Umdeutung des deutschen Nationalmythos

Von Uwe Friedrich · 17.10.2010
Nach einem schwachen Beginn mit einem eher uninspirierten "Rheingold" und einer über weite Strecken langweiligen "Walküre" konnte schon der "Siegfried" des Hamburger "Rings" überzeugen. Nun wird die Tetralogie mit einer außerordentlich beeindruckenden "Götterdämmerung" abgeschlossen.
Ganz zum Schluss des "Rings des Nibelungen" an der Hamburgischen Staatsoper ringt sich Regisseur Claus Guth doch noch zu einer sehr gewagten Umdeutung des deutschen Nationalmythos durch.

Sein Siegfried ist nicht der tragische deutsche Nationalheld, gegen seinen Willen meineidig und schrecklich gerächt, sondern ein bloß ein dummer Vorortmacho. Hier ist kein Vergessenstrunk nötig, damit er Brünnhilde verrät, gleich der erste Blick auf Gutrune reicht, damit der triebgesteuerte Mann seine frühere Braut auf schlimmste Weise demütigt.

Hier traut sich der Regisseur einen Eingriff an zentraler Stelle der Tetralogie zu, denn dadurch verschiebt er die Gewichte im feinen Geflecht zwischen Liebe und Hass, Schwur und Treue, Eid und Meineid. Die große Überraschung ist, dass diese Verschiebung nicht nur beinahe rückstandsfrei aufgeht, sondern die Konflikte noch schärft. Wenn Siegfried die ahnungslose Brünnhilde vollkommen bewusst verrät und sich vor seinen neuen Kumpanen Hagen und Gunther auch noch damit brüstet, so ist die Demütigung für sie nur noch schlimmer.

Siegfried gerät damit in die Nähe der Kleinkriminellen etwa aus den Filmen Fatih Akins, die erst ganz am Ende merken, dass sie einen großen Fehler gemacht haben, als sie sich auf das verdorbene Spiel skrupelloser Gangster einließen. Ebenso bewusst wie er Brünnhilde an Gunther verriet, bekennt er schließlich auch seinen Meineid und reicht Hagen das eigene Schwert, damit der ihn töte. Während seiner Sterbeszene kehrt er zurück in die gemeinsame Wohnung und versucht aufzuräumen, um so die verlorene Idylle mit Brünnhilde wieder herzustellen.

Im zweistöckigen Bühnenbild von Christian Schmidt ist das Vergangene stets gegenwärtig. Weiße Räume sind übereinander gestapelt und kunstvoll verschachtelt, bei jeder Bewegung der Drehbühne ergeben sich neue Durchblicke. Da werden etwa die Götter sichtbar, melancholisch ihren Untergang erwartend. Oder Gutrune, sehnsüchtig ihren Siegfried erwartend, den sie doch nur tot wiedersehen wird. Noch mehr als bereits im beeindruckenden "Siegfried" wird Claus Guth hier seinem Ruf als der Psychologe unter den Regisseuren gerecht.

Das funktioniert auch deshalb ganz großartig, weil die Generalmusikdirektorin an der Hamburgischen Staatsoper ein Ensemble von überzeugend spielenden Sängern versammelt hat. Allen voran Christian Franz, der den dummen, im Grunde unsympathischen, dann aber doch mitleiderregenden Verräter szenisch wie musikalisch überzeugend charakterisiert. Gewiss, hier und da muss er stimmlich ein wenig mogeln, aber selbst das macht er so klug und geschickt, wie es ihm so schnell wohl keiner der aktuellen Heldentenöre nachmachen kann.

Deborah Polaski kommt als Brünnhilde gelegentlich an die Grenzen ihrer Stimme, wobei ihre Höhe selbst in ihren besten Tagen nicht unproblematisch war. Diese Einschränkung macht sie aber wett durch eine mutige Gestaltung, bei der sie sich nicht mit einfachen Tricks aus der Affäre zieht. Aus dem Vollen schöpft noch immer der Hagen des John Tomlinson, der gegen Ende seiner Karriere endlich wieder Bassrollen singt, statt sich und die Zuhörer mit der Baritonrolle des Wotan zu quälen.

Simone Young schließlich ließ nach einem etwas nervösen Start der Hamburger Philharmoniker den Motivzauber der "Götterdämmerung" virtuos aufschimmern. Immer hilfreich den Sängern gegenüber, dabei mit gemäßigtem Tempo immer auf den symphonischen Fluss bedacht, gelingt ihr hier der beste der vier "Ring"-Teile.

Nach einem schwachen Beginn mit einem eher uninspirierten "Rheingold" und einer über weite Strecken langweiligen "Walküre" konnte schon der "Siegfried" des Hamburger "Rings" überzeugen. Nun wird die Tetralogie mit einer außerordentlich beeindruckenden "Götterdämmerung" abgeschlossen.