Ulrike Jureit: „Magie des Authentischen“

Es ist Krieg und alle wollen hin

Coverabbildung des Buches "Magie des Authentischen" von Ulrike Jureit
Um die Erweiterung historischer Kenntnisse geht es der Historikerin Ulrike Jureit zufolge beim "Reenactment" weniger. © Coverabbildung: Wallstein-Verlag
Von Philipp Schnee · 31.08.2020
„Reenactment“ nennt man es, wenn kostümierte Beamte oder Banker als Laiendarsteller historische Schlachten nachstellen. Die Historikerin Ulrike Jureit sieht dahinter vor allem das Motiv, überholte Männlichkeitsvorstellungen auszuleben.
Es ist Krieg und alle wollen hin, zum Beispiel sonntagnachmittags. "Reenactment" wird die Form der Geschichtsaneignung genannt, in der kostümierte Beamte oder Banker als Laiendarsteller historische Schlachten nachstellen. Wenn erwachsene Männer in selbst gebasteltete Uniformen schlüpfen und laut knallen oder im Napoleonkostüm hoch zu Ross stolz vor Publikum aufgaloppieren.
Dieses Paradox, Vergangenes im Hier und Jetzt erleben zu wollen, untersucht die Hamburger Historikerin Ulrike Jureit in ihrem Buch. Sie konzentriert sich dabei auf das klassische Reenactment, das Nachstellen von Schlachten und Gefechten. Living History, also die oft in Museen oder geschichtspädagogischen Kontexten verwendete Darstellung von historischen Alltagszenen und Alltagsleben, steht nicht in ihrem Fokus.
Für ihre Untersuchung hat sie mehrere größere Reenactments besucht: Die "Schlacht bei Großgörschen" in Sachsen, eine Nachstellung antinapoleonischer Gefechte, aber auch Reenactments in Polen und in Großbritannien, wo selbst Gefechte aus der jüngsten Vergangenheit nachgestellt werden: Afghanistan, Somalia...

Körperliche und sinnliche Erfahrung von Geschichte

Zeigen, wie es wirklich war, das ist der Ansatz der Reenactor. Historische Momente erlebbar machen. Für ein Publikum, zuallererst aber für sich selbst. Reenactment, so Jureit, ist damit zunächst auch eine Kritik an der etablierten Geschichtsvermittlung. Nicht kognitiv-intellektuell verstehen, sondern körperlich-sinnlich erfahrbar machen, das ist der Wunsch.
Und diese Art der Geschichtsaneignung funktioniert zunächst über Objekte. Alles muss originalgetreu, echt und authentisch sein. Welche der hundert verschiedenen Gürtelschnallen gehört zu welcher Uniform? Und muss der richtige Knopf aus Messing, Zinn oder Holz sein? Die authentischen Objekte können, so beschreibt Jureit diese Vorstellung, die Vergangenheit in die Gegenwart transferieren und würden dadurch zu "magischen Dingen". Reenactor, so Jureit, hoffen dabei auf den "Magic Moment", wenn im Pulverdampf tatsächlich das Gefühl aufkommt, Teil der napoleonischen Armee, Teilnehmer am amerikanischen Bürgerkrieg oder der Schlacht von Tannenberg zu sein.

Beim Tod hört es auf

Jureit beschreibt die nachgestellten Gefechte, die sie besucht hat, meist recht nüchtern. Bisweilen aber doch auch bissig: "Kaum Tote, keine Erschießungen, geringfügiger Materialverlust. So macht Krieg richtig Spaß."
Und so trifft sie hier auch genau den Punkt. Die "Echtheit" der Reenactor hat natürlich Grenzen genau dort, wo der Tod in Spiel kommt. Er ist nicht darstellbar.
Insgesamt wird im Reenactment meist eine sehr saubere Version des Krieges gezeigt. Kriegsverbrechen kommen in der Regel nicht vor. Sie passen nicht in ein Format, das häufig auch touristisch vermarktet wird, unterhalten soll, familienfreundlich sein soll. Die hier vermittelte Geschichte, so Jureit, bleibt selektiv. Sie verdeutlicht das an einem drastischen Beispiel: Wenn man das Anliegen einer britischen Reenactment-Gruppe, eine Einheit der Waffen-SS möglichst originalgetreu nachzustellen, ernst nimmt, müssten diese auch die Erschießung von Kriegsgefangenen, Massaker an Zivilisten und die Ermordung von Juden reenacten, spielerisch nacherzählen. Was natürlich und zum Glück nicht geschieht.

Die Sehnsucht nach dem kriegerischen Helden

Trotz aller Kritik lehnt Jureit Reenactment nicht einfach ab. Sie fordert eine Auseinandersetzung mit dieser inzwischen sehr populären Form der Geschichtsaneignung. Sie erkennt an, dass insbesondere in den USA Reenactments ein wichtiger Teil des Gedenkens und Erinnerns an den Amerikanischen Bürgerkrieg sind.
Einer naheliegenden Frage geht Jureit leider nicht nach: Warum heute gerade das emotionale Eintauchen und Einfühlen immer häufiger eine wertvollere Wissensressource sein soll als das rationale Verstehen. Denn auch der Virtual-Reality-Journalismus und der Boom des Schlagwortes Immersion in der Theater- und Performance-Szene operieren ja mit ähnlichen Versprechen.
Jureits Pointe ist eine andere: Reenactments erlauben die Rückkehr des kriegerischen Helden. Sie seien der Ort, an dem gesellschaftlich überholte Männlichkeitsvorstellungen ausgelebt werden könnten, ein Ausbruch aus dem zivilen Leben gelinge. Viele Reenactor sehnten sich nach Kriegserlebnissen. Und damit, so Jureit, vermittelten Reenactments mehr über die Sehnsüchte der gegenwärtigen Gesellschaften als über historischen Ereignisse, die sie ja eigentlich "vergegenwärtigen" wollten.

Ulrike Jureit: "Magie des Authentischen. Das Nachleben von Krieg und Gewalt im Reenactment"
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
282 Seiten, 34 Euro

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