Kommentar zu Russlands Krieg

Für die Ukraine zählt jede Sekunde

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Ein ukrainischer Soldat bereitet sich darauf vor, eine Kampfposition einzunehmen.
Ein ukrainischer Soldat bereitet sich darauf vor, eine Kampfposition einzunehmen. © picture alliance / Anadolu / Diego Herrera Carcedo
Ein Kommentar von Tamina Kutscher · 04.02.2024
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Die Slawistin Tamina Kutscher sorgt sich um die zunehmende Gleichgültigkeit in den westlichen Ländern gegenüber dem Schicksal der Ukrainer. Wir dürfen uns keine Illusionen machen, so ihr Appell. Denn Putins Feindbild ist der gesamte Westen.
Über 17.000 Stunden sind vergangen seit dem Beginn des großflächigen Angriffs Russlands auf die Ukraine. 100 Wochen Raketeneinschläge, Verstecke in Kellern und U-Bahn-Schächten, Angst um Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Freundinnen und Freunde. Und unzählige Tote. Zählt man die Zeit seit 2014 dazu - Russlands Annexion der Krim und der Beginn des Kriegs im Osten der Ukraine -, sind es 3000 weitere Tage Krieg und viele Tausend Tote. Wie die Dimension dieser Zahlen fassen? Die Zerstörung, die Verzweiflung, den Hass, die Gewalt dahinter?
Aber mal ganz ehrlich: Wollen wir das überhaupt noch alles wissen? „Was wie der Beginn des Dritten Weltkriegs aussah, entpuppte sich als zweiter Jugoslawienkrieg“, kritisiert der russische Außenpolitik-Experte Alexander Baunow das westeuropäische Mindset. Der Krieg werde wahrgenommen als ein weiterer lokaler Konflikt an der europäischen Peripherie.
Also lassen wir den Krieg lieber Sache der Ukrainerinnen und Ukrainer sein. Hass, Gewalt, Zerstörung spüren vor allem sie. Jede Ukrainerin, jeder Ukrainer spürt den Krieg, auch wenn ihn jede und jeder anders spürt: im Schützengraben, in einer zerbombten Stadt in den besetzten Gebieten, in den großen Städten wie Saporischschja, in einem Dorf nahe der Front, in Kramatorsk, in Kiew, oder im Westen der Ukraine. Der Krieg ist immer da. Und die Ukraine hat ihn weder gewollt noch begonnen. Sondern Russland.

Noch rollt in Russland der Rubel und es gibt offiziell keinen Krieg

Und in Russland? In Russland, da gibt es offiziell keinen Krieg. Es gibt eine militärische Spezialoperation. Wer etwas anderes sagt oder schreibt, dem drohen bis zu 15 Jahre Haft. Man sieht den Krieg auch nicht wirklich. Moskau glänzt derzeit hell erleuchtet. Ein Wintermärchen. Denn auch wenn Ökonomen langfristig heftige wirtschaftliche Probleme für Russland voraussagen – noch rollt der Rubel. In den Regionen, aus denen die meisten der Mobilisierten kommen, tröstet die Erzählung vom Helden, der fürs Vaterland stirbt.
Sowieso verkündet die offizielle Propaganda, dass Russland diesen Krieg – der offiziell nicht so heißen darf – beginnen musste. Weil die Ukraine sowieso russisch sei. Weil dort Faschisten regierten. Weil der Westen Russland umzingle.
Russland als Widersacher des Westens, als Antipode zu USA und Globalisierung. Diese Erzählung funktioniert auch außerhalb Russlands oft gut. Wer sich von diesem Narrativ einfangen lässt, hat wenig Kenntnis von Putins Russland, seinen pseudohistorischen Lügen und imperialen Großmachtsansprüchen und seinem korrupten, neokapitalistischen System.
Und lassen Sie sich nicht täuschen: Auch ein Kandidat Boris Nadeschdin, der sich gegen den Krieg ausspricht, wird die nächsten russischen Wahlen nicht gewinnen. Nadeschdin, der Nachname, kommt von nadeschda, das heißt „Hoffnung“. Doch in einer Präsidentschaftswahl, deren Ergebnis von vornherein feststeht, ist er lediglich das Stimmungsbarometer. Maximal der Staubsauger für die Stimmen der Unzufriedenen, dem man notfalls beizeiten den Stecker ziehen kann.

Putins Feind ist der Westen

Wir dürfen uns keine Illusionen machen: „Putin stellt sich seine Regentschaft als Dauerkrieg vor“, sagt der Soziologe Grigori Judin. Und der Feind ist nicht nur die Ukraine – der Feind ist auch der sogenannte Westen.
Russland hat mit diesem Krieg die Büchse der Pandora geöffnet. Wenn wir das immer noch nicht verstehen – so werden wir es früher oder später dennoch zu spüren bekommen. Und selbst wenn wir derzeit keine Lösung haben: Sie zu finden liegt auch in unserer Hand. Wir sind schon längst betroffen. Jede der über 300 Millionen Sekunden des Krieges in der Ukraine zählt, auch diese. Hier, jetzt und gleich. Die Hoffnung – das sind auch wir.

Tamina Kutscher ist freie Journalistin. Die Slawistin und Historikerin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Medien, Kultur und Gesellschaft in Russland, Mittel- und Osteuropa. Von 2016 bis 2023 war sie Chefredakteurin der Medien- und Wissenschaftsplattform „dekoder – Russland und Belarus entschlüsseln“, die in dieser Zeit mehrfach ausgezeichnet wurde, u. a. zwei Mal mit dem Grimme Online Award (2016 und 2021).

Porträtfoto der Slawistin und Historikerin Tamina Kutscher
© Daniel Keil
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