Ulf Poschardt über die Aufnahme der Moria-Flüchtlinge

"Die eigene Rührung nicht zur Grundlage von Politik machen"

05:44 Minuten
Nach einem Brand im Lager Moria auf der Insel Lesbos schlafen Flüchtlinge obdachlos am Straßenrand.
Der Journalist Ulf Poschardt warnt davor, sich von Bildern "erpressen" zu lassen. © Getty Images / LightRocket / SOPA Images / Afshin Ismaeli
Moderation: Anke Schaefer · 16.09.2020
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Deutschland nimmt über 1500 Flüchtlinge auf. Der Journalist Ulf Poschardt findet die Entscheidung "vertretbar und richtig". Zugleich beschuldigt er Teile von Opposition und Regierungsparteien, "Empathie-Populismus" zu betreiben.
Die Bundesregierung handelt. Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria will sie 1553 weitere Flüchtlinge aufnehmen. Sie sollen zusätzlich zu den geplanten bis zu 150 unbegleiteten Minderjährigen nach Deutschland kommen. Berücksichtigt werden sollen vor allem Familien mit Kindern, die in Griechenland bereits als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Einigung zwischen Union und SPD ist für "Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt der "logische Gang der Dinge". Der Kompromiss sei "vertretbar und richtig", sagt er.

Kritik an den "Anständigen"

Die Begleitumstände dieser Entscheidung nennt Poschardt allerdings "schwierig". Teile der Opposition und der Regierungsparteien hätten "Empathie-Populismus" betrieben, kritisiert er scharf. 2015 hätte man lernen müssen, dass es wichtig sei, den Rest Europas bei der Flüchtlingspolitik mitzunehmen. In Griechenland selbst werde das deutsche Handeln zum Teil auch als übergriffig empfunden, sagt der Journalist:
"Das alles interessiert diejenigen im Land nicht, die sich als die Anständigen verstehen, und glauben, überall wo eine humanitäre Katastrophe sichtbar wird in den Medien - und interessanterweise nur da - ausagieren zu müssen, was sie als moralischen Impetus in sich tragen. Und da wird ja überhaupt nicht gefragt, ob das in Europa ähnlich gesehen wird."
"Wir sind als Deutsche nicht die moralische Supermacht. Es steht uns auch gar nicht zu, schon gar nicht mit unserer Geschichte. Aber wir agieren so", meint Poschardt. Man müsse den Flüchtlingen auf Lesbos helfen - aber eben auch Europa mitnehmen: "Beides ist richtig."
Poschardt spricht zudem von einer von Bildern geleiteten Politik. "Das Leid der Kinder, die da nachts auf der Straße schlafen müssen, ist katastrophal." Dieses Leid gebe es aber auch in anderen Flüchtlingslagern, in Italien, Spanien, der Türkei und dem Libanon. "Wir können unsere eigene Rührung nicht zur Grundlage von Politik machen." Und man dürfe sich auch nicht durch Bilder erpressen lassen: "Das ist keine Form von mündiger Politik."
Egal, über welche Kontingente man rede - "sie sind alle nur ein Tropfen auf dem heißen Stein", sagte Völkerrechtsexperte Daniel Thym. "Wir müssen das europäische Asylsystem so aufbauen, dass wir unabhängig sind von diesem andauernden Notlösungen, die gefunden werden." Es brauche dringend vernünftige Strukturen, "denn diese ständigen Notoperationen, die wir machen, bringen nichts".
(ahe)
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