Ende der Erzählung „Die Toten“ aus den „Dubliners“, als konsequente Fortschreibung der von Homer vor beinahe dreitausend Jahren begründeten Tradition einer Metapher gedeutet wird, die den Menschen mit fallendem Laub gleichsetzt. Könnte es einen besseren Beweis für die Richtigkeit von Harrisons Behauptung, alle Kultur gehe vom Tode aus, geben als diese sich über alle Phasen der abendländischen Kultur erhaltende Beschreibung gerade des Sterbens? Wahrhaft Mensch, das ist man erst als Toter.

„Weshalb diese besondere Autorität? Weil die Toten eine Nachtsehkraft besitzen, die sich die Lebenden nicht aneignen können. Das Licht, in dem wir unser säkulares Leben führen, macht uns für gewisse Einsichten blind. Manche Wahrheiten lassen sich nur im Dunkeln erblicken. Das ist der Grund, weshalb man sich in Augenblicken höchster Not an diejenigen wenden muss, die durch die Düsternis sehen können.“

Das Bemerkenswerteste an Harrisons Buch ist, dass es selbst solche Nachtsehkraft besitzt. Und da einem soviel Schönes auch von einem Lebenden beschert wird, braucht man als Leser nicht einmal dessen Aufforderung zu folgen, sich mit dem Tode zu versöhnen.



Robert Harrison:
Die Herrschaft des Todes

Carl Hanser Verlag, München/Wien, 2006.